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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 14.01.2005
Aktenzeichen: 9 U 116/03
Rechtsgebiete: BGB, StrReinG NW


Vorschriften:

BGB § 839
StrReinG NW § 1 Abs. 2
Kommt bei einer Wetterlage mit allgemeiner und verbreiteter Glatteisbildung der Führer eines Linienbusses beim Aussteigen an einer Haltestelle wegen Glätte zu Fall, wird die verkehrssicherungspflichtige Gemeinde durch den Nachweis der Winterwartung nicht entlastet, wenn die Umstände die ordnungsgemäße Erfüllung der Streupflicht in Frage stellen.

Mit dem Einwand, es habe sich nur um eine vereinzelte Glattstelle gehandelt, ist der Vorwurf einer Streupflichtverletzung nicht zu neutralisieren, weil Haltestellen für Linienbusse bei einer solchen Wetterlage wegen der Sturzgefahr beim Ein-/aussteigen von Glattstellen frei sein müssen.


Oberlandesgericht Hamm Im Namen des Volkes Teilversäumnis- und Schluß-Urteil

(berichtigte Fassung)

9 U 116/03 OLG Hamm

Verkündet am 14. Januar 2005

In dem Rechtsstreit

hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 14. Januar 2005 durch

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 30. April 2003 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels, insoweit durch Versäumnisurteil - abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Teilschmerzensgeld in Höhe von 2.500,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 14. Februar 2003 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger 50 % der materiellen Schäden zu ersetzen, die ihm aus dem Vorfall vom 6. November 2002 um 16.30 Uhr im Bushaltestellenbereich auf dem W Platz in M künftig entstehen, soweit seine Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Die weitergehende Klage bleibt abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

I.

Der Kläger fuhr am 06. Januar 2001 (Sonntag) als Fahrer eines Linienbusses von H nach M, wo er gegen 16.30 Uhr die Bushaltestelle W Platz erreichte. Dort stellte er seinen Bus unmittelbar hinter den bereits wartenden Bus des Zeugen F und ließ etwa zehn Fahrgäste durch die hintere Tür des Busses aussteigen. Als der Kläger selbst den Bus durch die Vordertür verlassen wollte, kam er aus Gründen, die zwischen den Parteien streitig sind, zu Fall und zog sich insbesondere eine komplizierte - trimalleoläre - Sprunggelenkluxationsfraktur zu. Die Parteien streiten über die Verantwortlichkeit für diesen Unfall und seine Folgen. An diesem Tage hatte nach tagelangem trockenem und kaltem Winterwetter mit Temperaturen unter dem Gefrierpunkt am Nachmittag Sprühregen eingesetzt, der auf dem gefrorenen Boden zur Glättebildung führte. In den Medien war bereits im Vorfeld vor Glatteis durch Sprühregen gewarnt worden; auch der Kläger hatte im Verlauf des Tages im Radio gehört, dass mit Sprühregen und Eisbildung gerechnet werden musste.

Der Kläger behauptet, er sei beim Aussteigen aus der Vordertür des Busses auf eisglattem Untergrund im Bereich der Haltestelle gestürzt und habe sich dabei die Sprunggelenkfraktur links zugezogen. Er meint, sein Sturz sei auf eine Streupflichtverletzung der Beklagten zurückzuführen. Mit der Klage begehrt er im Wege der Teilklage Schmerzensgeld in Höhe von 2.500,00 Euro sowie die Feststellung einer Haftung der Beklagten für sämtliche materiellen Schäden aus dem Unfallereignis.

Die Beklagte tritt diesem Begehren entgegen. Sie bestreitet den Sturz mit Nichtwissen und behauptet, der Sturz sei Folge der eigenen Unachtsamkeit des Klägers gewesen. Dieser hätte sich beim Verlassen des Busses auf Glätte einrichten müssen. Ferner behauptet sie, sie habe den Winterdienst mit allen zur Verfügung stehenden Kräften durchgeführt. Im übrigen könne ein vorbeugendes Streuen bei einer solch extremen Wettersituation nicht verlangt werden.

Das Landgericht hat nach Anhörung des Klägers die Klage abgewiesen. Es hat eine Streupflicht der Beklagten wegen extremer Witterung verneint und den Sturz zudem maßgeblich auf ein Eigenverschulden des Klägers zurückgeführt.

Mit der hiergegen gerichteten Berufung hat der Kläger seine bisherigen Klageanträge zunächst in vollem Umfang weiterverfolgt, im Senatstermin jedoch nur mit den auf den Umfang der Prozesskostenhilfebewilligung beschränkten Anträgen verhandelt.

Er greift die Feststellung des Landgerichts zur Unwirksamkeit von Streumaßnahmen sowie die Annahme seines Mitverschuldens an dem Sturz an.

II.

Die zulässige Berufung ist zu einem Teil begründet. Die Beklagte ist für den Sturz des Klägers wegen schuldhafter Verletzung der ihr obliegenden Streupflicht gemäß § 839 BGB, § 1 Abs. 2 StrReinG NW, Art.34 GG verantwortlich. Jedoch muss der Kläger sich einen Eigenverantwortungsanteil von 50 % anrechnen lassen. Soweit er mit seinem ursprünglichen Berufungsantrag nicht verhandelt hat, ist die Klage durch Teilversäumnisurteil abzuweisen.

1.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat die Beklagte die ihr obliegende Streupflicht an der Bushaltestelle W Platz in M nicht in dem erforderlichen Maße erfüllt und dadurch den Sturz des Klägers verursacht.

Zwar ist davon auszugehen, dass in dem Unfallbereich vor dem Sturz des Klägers Streumaßnahmen durchgeführt worden sind. Der Zeuge B hat glaubhaft bekundet, er habe am Unfalltag mit einem Trecker mit angehängtem Streugerät auch den Haltestellenbereich des W Platzes abgestreut und sei hiermit um 16.10 Uhr fertig gewesen. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger das Streufahrzeug erst um 16.30 Uhr in dem dortigen Bereich gesehen haben will; denn der Zeuge hat es selbst für möglich gehalten, mit seinem Gerät zu diesem Zeitpunkt nochmals in der Nähe der Haltestelle gewesen zu sein. Für die tatsächliche Durchführung von Streumaßnahmen spricht auch, dass sämtliche Fahrgäste des Klägers den Linienbus an der Haltestelle W Platz ohne ersichtliche Probleme hatten verlassen können, was ihnen im Falle einer allgemeinen Glätte nicht möglich gewesen wäre. Eine andere Beurteilung folgt schließlich auch nicht aus der Aussage des Zeugen F, eines Kollegen des Klägers, der sich zum Zeitpunkt des Sturzes außerhalb seines Busses an der Haltestelle aufgehalten hatte. Die Aussage dieses Zeugen, es sei allgemein glatt gewesen und er habe das Gefühl gehabt, dass nicht gestreut gewesen sei, begegnet in ihrer Verallgemeinerung Zweifeln, da sie im Widerspruch zu dem erkennbaren Gehverhalten der aussteigenden Fahrgäste steht und zudem nicht feststeht, dass der Zeuge F überhaupt einen grösseren Bereich der Haltestelle betreten hat. Es spricht mithin vieles dafür, dass dieser Zeuge insoweit die von seinem eigenen Standplatz und von der Sturzstelle des Klägers getroffenen Feststellungen im Sinne einer bloßen Mutmaßung verallgemeinert hat.

Der Senat hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch keine Zweifel, dass die für die Winterwartung zuständigen Bediensteten der Beklagten den Haltestellenbereich W Platz nicht in einem nach den örtlichen Verhältnissen ausreichenden Maße abgestreut haben. Dies folgt wesentlich aus der Aussage des Zeugen F, der die winterliche Glätte an der Sturzstelle des Klägers bestätigt hat. Da der Zeuge seine Aufmerksamkeit infolge des Sturzes nachvollziehbar auf diese Stelle konzentriert hatte, ist diesem Teil seiner Aussage erheblich höheres Gewicht als seiner Mutmaßung über den Umfang der Glätte beizumessen. Für die Richtigkeit dieser Bekundung spricht zudem auch der Sturz selbst. Zwar reicht ein Sturz wegen der Vielfalt möglicher Ursachen grundsätzlich auch im Winter nicht aus, um einen Anscheinsbeweis für das Vorliegen von Eis- oder Schneeglätte und deren Ursächlichkeit für den Sturz zu begründen. Jedoch stellt er jedenfalls bei besonders tiefliegenden Bussen (Niederflurbussen), bei denen das Ein- und Aussteigen wegen der geringeren Höhendifferenz zwischen der Bodenplatte des Busses und dem Gehsteig gefahrloser erfolgen kann, ein gewisses Indiz dafür dar, dass er durch winterliche Glätte des Gehsteigs zumindest mitverursacht worden ist.

Diese zur Unfallzeit vorhandene Glätte führt nach den Umständen des Falles und bei lebensnaher Würdigung zu der Schlussfolgerung, dass die Streuarbeiten an der Haltestelle W Platz nicht in ausreichendem Maße durchgeführt worden sind, wobei dahingestellt bleiben kann, ob die Sturzstelle von den Streufahrzeug versehentlich ausgelassen worden war oder ob ein ausreichender Streusalzauftrag an dieser Stelle aus anderen Gründen unterblieben ist. Jedenfalls folgt aus der an anderen Stellen des Platzes vorhandenen Gehsicherheit, dass das Streugut nicht völlig gleichmäßig aufgebracht worden ist. Dies begründet den Vorwurf der nicht ausreichenden Winterwartung und erfüllt den Haftungstatbestand des § 839 BGB in Verb. mit § 1 Abs. 2 StrReinG NW, Art. 34 GG.

Die Streumaßnahmen an der Sturzstelle durften - entgegen der Auffassung des Landgerichts - auch nicht wegen des Nieselregens hinausgeschoben werden. Zwar darf die Streuung ausgesetzt werden, solange sie (z.B. infolge Dauerregens auf gefrorenem Boden) binnen kurzem wirkungslos würde, da die Streupflicht sich nicht auf unwirksame Maßnahmen erstreckt. Jedoch befreit nicht jeder Schneefall oder Niederschlag (vorübergehrend) von der Streupflicht. Es kommt vielmehr darauf an, dass Streumaßnahmen auch tatsächlich unwirksam wären, wofür der Streupflichtige die Beweislast trägt. Im Streitfall ist dieser Beweis nicht erbracht. Dagegen spricht schon, dass der Kläger seinen Bus problemlos zu der Haltestelle W Platz hatte lenken können und seine Fahrgäste keine Schwierigkeiten mit dem Aussteigen hatte.

Gegen eine Verantwortlichkeit der Beklagten kann schließlich auch nicht eingewandt werden, dass der Kläger auf einer vereinzelten Eisfläche gestürzt sei. Dieser Einwand kann schon deshalb nicht greifen, weil Haltestellen für Linienbusse - zumal im Kernbereich einer Stadt - besonders sicherungsbedürftig sind. Gerade der beim Aussteigen zuerst betretene Bereich muss von Glättestellen frei sein, da hier wegen der mit dem Aussteigen verbundenen erhöhten Bewegungsenergie ein Ausrutschen auf glattem Boden besonders nahe liegt.

2.

Der Kläger muss sich jedoch gemäß § 254 Abs. 1 BGB ein Mitverschulden anspruchsmindernd entgegenhalten lassen. Dies folgt bereits daraus, dass er nach seiner eigenen Erklärung vor dem Landgericht die Ankündigung von Sprühregen im Radio gehört hatte (Bl. 60 R d.A.). Ob dies vor Antritt seiner Fahrschicht oder während der Fahrt der Fall war, ist unerheblich. Daher führt auch sein neuer Vortrag, er habe in seinem Bus kein Radio hören dürfen, zu keiner anderen Beurteilung. Nach alledem war der Kläger beim Aussteigen aus dem Bus zu besonderer Sorgfalt verpflichtet. Diese hat er nicht beachtet, wie sein Sturz zeigt.

Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge hat der Senat berücksichtigt, dass keiner der Parteien ein schwerer Verschuldensvorwurf gemacht werden kann. Der Beklagten ist zugute zu halten, dass sie nicht untätig geblieben ist, sondern bei schwieriger Witterung immerhin Streumaßnahmen - wenn auch nicht in ausreichendem Maße - durchgeführt hat. Zugunsten des Klägers kann nicht außer acht gelassen werden, dass ihm die an der Haltestelle vorhandene Glätte nicht positiv bekannt war und ihn die unkritischen Fahrbahnverhältnisse wie auch der unproblematische Ausstieg seiner Fahrgäste zu einer Verkennung der Gefahr verführt haben mögen. In Anbetracht dieser Umstände erachtet der Senat im Ergebnis eine gleich hohe Gewichtung der Verantwortungsanteile beider Parteien für angemessen.

3.

In Anbetracht der trimellären Sprunggelenkfraktur und des teilweise ungünstigen ärztlichen Berichtes des Prof. M v. 29.01.2003 (Bl. 53 f d.A.: Nekrosen) erscheint nach der Beurteilung des Senats ein Grundschmerzensgeld von 5.000,00 Euro nicht übersetzt, so dass bei Berücksichtigung des hälftigen Eigenverantwortungsanteils des Klägers der als erstrangige Teilforderung beanspruchte Betrag von 2.500,00 Euro begründet ist.

4.

Da aufgrund der gelenknahen Frakturen mit Spätschäden gerechnet werden muss, ist der Feststellungsantrag zulässig. Er ist mit der Einschränkung des hälftigen Eigenverantwortungsanteils des Klägers auch begründet.

5.

Soweit der Kläger in dem Senatstermin seinen ursprünglichen Berufungsantrag über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hinaus nicht gestellt, aber auch nicht zurückgenommen hat, war die Klage durch Versäumnisurteil abzuweisen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10, 711 und 713 ZPO. Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO n.F. liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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