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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 13.11.2001
Aktenzeichen: 5 Ss 907/01
Rechtsgebiete: GVG, StPO


Vorschriften:

GVG § 24
GVG § 25
StPO § 6
StPO § 328
1. Zur willkürlichen Annahme der sachlichen Zuständigkeit des Schöffengerichts.

2. Die fehlende sachliche Zuständigkeit ist als Prozesshindernis, auch ohne dass dies gerügt worden ist, von Amts wegen zu beachten.


Beschluss

Strafsache

gegen M.M.

wegen gefährlicher Körperverletzung

Auf die (Sprung-)Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Schöffengerichts Unna II vom 2. Mai 2001 hat der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 13. 11. 2001 durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an den Strafrichter des Amtsgerichts Unna zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Die Staatsanwaltschaft Dortmund hat den Angeklagten unter dem 3. Juli 2000 bei dem Strafrichter des Amtsgerichts Unna angeklagt, am 5. Mai 2000 gegen 03.10 Uhr dem Geschädigten K. in dessen Gaststätte "Joy" ohne rechtfertigenden Grund einen gläsernen Aschenbecher gegen die linke Schläfe geschlagen und ihm dadurch eine Schädelprellung und einen Riss im Trommelfell des linken Ohres zugefügt zu haben (Vergehen nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Nach Zustellung der Anklage an den Angeklagten durch den Strafrichter hat ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft - eine solche ist in den Akten jedenfalls nicht dokumentiert - das Schöffengericht II des Amtsgerichts Unna die Sache mit Beschluss vom 24. Juli 2000 übernommen und am 28. August 2000 die Anklage zugelassen und "auf Antrag der Staatsanwaltschaft" das Hauptverfahren (vor sich) eröffnet. Am 2. Mai 2001 hat es den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.

Hiergegen wendet sich die form- und fristgerecht eingelegte (Sprung-)Revision des Angeklagten mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts.

II.

Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Urteils und zur Verweisung der Sache an den Strafrichter des Amtsgerichts Unna, weil das Schöffengericht seine sachliche Zuständigkeit zu Unrecht, und zwar willkürlich, bejaht hat. Die fehlende sachliche Zuständigkeit ist als Prozesshindernis, auch ohne dass dies gerügt worden ist, von Amts wegen zu beachten.

1. Es ist offenkundig, dass das Schöffengericht für die erhobene Anklage sachlich nicht zuständig war. Zuständig war vielmehr nach § 25 Nr. 2 GVG der Strafrichter. Der Strafrichter und das Schöffengericht sind Gerichte verschiedener Ordnung und das Schöffengericht ist nur zuständig, wenn nicht die Zuständigkeit des Strafrichters nach § 25 GVG gegeben ist, wenn also eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren zu erwarten ist. Dass für die angeklagte Tat, auch wenn der Angeklagte nicht unerheblich und zum Teil einschlägig vorbestraft war und in anderer Sache unter Bewährung stand, eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren zu erwarten gewesen sein könnte, ist nach dem gegen den Angeklagten erhobenen Tatvorwurf nicht einmal ansatzweise erkennbar und war für die Beurteilung des Vorsitzenden des Schöffengerichts offenbar auch nicht maßgebend.

Zwar bestimmt § 269 StPO, dass sich ein Gericht nicht für unzuständig erklären dürfe, weil die Sache vor ein Gericht niederer Ordnung gehöre, was im Verhältnis des Schöffengerichts zum Strafrichter der Fall ist (vgl. BGHSt 19, 177). Das gilt jedoch dann nicht, wenn das Gericht höherer Ordnung seine Zuständigkeit willkürlich annimmt, denn dann verstößt es gegen Art. 101 Abs. 2 GG und entzieht den Angeklagten seinem gesetzlichen Richter (vgl. BGH StV 94, 414, 415; BGHSt 38, 172 ff.).

Willkür liegt vor, wenn die Entscheidung auf unsachlichen, sich von den gesetzlichen Maßstäben völlig entfernenden Erwägungen beruht und unter keinem Gesichtspunkt mehr vertretbar erscheint (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 16 GVG, Rdnr. 6 m.w.N.). Das aber ist hier der Fall. Das Schöffengericht ist, als es - offenbar in Abstimmung mit dem zuständigen Strafrichter (vgl. Punkt 6 der Verfügung des Strafrichters vom 10. Juli 2000 Bl. 20 d.A.: "evtl. Abgabe an das SchG?)" - und ohne dass zuvor die Staatsanwaltschaft beteiligt worden war (vgl. § 209 Abs. 2 StPO), seine Zuständigkeit bejahte, nicht nur einem Irrtum erlegen, sondern es missachtete den sich aus § 25 GVG ergebenden Willen des Gesetzgebers, Fälle kleinerer und mittlerer Kriminalität dem Strafrichter zuzuweisen. Diese Tendenz ist durch das am 1. März 1993 in Kraft getretene Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege noch verstärkt, durch das die Strafobergrenze für das Amtsgericht, und zwar sowohl für das Schöffengericht als auch den Strafrichter, in § 24 Abs. 2 GVG von 3 auf 4 Jahre und die Regelstrafobergrenze für den Strafrichter in § 25 GVG von 1 auf 2 Jahre heraufgesetzt worden ist. Für die Annahme seiner Zuständigkeit durch das Schöffengericht fehlte danach jeder sachliche Grund. Das Schöffengericht hat sich damit so weit von den gesetzlichen Maßstäben entfernt, dass seine Entscheidung unter keinem gesetzlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar war und es den Angeklagten unter Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG seinen gesetzlichen Richter entzog.

2. Allerdings hat der Angeklagte mit seiner Revision den aufgezeigten Rechtsfehler des Schöffengerichts nicht mit der Rüge der Verletzung formellen Rechts angegriffen. Dies war aber auch nicht erforderlich. Der Senat hat diesen Rechtsfehler vielmehr von Amts wegen zu berücksichtigen. Die Einhaltung der sachlichen Zuständigkeit nach § 6 StPO ist - jedenfalls in Fällen der vorliegenden Art - in jeder Lage des Verfahrens, d.h. auch im Revisionsrechtszug, von Amts wegen zu beachten. Dem steht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 30. Juli 1996 (vgl. BGHSt 42, 205) nicht entgegen, wonach der Verstoß gegen § 328 Abs. 2 StPO, also die unterlassene Zurückverweisung der Sache im Berufungsverfahren an den Strafrichter, nur auf Rüge zu beachten ist. Wie bei einer Sprungrevision, bei der es allein um die sachliche Zuständigkeit des Schöffengerichts und nicht um ein Verfahrensfehler des Berufungsgerichts geht, zu entscheiden ist, hat der Bundesgerichtshof offen gelassen.

Die sachliche Unzuständigkeit des Schöffengerichts hat zur Folge, dass das Verfahren gemäß § 355 StPO an das zuständige Gericht zu verweisen ist. Das ist hier der Strafrichter bei dem Amtsgericht Unna.

Ende der Entscheidung

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