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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 13.03.2006
Aktenzeichen: 4 UF 35/06
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 1674
BGB § 1693
BGB § 1697
BGB § 1773
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

1. Auf die Beschwerde der Betroffenen vom 20. Januar 2006 wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Dortmund vom 29. November 2005 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über den Antrag auf Anordnung einer Vormundschaft an das Amtsgericht zurückverwiesen.

2. Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben.

3. Der Betroffenen wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt I aus E für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt.

4. Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000,00 € festgesetzt.

Gründe:

zu 1.:

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Feststellungen, die das Amtsgericht getroffen hat, rechtfertigen nicht die Ablehnung einer Vormundschaft für die Betroffene.

Das beteiligte Jugendamt hat sich mit dem Antrag auf "Anordnung einer Vormundschaft und Auswahl des Vormunds (§1697 BGB)" an das Amtsgericht - Familiengericht - Dortmund gewandt, weil die Betroffene als sog. unbegleitete Minderjährige ohne Papiere von L nach Deutschland eingereist sei. Das Jugendamt hat die Angabe der Betroffenen, dass sie am 24.04.1989 geboren sei, allerdings in Zweifel gezogen und die Einschätzung geäußert, dass sie "wesentlich älter" sei.

In dem Anhörungstermin vor dem Amtsgericht am 29.11.2005 ist die Betroffene bei ihrer Altersangabe geblieben. Eine Mitarbeiterin des C, in dem die Betroffene seinerzeit untergebracht war, hat ausgeführt, dass sie ihr Alter auf weniger als 16 Jahre schätze, weil sie noch so verspielt und albern sei und von Lebensführung keine Ahnung habe.

Das Amtsgericht hat die Anordnung einer Vormundschaft für die Betroffene mit der Begründung abgelehnt, dass diese nicht mehr minderjährig sei. Sie habe auf das Gericht nicht den Eindruck gemacht, erst 16 1/2 Jahre alt zu sein. Aus ihrer Gestik, dem sicheren Auftreten im Anhörungstermin sowie ihrer ausgereiften und nicht mehr von kindlichen Zügen geprägten Physiognomie hat das Amtsgericht auf ein Alter von ca. 20 Jahren geschlossen.

Für die Anordnung einer Vormundschaft für eine Staatsangehörige des Landes L sind die deutschen Gerichte gem. Art. 1, Art. 9 des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 05.10.1961 (MSA) bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs zuständig, weil es sich dabei um eine Schutzmaßnahme i.S. von Art. 1 MSA handelt. Gem. Art. 12 MSA ist als Minderjähriger anzusehen, wer sowohl nach dem Recht seines Heimatlandes (hier: Kamerun) als auch des Aufenthaltslandes (hier: Deutschland) minderjährig ist. Zwar tritt in L Volljährigkeit erst mit Vollendung des 21. Lebensjahrs ein (vgl. Staudinger/Hausmann, BGB, 13. Auflage 2000, Anh. zu Art.7 EGBGB). Wegen des in Deutschland geltenden Volljährigkeitsalters von 18 Jahren ist das MSA auf die Betroffene aber nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs anwendbar.

Das Amtsgericht hat die Minderjährigkeit der Betroffenen (i.S.von Art.12 MSA) in Zweifel gezogen und ihr Alter auf ca. 20 Jahre geschätzt. Es bestehen aber Bedenken, ob es dabei alle Quellen, die über ihr Alter zuverlässig Aufschluss geben könnten, ausgeschöpft hat.

So findet sich in der Gerichtsakte kein Hinweis darauf, dass etwa eine Anfrage bei der Botschaft von L ohne Ergebnis verlaufen wäre. Insofern hätte eine Nachfrage des Gerichts bei dem beteiligten Jugendamt klären können, ob ein derartiger Versuch der Personenstandsermittlung bereits unternommen wurde. Im Rahmen der Amtsermittlung (§ 12 FGG) hätte das Amtsgericht auch eigene Erhebungen anstellen können.

Zur Sachaufklärung sind auch die vorhandenen (rechts-)medizinischen Möglichkeiten der Altersbestimmung heranzuziehen. Die telefonische Rückfrage der Berichterstatterin bei einem mit Altersbestimmungen vertrauten Arzt des rechtsmedizinischen Instituts der Universität N hat ergeben, dass zuverlässige Feststellungen anhand von Röntgenbildern des kompletten Skeletts der linken Hand (nicht nur der Handwurzel) oder des Gebisses oder des Brust- und Schlüsselbeins, gegebenenfalls auch anhand computertomographischer Untersuchungen der vorgenannten Körperteile, getroffen werden können. Diese Untersuchungen würden allerdings nur mit Einwilligung der Betroffenen vorgenommen. Aber auch ohne Röntgenbilder käme eine Altersbestimmung durch Inaugenscheinnahme des Körpers durch einen ärztlichen Sachverständigen in Betracht. Ob die Betroffene mit einer körperlichen Untersuchung und gegebenenfalls auch der Anfertigung von Röntgenbildern durch einen rechtsmedizinischen Sachverständigen einverstanden wäre, ist daher noch zu prüfen.

Das Amtsgericht hätte sich auch mit der Einschätzung der Begleitperson aus dem C, die die Betroffene offenbar bereits eine geraume Zeit kennt und für jünger als 16 Jahre hält, befassen und ausführen müssen, warum es diese nicht teilt. Schließlich ist auch die Motivation der Betroffenen mit in Betracht zu ziehen. Wie sich aus der nunmehr überreichten Bescheinigung des Sozialamts der Stadt E ergibt, bezieht die Betroffene Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Leistungen der Jugendhilfe kommen nicht mehr in Betracht, weil sie mit 16 Jahren als "asylmündig" gilt (§ 12 AsylVfG). Dann ist nicht ohne weiteres zu erkennen, welchen Vorteil sich die Betroffene davon erhoffen soll, dass sie den Behörden ein falsches Alter angibt.

Erst wenn alle realistischerweise in Betracht kommenden Möglichkeiten der Altersbestimmung - ergebnislos - ausgeschöpft wären, bliebe nichts anderes übrig, als das Alter der Betroffenen anhand des in einer Anhörung gewonnenen persönlichen Eindrucks zu schätzen (vgl. Hohloch, JUS 2002, 295).

Der angefochtene Beschluss war demnach aufzuheben. Der Senat hat die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen, damit es - unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen - noch einmal prüft, ob die Betroffene als Minderjährige zu behandeln ist. Sofern das zutreffen sollte, wird festzustellen sein, ob die Voraussetzungen des Ruhens der elterlichen Sorge gem. § 1674 BGB vorliegen. Hierzu gehört u.a. die Feststellung, dass mindestens ein Elternteil noch lebt. Sollten die Angaben der Betroffenen dahingehend, dass beide Eltern verstorben seien, glaubhaft und nicht zu widerlegen sein, wäre die Sache an das Vormundschaftsgericht zur Anordnung einer Vormundschaft gem. § 1773 BGB abzugeben.

Gem. §§ 1693,1697 BGB dürfte - vorläufig - ein Vormund für die Betroffene zu bestellen sein. Da nach dem bisherigen Sach- und Streitstand die eigene Angabe der Betroffenen, sie sei am 24.04.1989 geboren, nicht widerlegt ist, gebietet nach Auffassung des Senats die Fürsorgepflicht des Staates, die gesetzliche Vertretung vorläufig bis zum Abschluss der gerichtlichen Ermittlungen sicherzustellen.

Ende der Entscheidung

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