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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 21.08.1998
Aktenzeichen: 5 UF 300/98
Rechtsgebiete: FGG


Vorschriften:

FGG § 22
FGG § 60 Nr. 6
FGG § 13 a
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT HAMM BESCHLUSS

5 UF 300/98 OLG Hamm 9 b F 196/98 AG Rheda-Wiedenbrück

Verkündet am 21. August 1998

Kussin, Justizangestellte als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

In der Familiensache

...

Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin,

- Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Seydel, Dr. Bodenstaff, Dr. Dominicus, Dr. Jersch, Dr. Lazar, Steinhagen, Dr. Klein, Dr. Hädrich-Riedenklau und Niemeier in Hamm -

gegen

...

Antragsteller und Beschwerdegegner,

- Verfahrensbevollmächtigte: Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof - Zentrale Behörde nach dem Haager Kindes-Entführungsübereinkommen -, Neuburger Str. 15, 10969 Berlin, - Rechtsanwälte Gromann pp., Dianalust 11, 33378 Rheda-Wiedenbrück -

beteiligt:

das Jugendamt des Kreises Gütersloh in 33324 Gütersloh,

hat der 5. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 21. August 1998 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Klünemann, den Richter am Oberlandesgericht Warmuth sowie die Richterin am Oberlandesgericht Krippner

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluß des Amtsgerichts - Familiengericht - Rheda-Wiedenbrück vom 13. Juli 1998 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden der Antragsgegnerin auferlegt.

Der Beschwerdewert wird auf 5.000,00 DM festgesetzt.

Gründe:

Die sofortige Beschwerde ist statthaft und auch im übrigen zulässig (§ 8 Abs. 2 des Gesetzes zur Ausführung des Haager Übereinkommens vom 25.10.1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung und des Europäischen Übereinkommens vom 20.05.1980 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses - Sorgerechtsübereinkommens-Ausführungsgesetz vom 05.04.1990, BGBl. 701) - §§ 22, 60 Nr. 6 FGG). In der Sache war dem Rechtsmittel der Erfolg zu versagen.

Das Amtsgericht hat zu Recht die Herausgabe L.s an den Antragsteller zum Zwecke der sofortigen Rückführung nach Großbritannien sowie die aus dem Beschlußtenor ersichtlichen Folgeentscheidungen getroffen.

Gem. Art. 12 Abs. 1 HKiEntÜ ist die sofortige Rückgabe eines Kindes anzuordnen, das i.S. des Art. 3 des erwähnten Übereinkommens widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden ist. Ein Kind wird widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbracht, wenn es sich in einem anderen Vertragsstaat gewöhnlich aufhält (Art. 4 des Haager Übereinkommens) und von dort unter Verletzung eines Sorgerechts über die Grenzen des zuerst genannten Vertragsstaates gebracht wird. Widerrechtlich in einem Vertragsstaat zurückgehalten wird ein Kind, wenn es sich in einem anderen Vertragsstaat gewöhnlich aufhält und von dort in den erstgenannten Vertragsstaat zunächst aufgrund nicht rechtswidriger Umstände gelangt, sein weiterer Aufenthalt aber dort - etwa durch Ablauf einer eingeräumten Umgangsfrist - rechtswidrig wird.

So liegt es hier. Unabhängig davon, ob der im April 1996 im Hinblick auf den seinerzeitigen Gesundheitszustand der Mutter erfolgte Wechsel L.s zu ihrem von der Mutter getrennt in Großbritannien lebenden Vater nach der Vorstellung der Eltern ursprünglich bereits auf Dauer angelegt (so die Darstellung des Vaters) oder nur vorübergehender Natur (so die Mutter) sein sollte, hat sich der Aufenthalt L.s in England im Laufe der zwei Jahre, die sie dort weilte, jedenfalls so verfestigt, daß er als ihr "gewöhnlicher Aufenthalt" anzusehen ist. Ob ein Aufenthalt "gewöhnlich" oder nur "vorübergehend" ist, bestimmt sich nach Auffassung des Senats im wesentlichen nicht nach dem Willen der Kindeseltern, die aus ihrer Sicht einen auch noch so langen Aufenthalt des Kindes als immer noch vorübergehend ansehen mögen. Im wesentlichen maßgeblich für die Beurteilung muß die Sicht des Kindes sein, dessen Schutz das erwähnte Übereinkommen maßgeblich mitbezweckt. Aus der Sicht eines Kindes stellt sich ein von den Eltern ursprünglich oder möglicherweise auch immer noch als vorübergehend gedachter Aufenthalt als umso mehr als "gewöhnlich" dar, je länger er dauert. Nach einem Zeitraum von zwei Jahren, wie er vorliegend zwischen dem Wechsel des Kindes nach England und seinem Zurückbehalten durch die Mutter nach einem Besuch in Deutschland lag, ist nach Auffassung des Senats von einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes bei dem Elternteil auszugehen, bei dem es sich ursprünglich möglicherweise nur besuchsweise aufgehalten hat.

Das Zurückhalten L.s durch die Mutter in Deutschland ist widerrechtlich im Sinne des Art. 3 des Übereinkommens, da sie das Mitsorgerecht des Antragstellers verletzt. Daß dieser mit einem Verbleib des Kindes bei der Mutter einverstanden war, das es aus seiner Sicht nur hatte besuchen sollen, behauptet selbst die Antragsgegnerin nicht. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die Widerrechtlichkeit sich nicht bereits aus der am 12.03.1998 von dem Guildford County Court unter der Case Number 97 CP 1590 getroffenen Wohnsitzverfügung ergibt, wonach L. beim Vater wohnen (und mit ihrer Mutter einen angemessenen Kontakt) haben soll. Es kann deshalb auch dahingestellt bleiben, ob bei Erlaß der erwähnten Wohnsitzverfügung und/oder in dem nachfolgenden von der - insoweit durch englische Anwälte vertretenen - Antragsgegnerin betriebenen Verfahren entsprechend ihrem Vorbringen ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und die erwähnte Verfügung deshalb u.U. zumindest solange nicht maßgeblich ist, wie nicht über die durch die englischen Anwälte erhobenen Gegenvorstellungen entschieden worden ist.

Der Rückführung des Kindes steht auch nicht Art. 13 Abs. 1 lit. b HKiErstÜ entgegen, wonach das Gericht nicht verpflichtet ist, die Rückgabe anzuordnen, wenn die sich der Rückgabe widersetzende Person nachweist, daß die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Eine schwerwiegende Gefahr in dem dargestellten Sinne vermag der Senat nicht zu bejahen. Das Haager Kindesentführungsübereinkommen geht von dem Grundsatz aus, daß die Rückgabe dem Kindeswohl am ehesten entspricht (BVerfG, FamRZ 1996, 405). Zudem soll der entführende Elternteil aus seinem Rechtsbruch keine Vorteile ziehen. Um den Zweck des erwähnten Übereinkommens nicht zu konterkarieren, ist eine einschränkende Auslegung der Vorschrift geboten. Die Hinnahme des Rechtsbruchs ist nur bei ungewöhnlich schwerwiegender Beeinträchtigung des Kindeswohls gerechtfertigt (vgl. OLG München, FamRZ 1994, 1338; OLG Frankfurt, FamRZ 1994, 1339). Dazu zählt etwa die durch Tatsachen begründete Befürchtung, das Kind werde nach Rückführung mißbraucht oder mißhandelt, schwere Suchtmittelabhängigkeit des antragstellenden Elternteils oder die Rückkehr in ein Kriegsgebiet. Die Gefährdung muß sich als besonders erheblich, konkret und aktuell darstellen. Mit dem erneuten Wechsel der Umgebung und der Bezugspersonen naturgemäß verbundene seelische Belastungen des Kindes reichen nicht aus. Im allgemeinen besteht auch keine Veranlassung für die Einholung psychologischer Sachverständigengutachten (vgl. Bach, FamRZ 1997, 1051, 1056). Es steht nämlich zu befürchten, daß durch die - vorliegend von der Mutter beantragte - Einholung eines Sachverständigengutachtens das Verfahren u.U. in einem Maße verzögert wird und der von dem "entführenden" Elternteil geschaffene rechtswidrige Zustand sich deshalb so verfestigt, daß schließlich doch eine - in dieser Weise ursprünglich nicht bestehende - schwerwiegende Beeinträchtigung des Kindeswohls bei einer Rückführung anzunehmen ist. Selbst wenn man die in einer von der Mutter vorgelegten fachpsychologischen Bescheinigung geäußerte Vermutung teilt, ein Aufenthaltswechsel könne erhebliche psychische Schäden für das Kind nach sich ziehen, besteht für den Senat keine Veranlassung des von dem Psychologen zur Erzielung einer eindeutigen Aussage für geboten erachteten ausführlichen kinderpsychologischen Gutachtens. Die Mutter hat es nämlich in der Hand, durch entsprechende - u.U. mit fachpsychologischer Beratung vorzunehmende - Vorbereitung des Kindes beim Abbau bei diesem vorliegender Ängste mitzuwirken. Notfalls wird sie es auch auf sich nehmen müssen, das Kind bei dessen Rückreise nach England zu begleiten und sich dort vorübergehend bis zum Wiedereingewöhnen des Kindes in die dortige Umgebung aufzuhalten. Da sie durch das widerrechtliche Zurückhalten des Kindes die dieses belastende Situation geschaffen hat, muß sie auch zu ihrer Überwindung beitragen (vgl. OLG Frankfurt, a.a.O.).

Die Anordnung der Rückführung des Kindes scheitert auch nicht an der Vorschrift des Art. 13 Abs. 2 des erwähnten Übereinkommens, nach der das Gericht (oder die Verwaltungsbehörde) die Anordnung der Rückgabe des Kindes ablehnen kann, wenn festgestellt wird, daß dieses sich der Rückgabe widersetzt. L. hat sich bei ihrer Anhörung im Senatstermin insoweit durchaus ambivalent geäußert. Einerseits hat sie zwar erklärt, in Deutschland bleiben zu wollen. Andererseits hat sie auf die ausdrückliche Frage, ob es ihr auch gefallen würde, mit dem Papa nach England zurückzukehren, nicht ablehnend, sondern unentschieden mit der Äußerung geantwortet: "Weiß ich nicht".

Selbst wenn man davon ausgehen wollte, L. widersetze sich der Rückgabe, wäre das nach Auffassung des Senats unerheblich, da das Kind nicht, wie in der erwähnten Vorschrift ausdrücklich vorausgesetzt, "ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen". Allerdings besteht keine fest Altersgrenze, vor deren Erreichen die Berücksichtigung des Kindeswillens ausgeschlossen ist. Entscheidend ist die Reife des Kindes zur selbständigen Beurteilung der Rückführung (vgl. OLG Celle, FamRZ 1995, 955). Ungeachtet des Umstandes, daß das Mindestalter im allgemeinen bei etwa 8 Jahren liegen wird (vgl. Palandt-Heldrich, 57. Aufl. (IPR), Anhang zu EGBGB Art. 24, Art. 13, Anm. 2 c), kann im Einzelfall deshalb u.U. auch bei einem sechsjährigen Kind die erforderliche Reife angenommen werden können. Bei L. (die das 6. Lebensjahr zum Zeitpunkt des Senatstermins gerade erst beendet hatte), hat der Senat indessen bei ihrer Anhörung nicht den Eindruck zu gewinnen vermocht, daß sie bereits die Reife besitzt, die Frage ihrer Rückführung selbständig unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Aspekte zu beurteilen. L. hat sich nicht selbständig in zusammenhängenden Sätzen zu ihren Wünschen zu äußern vermocht, sondern nur auf konkret gestellte Fragen geantwortet, auf die sie zum Teil offensichtlich vorbereitet worden war. Bezeichnend war, daß sie auf die - unverkennbar von ihr nicht erwartete - Frage, ob die Mama ihr gesagt habe, was sie erklären solle, erst nach einem auffälligen mehrere Sekunden dauernden Zögern verneinend geantwortet hat. Unverkrampft und offen hat sie sich im wesentlichen nur bei den Teilen des Gesprächs geäußert, die aus ihrer Sicht mit der zu treffenden Entscheidung in keinem Zusammenhang zu stehen schienen, wie etwa ihr lebhafter Bericht über die Art, wie sie sich bei kindlichen Streitigkeiten gegen Attacken des Bruders wehrt, zeigt.

Fehlschlagen mußte der Versuch der Antragsgegnerin, die Abänderung der angefochtenen Entscheidung mit der von ihr geäußerten Befürchtung zu erreichen, bei einer Rückführung L.s nach Großbritannien habe sie bei der dort zu treffenden Sorgerechtsregelung kein rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten. Selbst wenn in dem die von dem englischen Gericht am 12.03.1998 getroffene Wohnsitzverfügung betreffenden Verfahren Grundsätze des rechtlichen Gehörs verletzt worden sein sollten (was auch bei Gerichten in der Bundesrepublik Deutschland nach der Kenntnis des Senats gelegentlich zu Recht gerügt worden ist), besteht hinsichtlich zukünftiger Entscheidungen kein Anlaß für entsprechende Befürchtungen. Das folgt schon daraus, daß die Interessen der Antragsgegnerin in England nunmehr durch dortige Anwälte wahrgenommen werden, die auch schon entsprechende Rügen erhoben haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 13 a FGG.

Ende der Entscheidung

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