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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 23.02.2006
Aktenzeichen: 6 U 126/05
Rechtsgebiete: ZPO, StVG, StVO


Vorschriften:

ZPO § 141
StVG § 17
StVO § 5 Abs. 3 Nr. 1
StVO § 9 Abs. 1 S. 4
StVO § 9 Abs. 5
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 08.07.2005 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen abgeändert.

Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 1.596,22 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23.03.2005 zu zahlen.

Im übrigen bleibt die Klage abgewiesen.

Die Kosten des ersten Rechtszuges tragen zu 7/9 der Kläger und zu 2/9 die Beklagten.

Die Kosten des Berufungsrechtszuges tragen zu 7/12 der Kläger und zu 5/12 die Beklagten.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

I.

Der Kläger wollte am 06.06.2004 in Q außerorts mit seinem Gespann (Pkw Volvo V 70 nebst Einachsanhänger) vom E-Weg nach links in die Grundstückseinfahrt zu seinem Haus Nr. ## einbiegen. Der hinter ihm fahrende Zeuge L hatte seiner Aussage zur Folge seinen Pkw VW Golf Kombi hinter dem Gespann des Klägers angehalten, weil dieser sich nach links eingeordnet, geblinkt und ebenfalls angehalten hatte. Der dem Zeugen L folgende Beklagte zu 1) wollte mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw Ford die beiden vor ihm befindlichen Fahrzeuge überholen und stieß mit dem Kläger zusammen, nachdem dieser mit dem Einbiegevorgang begonnen hatte.

Die Beklagte zu 2) hat den Fahrzeugschaden unter Abzügen zur Höhe auf der Basis einer Haftungsquote des Beklagten zu 1) von 2/3 abgerechnet.

Das Landgericht hat die auf Ersatz des restlichen Fahrzeugschadens gerichtete Klage nach Zeugenvernehmung mit der Begründung abgewiesen, die Zahlungen des Beklagten zu 2) deckten etwa 65 % der ersatzfähigen Schäden; mehr könne der Kläger nicht verlangen, da ihm ein schuldhafter Verstoß gegen die Pflicht zur zweiten Rückschau zur Last falle.

Auf der Grundlage der vom Landgericht festgestellten Schadenshöhe von 11.095,40 Euro verfolgt der Kläger sein Begehren nach Abrechnung auf 100 %-Basis weiter und fordert demgemäß im Berufungsrechtszug unter Berücksichtigung der vorprozessual gezahlten 7.280,10 Euro noch weitere 3.815,30 Euro.

Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil.

Der Senat hat den Kläger und den Beklagten zu 1) gem. § 141 ZPO angehört und Beweis erhoben durch Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens. Wegen der Angaben der Parteien und der Ausführungen des Sachverständigen wird auf den Vermerk des Berichterstatters Bezug genommen.

II.

Die Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg, weil ihm kein Mitverschulden an der Unfallentstehung zur Last gelegt werden kann. Bei der Abwägung der haftungsbestimmenden Verursachungsanteile gem. § 17 StVG ist demgemäß auf seiner Seite nur die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs zu berücksichtigen, die zwar wegen der Gefährlichkeit des Abbiegevorgangs nicht völlig zurücktritt, aber gegenüber dem schuldhaften Überholfehler des Beklagten zu 1) lediglich mit einem Anteil von 20 % zu bewerten ist.

1.

Es lässt sich nicht feststellen, dass der Kläger beim Einbiegen nach links in seine Grundstückszufahrt gegen seine in § 9 Abs. 5 StVO statuierte Pflicht verstoßen hat, eine Gefährdung anderer auszuschließen, also die äußerste Sorgfalt einzuhalten.

1.1

Auf die unstreitigen und auf die in der Beweisaufnahme festgestellten Tatsachen lässt sich dieser Vorwurf nicht stützen. Der Kläger hat schon bei der Annäherung an die Einfahrt den linken Blinker gesetzt, sich zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet und dann angehalten, bevor er dann wieder zum Einbiegen nach links angefahren ist. Das steht fest aufgrund der Aussage des Zeugen L, welcher sich mit seinem Pkw VW Golf hinter dem Gespann des Klägers befand.

1.2

Die Beweisaufnahme hat auch nicht zu dem Nachweis geführt, dass der Kläger entgegen § 9 Abs. 1 S. 4 StVO auf den nachfolgenden Verkehr nicht hinreichend geachtet hat. Denn es lässt sich nicht feststellen, dass unmittelbar vor dem Abbiegen, als der Kläger die sog. zweite Rückschau zu halten hatte, der Beklagte zu 1) (im folgenden: der Beklagte) für ihn als Überholer erkennbar war.

Der Sachverständige Prof. T hat den Unfall eingehend analysiert und die zweitwegmäßigen Zusammenhänge einleuchtend in der Weise erläutert, dass der Kläger sich 4 Sekunden vor der Kollision zum Anfahren entschlossen hat. Da der Beklagte zu diesem Zeitpunkt erst damit begann, den Fahrstreifen zum Zwecke des Überholens zu wechseln, war er für den Kläger noch nicht als Überholer zu erkennen. Wenn aber der Kläger, was hiernach nicht widerlegt ist, unmittelbar vor dem Abbiegen sorgfältig Rückschau gehalten und dabei gesehen hat, dass das folgende Fahrzeug hinter ihm angehalten hatte und in der linken Fahrbahnhälfte kein Überholer zu erkennen war, so kann ihm auch bei Anlegung des strengen Sorgfaltsmaßstabs gem. § 9 Abs. 5 StVO kein Verschuldensvorwurf gemacht werden. Denn nach dem Abbiegebeginn brauchte er die rückwärtige Fahrbahn nicht mehr weiter zu beobachten. Im Rückspiegel war das wegen der inzwischen erreichten Schrägstellung seines Fahrzeugs ohnehin nicht mehr möglich, und die Forderung nach einem fortdauernden Schulterblick würde eine Überspannung der Sorgfaltsanforderungen bedeuten, zumal der Kläger nunmehr sein Hauptaugenmerk auf die Einfahrt zu richten hatte.

1.3

Eine Sorgfaltspflichtverletzung des Klägers lässt sich auch nicht im Wege des Anscheinsbeweises feststellen.

Zwar wird in der Rechtsprechung teilweise angenommen, dass der Beweis des ersten Anscheins für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Linksabbiegers spricht, wenn er im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen mit einem links überholenden Fahrzeug kollidiert (vgl. KG NZV 03, 89 = MDR 03, 507). In dieser Allgemeinheit kann dieser Satz aber jedenfalls nicht gelten, wenn zuvor - wie hier - der Überholer dem Linksabbieger nicht unmittelbar gefolgt war, sondern eine kleine Kolonne überholt und dann mit dem abbiegenden Spitzenfahrzeug zusammenstößt. Denn bevor ein Rückgriff auf Erfahrungssätze im Rahmen eines Anscheinsbeweises in Betracht gezogen werden kann, muß zunächst einmal festgestellt werden, dass im konkreten Fall tatsächlich ein "typischer Geschehensablauf" vorliegt. Diesen muß derjenige nachweisen, der sich auf den Anscheinsbeweis berufen will; alle zum Gegenbeweis angebotenen Beweismittel sind auszuschöpfen. Erst wenn die "konkrete Typizität" feststeht, kann der exakte Nachweis des Unfallhergangs durch die Anwendung von Erfahrungssätzen ersetzt werden (vgl. Greger, Haftpflichtrecht des Straßenverkehrs, § 16 StVG Rdn. 362; ders. VersR 80, 1091; Lepa, NZV 92, 129).

An der "konkreten Typizität" fehlt es aber bei einer Verkehrssituation, wie sie hier vorlag. Die Erläuterungen der zeitwegmäßigen Zusammenhänge durch den Sachverständigen machen vielmehr deutlich, dass es durchaus typisch sein kann, dass der Führer des abbiegenden Spitzenfahrzeugs einer kurzen Kolonne beim Abbiegeentschluss das bevorstehende Überholmannöver eines nachfolgenden Fahrzeugs noch nicht erkennen kann, wenn dessen Führer sich anschickt, die Kolonne in einem Zuge zu überholen. Denn dann kann das Blinkzeichen, mit dem das Überholen angekündigt wird, für den Linksabbieger das durch ihm unmittelbar folgende Fahrzeug verdeckt sein, und der Fahrstreifenwechsel muß noch nicht so weit fortgeschritten sein, dass er für den Linksabbieger bei der zweiten Rückschau unmittelbar vor dem Abbiegen erkennbar ist.

Es wäre deshalb verfehlt, in dieser Situation den Anscheinsbeweis an ein Einzelelement des Sachverhalts anzuknüpfen, nämlich das Linksabbiegen. Die erforderliche Gesamtschau des Geschehensablaufs (vgl. BGH VersR 86, 344; NZV 96, 277) legt hier vielmehr gerade keine Typizität nahe, die für einen Sorgfaltsverstoß des Linksabbiegers spricht.

2.

Der Beklagte hat demgegenüber den Unfall verschuldet.

Es liegt schon nahe, hier von einer unklaren Verkehrssituation auszugehen, die ihm gem. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ein Überholen verbot. Zwar wird diese nach überwiegender Auffassung (vgl. die Nachweise bei Heß, in: Jagow/Burmann/Heß, Straßenverkehrsrecht, § 5 StVO Rdn. 27) selbst dann noch nicht angenommen, wenn die Fahrweise (Herabsetzung der Geschwindigkeit und Einordnung nach links) auf ein bevorstehendes Linksabbiegen hindeutet, solange das linke Richtungszeigendes Abbiegers fehlt und keine konkreten Umstände hinzu treten. Solche Umstände lagen hier aber vor, da vor dem Beklagten zwei Fahrzeuge auf freier Strecke angehalten hatten.

Auf jeden Fall hätte der Beklagte das Überholmanöver nicht mehr durchführen dürfen, nachdem infolge seines Fahrstreifenwechsels das Blinkzeichen am Gespann des Klägers für ihn erkennbar geworden war. Zu diesem Zeitpunkt, in welchem der Beklagte tatsächlich auch auf die erkannte Abbiegeabsicht des Klägers reagiert hat, indem er sein Fahrzeug noch weiter nach links bis scharf an den Fahrbahnrand gezogen hat, hätte er den Ermittlungen des Sachverständigen zurfolge das begonnene Überholmanöver noch abbrechen können und hätte dies auch tun müssen, selbst wenn er dadurch neben dem haltenden Pkw des Zeugen L in der Fahrbahnhälfte des Gegenverkehrs zum Stillstand gekommen wäre.

3.

Die Abwägung der haftungsbestimmenden Verursachungsanteile gem. § 17 StVG führt unter diesen Umständen dazu, dass die Beklagten den ganz überwiegenden Teil des Schadens zu tragen haben. Die Betriebsgefahr des vom Kläger geführten Fahrzeugs tritt aber bei der Abwägung nicht völlig zurück. Dabei ist zwar nicht von Bedeutung, dass es sich um ein möglicherweise langsam anfahrendes Gespann handelte, denn wäre der Kläger schneller angefahren, so wäre es nicht nur zu einer streifenden Kollision gekommen; vielmehr hätte dann das überholende Fahrzeug das abbiegende im Bereich der Fahrertür treffen können, was erheblich schwerwiegendere Folgen gehabt hätte. Demgegenüber hat sich aber die deutlich erhöhte Betriebsgefahr bei dem Unfall ausgewirkt, welche von einem Fahrzeug ausgeht, das von einer freien Landstraße nach links in eine Grundstückszufahrt einbiegt. Unter Berücksichtigung dieser Umstände erschien dem Senat eine Quotierung im Verhältnis 80 zu 20 zu Lasten der Beklagten sachgerecht.

4.

Die Schadenshöhe von 11.095,40 Euro ist in dieser Instanz nicht mehr im Streit. Davon hatten die Beklagten entsprechend ihrer Haftungsquote 8.826,32 Euro zu tragen. Die Beklagte zu 2) hat vorprozessual 7.280,10 Euro bezahlt. Offen sind also noch 1.596,22 Euro.

5.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92, 100, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.

Ende der Entscheidung

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