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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 17.01.2008
Aktenzeichen: 5 Ss 565/07
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 261
Tatsachen, die den Schuldvorwurf betreffen, sinbd in der Hauptverhandlung über diesen Vorwurf durch Beweiserhebung zu klären. Das Gericht kann bekannte Ergebnisse führerer Beweiserhebungen in anderen Verfahren nicht einfach übernehmen und dem Urteil als Tatsachenbasis des Schuldspruchs zugrundelegen.
Beschluss

Strafsache

gegen H.H.

wegen gefährlicher Körperverletzung.

Auf die (Sprung-) Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Gladbeck vom 12. Oktober 2007 hat der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 17. 01. 2008 durch den Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungenaufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts - Strafrichter - Gladbeck zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts - Strafrichter - Gladbeck vom 12. Oktober 2007 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden.

Zur Sache hat das Amtsgericht die folgenden Feststellungen getroffen:

"Am 25. Februar 2007, zu einem Zeitpunkt, in dem der Angeklagte unstreitig mit der Zeugin X. zusammenlebte, kam es um 5.00 Uhr morgens zwischen dem Angeklagten und der Zeugin X. zu einer körperlichen Auseinandersetzung. Während dieser Auseinandersetzung erlitt die Zeugin die auf den Fotos deutlich sichtbaren Verletzungen. Diese Verletzungen sind durch das Attest Bl. 10 d. A. festgestellt worden.

Die Zeugin X. erlitt Hämatome an der rechten Gesichtshälfte und am rechten Auge. Blutabgänge an Hals, Nase und Mund und Ohr waren festzustellen.

Der Angeklagte selbst hat im Anerkenntnisurteil im Zivilverfahren vom 01.03.2007 anerkannt, sich nach dem Gewaltschutzgesetz nicht mehr der Zeugin X. näher als 20 m zu nähern."

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte durch seinen Verteidiger mit zunächst unbestimmtem Rechtsmittel, welches er nach Urteilszustellung als Revision bezeichnet und begründet hat. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

II.

1.

Die Sprungrevision ist gem. § 335 StPO statthaft; sie ist insbesondere rechtzeitig eingelegt und gem. § 345 Abs. 1 S. 2 StPO fristgerecht begründet worden. Zwar ist im Adressfeld des Empfangsbekenntnisses bei der Urteilszustellung fälschlicherweise Rechtsanwalt D. als Verteidiger benannt worden, der nach seiner anfänglichen Bestellung als Pflichtverteidiger ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung durch Beschluss vom 12. Oktober 2007 von Rechtsanwalt W. als Pflichtverteidiger abgelöst worden war. Da jedoch Rechtsanwalt W. das an seinen Sozius Rechtsanwalt D. gerichtete Empfangsbekenntnis unterschrieben hat, ist die Zustellung letztlich wirksam an den richtigen Pflichtverteidiger bewirkt worden.

2. Die Revision hat in der Sache einen - zumindest vorläufigen - Erfolg.

Das Urteil unterliegt bereits aufgrund der formellen Rüge der Verletzung des § 261 StPO der Aufhebung. Die Rüge der Verletzung des § 261 StPO genügt den Anforderungen gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO an die gebotene Form. Bei der hier gegebenen Fallgestaltung, dass der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch machte und die - einzige - Zeugin die Aussage gem. § 52 Abs. 1 Nr. 1 StPO verweigerte, ist es ausreichend, wenn die Revision unter Darlegung des Hauptverhandlungsprotokolls vorträgt, dass der nach den Feststellungen angeblich gerichtsbekannte Inhalt der Zivilakte in der Hauptverhandlung weder verlesen noch vorgehalten noch erörtert worden sei; solche Quellen aber scheiden bei der gegebenen Prozesssituation, bei der das Hauptverhandlungsprotokoll entsprechende Prozessvorgänge nicht ausweist, aus.

Die Rüge ist auch begründet, da ohne Rekonstruktion der Beweisaufnahme der Nachweis geführt werden kann, dass die in dem angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen nicht durch die in der Hauptverhandlung verwendeten Beweismittel und nicht durch Vorgänge gewonnen worden sind, die zum Inbegriff der Hauptverhandlung gehört haben. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls sind die Erkenntnisse aus dem Zivilverfahren 12 C 115/07 AG Gladbeck nicht verlesen worden; sie waren auch nicht Gegenstand der Hauptverhandlung, da sie weder im Wege einer Einlassung des Angeklagten noch durch Zeugenvernehmung prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden waren. Sie durften deswegen bereits im Urteil nicht verwertet werden.

Überdies sind Tatsachen, die den Schuldvorwurf betreffen, in der Hauptverhandlung über diesen Vorwurf durch Beweiserhebung zu klären (vgl. KK-Hergeden, StPO, 5. Aufl., Rdnr. 71 zu § 244; BGHSt 6, 292 ff.; BGHStV 1982, 55 f.). Das Gericht kann bekannte Ergebnisse führerer Beweiserhebungen in anderen Verfahren nicht einfach übernehmen und dem Urteil als Tatsachenbasis des Schuldspruchs zugrundelegen (vgl. BGHSt 6, 292 ff.; NJW 2000, 1204, 2002, 2401; KK-Hergeden, a.a.O. m. w. N.). Dem erkennenden Gericht ist es nicht gestattet, aus indiziellen Sachverhalten, von denen es außerhalb der Hauptverhandlung in amtlicher Tätigkeit Kenntnis erlangt hat und die das Resultat persönlicher Wahrnehmung, substantieller Würdigung und individueller Beschreibung sind, tragende Sachverhaltsannahmen mit der Begründung zu gewinnen, es handele sich um gerichtskundige Indizien (vgl. BGHSt 45, 354, 358 f.; BGH NJW 2002, 2401 ff.; KK-Hergeden a.a.O.). Gerichtskundigkeit wird dagegen vor allem akzeptiert bei sog. "Hintergrundtatsachen", prozessual erheblichen Tatsachen und bei Tatsachen, die den allgemeinkundigen Tatsachen nahe stehen (vgl. KK-Hergeden a.a.O., m. w. N.).

Die Frage der Begehung der Körperverletzung zum Nachteil der Zeugin X. durch den Angeklagten ist Kernfrage des Schuldspruchs, der prozessordnungsgemäß nicht auf gerichtskundige Tatsachen zu stützen war. Das Urteil unterliegt bereits deshalb der Aufhebung, denn der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf diesem Verstoß gegen § 261 StPO beruht. Angesichts des schweigenden Angeklagten und der das Zeugnis verweigernden Geschädigten erscheint es möglich, dass der Angeklagte ohne die Verwertung des als gerichtskundig behandelten Inhalts des Zivilverfahrens nicht verurteilt worden wäre, zumal auch nicht ersichtlich ist, aufgrund welcher sonstigen Beweismittel der Tatrichter die "unstreitige" Erkenntnis gewonnen hat, dass der Angeklagte und die Geschädigte zur Tatzeit zusammengelebt haben, was dann allerdings den Schluss auf die Täterschaft des Angeklagten durchaus zugelassen hätte.

Im Übrigen hält aber auch die den Feststellungen des angefochtenen Urteils zugrundeliegende Beweiswürdigung der materiell-rechtlichen Überprüfung nicht Stand. Zwar entscheidet über das Beweisergebnis der Tatrichter nach seiner freien richterlichen Überzeugung (§ 261 StPO). Das Revisionsgericht darf die Beweiswürdigung nur auf rechtliche Fehler prüfen, sie aber nicht durch eigene ersetzen (BGHSt 10, 208, 210). Rechtsfehlerhaft ist die Beweiswürdigung aber insbesondere, wenn sie in sich widersprüchlich, lückenhaft oder unklar ist oder gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (BGH NStZ 1983, 277 f. m. w. N.).

Die Beweiswürdigung zur Täterschaft des Angeklagten ist vorliegend lückenhaft. Auf die Täterschaft des Angeklagten weisen die allein erhobenen Beweise - die zum Gegenstand des richterlichen Augenscheins gemachten Fotos sowie das verlesene ärztliche Attest - nicht mit der erforderlichen Beweiskraft hin. Diese Beweismittel bestätigen zwar die Verletzung der Geschädigten, jedoch nicht die Täterschaft des Angeklagten. Insbesondere bei der Fallgestaltung, dass der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch macht und das Tatopfer berechtigter Weise das Zeugnis verweigert, muss das Gericht nachvollziehbar dartun, woraus es die den Angeklagten im Sinne der Täterschaft belastenden Umstände herleitet. Dem angefochtenen Urteil fehlt es insoweit an jeglichen Ausführungen; das Amtsgericht geht in keiner Weise darauf ein, ob mögliche andere Geschehensabläufe erwogen und gegebenenfalls solche verworfen worden sind.

Im Hinblick auf die erneute Hauptverhandlung sieht sich der Senat schließlich noch veranlasst darauf hinzuweisen, dass die pauschale strafschärfende Berücksichtigung von Vorstrafen wie vorliegend gegen die Grundsätze der Strafzumessung gem. § 46 StGB verstößt. Insoweit hat das Amtsgericht bei den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten lediglich folgendes ausgeführt:

"Strafrechtlich ist der Angeklagte schon erheblich in Erscheinung getreten, jedoch nicht einschlägig."

Im Rahmen der Strafzumessung beschränken sich die Ausführungen auf folgende Erwägung:

"Das Gericht erachtete unter strafschärfender Berücksichtigung der Vorbelastungen eine Freiheitsstrafe von 8 Monaten als schuld- und tatangemessen an."

Die Urteilsgründe müssen die bestimmenden Zumessungserwägungen bei der Bemessung der Strafe darlegen. Zwar ist eine erschöpfende Darstellung aller im Katalog des § 46 Abs. 2 S. 2 StGB genannten Umstände weder erforderlich noch möglich. Ein sachlich-rechtlicher Mangel liegt aber vor, wenn in den Urteilsgründen Umstände nicht dargelegt werden, die für die Bewertung des Unrechts- und Schuldgehalts im konkreten Fall von besonderer Bedeutung sind. Da das Amtsgericht die Vorstrafen im Einzelnen weder nach dem Vorwurf noch den Umständen der Sanktionierung - Art und Höhe der Strafe, Entscheidungs- und Rechtskraftdatum der gerichtlichen Entscheidung - darlegt, sind wesentliche Umstände der Strafzumessung für das Revisionsgericht nicht nachvollziehbar. Zwar können Verurteilungen, die vor der dem aktuellen Verfahren zugrundeliegenden Straftat erfolgt sind, grundsätzlich strafschärfend berücksichtigt werden, wenn sie einschlägig sind oder erkennen lassen, dass der Täter sich über frühere Warnungen hinweggesetzt hat (vgl. BGHSt 24, 198), oder wenn sich ihm eine erhöhte Schuld des Täters und die gesteigerte Notwendigkeit ergibt, auf ihn einzuwirken (NStZ 1992, 327; Fischer, StGB, 55. Aufl. Rdnr. 38 zu § 46). Vorstrafen sind indes im Urteil so genau festzustellen, dass dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglicht ist, ob sie verwertbar sind und ob ihre Verwertung rechtsfehlerfrei erfolgt ist (vgl. Köln NStZ 2003, 421; Fischer a.a.O.). Dazu reicht die undifferenzierte pauschale Wiedergabe wie sie das Amtsgericht getätigt hat, in keiner Weise aus.

Das angefochtene Urteil war daher, entsprechend dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, gem. § 349 Abs. 4 StPO aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts - Strafrichter - Gladbeck zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).

Ende der Entscheidung

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