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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 13.01.2006
Aktenzeichen: 9 U 143/05
Rechtsgebiete: BGB, GG


Vorschriften:

BGB § 253
BGB § 839
GG Art. 34
Die Gestaltung eines innerstädtischen Marktplatzes mit einer dunkel farbigen (gegenüber dem sonst hellen Belag) Stufenanlage kann verkehrswidrig sein, wenn an Markttagen wegen der Verkaufsstände und der damit verbundenen Ablenkung der Besucher die Höhenunterschiede der Stufe(n) gegenüber der Umgebung leicht übersehen kann, so dass es zu einer erheblichen Stolpergefahr kommt. (Fortsetzung von 9 U 43/04 in NJW-RR 2005, 255)
Tenor:

Die Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung der Klägerin gegen das am 23. Juni 2005 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Essen werden zurückgewiesen.

Bei der Kostenentscheidung des ersten Rechtszuges verbleibt es. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Beklagten zu 5/6 und der Klägerin zu 1/6 auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

(gem. § 540 ZPO)

I.

Die Beklagte hat im Jahr 2002 auf dem Marktplatz F als gestalterisches Element eine umlaufende Stufenanlage errichtet, die farblich dunkler gehalten ist als die Plattierung des Marktplatzes und zu einem späteren Zeitpunkt an ihrer Oberkante mit orangefarbenen passiven Leuchtpünktchen, jeweils in etwa der Größe einer Euromünze, bestückt wurde. Die Stufenanlage ist in einem Bereich fast ebeneerdig und steigt von dort stetig an. An ihrer höchsten und zugleich breitesten Stelle besteht sie aus drei Treppenstufen.

Am 28.02.2003, einem Marktag, stolperte die Klägerin in einem Bereich, in dem die Stufe eine circa 3 bis 4 cm hoch stehende Kante bildet, und brach sich dabei die rechte Hand.

Erstinstanzlich hat die Klägerin von der Beklagten ein Schmerzensgeld in vorgestellter Höhe von mindestens 2500 € begehrt. Das Landgericht hat eine Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten bejaht und der Klägerin ein Schmerzensgeld von 1000 € zugesprochen.

Dagegen richten sich die Berufung der Beklagten, mit der sie weiterhin Klageabweisung erstrebt; sowie die Anschlussberufung der Klägerin, mit der sie ein Schmerzensgeld von 1200 € begehrt.

II.

Berufung und Anschlussberufung haben keinen Erfolg.

1.

Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch aus §§ 839, 253 BGB, Art. 34 Grundgesetz wegen Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht zu.

Die Stufenanlage stellte so, wie sie zum Unfallzeitpunkt ausgebildet war, jedenfalls in dem Bereich, in dem die Klägerin gestürzt ist, eine sicherungsbedüftige ("abhilfebedürftige") Gefahrenstelle dar.

aa)

Nach gefestigter Rechtsprechung haben die für die Sicherheit der in ihren Verantwortungsbereich fallenden Verkehrsflächen zuständigen Gebietskörperschaften tunlichst darauf hinzuwirken, dass die Verkehrsteilnehmer in diesen Bereichen nicht zu Schaden kommen. Dabei muss der Sicherungspflichtige allerdings nicht für alle denkbaren, auch entfernten Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorkehrungen treffen. Eine Sicherung, die jeden Unfall ausschließt, ist praktisch nicht erreichbar. Vielmehr sind Vorsorgemaßnahmen nur dann geboten, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Möglichkeit einer Rechtsgutverletzung anderer ergibt (OLG Hamm, NZV 1997, 43 m. w. Nachw.). Dies ist dann zu bejahen, wenn eine Gefahrenquelle trotz Anwendung der von den Verkehrsteilnehmern zu erwartenden eigenen Sorgfalt nicht rechtzeitig erkennbar ist oder diese sich auf die Gefahrenlage nicht rechtzeitig einstellen können (vgl. BGH, VersR 1979, 1055). Dabei wird die Grenze zwischen abhilfebedürftigen Gefahren und von den Benutzern hinzunehmenden Erschwernissen ganz maßgeblich durch die sich im Rahmen des Vernünftigen haltenden Sicherheitserwartungen des Verkehrs bestimmt, die sich wesentlich an dem äußeren Erscheinungsbild der Verkehrsfläche und der Verkehrsbedeutung orientieren.

bb)

Legt man diesen Maßstab auf den Streitfall an, stellt die Stufenanlage in dem Bereich, in dem die Klägerin gestützt ist, eine abhilfebedürftige Gefahrenstelle dar.

Es handelt sich um eine scharfkantige, unerwartete Erhebung auf dem Marktplatz. Der Argumentation der Beklagten, die Stufenanlage sei wegen ihres dunkelfarbigen Kontrastes und des ihres Ausmaßes offenbarenden Gesamteindruckes nicht zu übersehen, so dass sich jeder Fußgänger bei Anwendung der gehörigen Aufmerksamkeit darauf einstellen könne, kann jedenfalls bezogen auf die Verhältnisse an Markttagen nicht gefolgt werden. Wie aus den zur Akte gereichten Fotos ersichtlich ist, kann von den Marktbesuchern die Stufenanlage allenfalls partitiell wahrgenommen werden. Das "Große und Ganze" des gestalterischen Elementes bleibt verborgen, weil die Markstände den Blick auf die Stufe als Einheit verstellen. Hinzu kommt- auch dies wird aus den Fotos deutlich-, das in der konkreten Situation durch die Anordnung der Stände der Eindruck einer sich bis zu den Ladengeschäften am Rande des Marktplatzes fortsetzenden Gasse entsteht, der der Blick des Marktbesuchers unwillkürlich folgt.

Zu berücksichtigen ist außerdem, dass die Aufmerksamkeit von Marktbesuchern durch die Vielzahl von zudem recht eng aneinander stehenden Ständen und Auslagen abgelenkt ist. Mit dieser durch das Marktgeschehen verminderten Aufmerksamkeit, der Konzentration des Blickes auf Stände und Auslagen, musste die Beklagte auch rechnen. Es handelt sich um eine Situation wie auch in Fußgängerzonen die nach ständiger Rechtsprechung des Senats bei der verkehrssicherungspflichtigen Gemeinde gesteigerte Anforderungen im Hinblick auf die Beschaffenheit des begehbaren Untergrundes auslöst (vgl. OLG Hamm, VersR 93, 1030).

Soweit die Beklagte an dieser Stelle einwendet, gerade an Markttagen habe ein Fußgängers eine besondere Aufmerksamkeit auf den Untergrund zu richten, da dort häufiger Hindernisse vorhanden seien, zum Beispiel Kabel, gegebenenfalls abgedeckt mit Gummimatten, Kisten usw., ist in tatsächlicher Hinsicht bereits zu berücksichtigen, dass die genannten Hindernisse in der Regel den freien Durchgang zwischen den Ständen nicht beeinträchtigen. So sind Kabel zum Beispiel meist hinter den Ständen verlegt und Kisten, Körbe und Kübel befinden sich zumeist in unmittelbarer Nähe der gegebenenfalls auskragenden Auslagen der Marktstände. In rechtlicher Hinsicht wesentlich ist jedoch, dass es sich bei all diesen möglichen Hindernissen um markttypische Gegebenheiten handelt, mit denen der Marktbenutzer gegebenenfalls rechnen kann. Die über die gesamte Breite einer Marktgasse führende Treppenanlage ist aber gleichsam ein markfremdes Hindernis, auf die sich der Fußgängerverkehr auch unter Beachtung des geschäftigen Markttreibens nicht ohne weiteres einzustellen vermag.

cc)

In dieser Situation erfüllen auch die auf den Stufen angebrachten orangefarbigen Leuchtpünktchen keine hinreichende Warnfunktion. Wie sich aus den Fotos ergibt, fallen sie bei der Annäherung nicht auf und sind praktisch erst unmittelbar bei Erreichen der Stufe, und auch dann nur aus der Draufsicht von oben erkennbar.

b)

Indem die Beklagte diese Gefahrenquelle weder verhindert noch vor ihr hinreichend deutlich gewarnt hat, ist sie der ihr obliegenden Verkehrssicherungspflicht nicht nachgekommen. Diese Pflichtverletzung ist schuldhaft, da die Beklagte bei der Anlage der Stufen als gestalterisches Element sowohl hätte bedenken müssen, dass die Stufenanlage an Markttagen wie oben beschrieben als Ganzes nicht mehr wahrnehmbar ist und in der Vielzahl der Eindrücke untergeht, als auch hätte bedenken müssen, dass an Markttagen durch Stände und Auslagen die Aufmerksamkeit der Fußgänger in erhöhtem Maße abgelenkt wird.

2.

a)

Die Klägerin muss sich auch kein anspruchsminderndes Mitverschulden gemäß § 254 BGB zurechnen lassen. Wie sich aus den Fotos ergibt, geht die Stufe jedenfalls an der Stelle, an der die Klägerin gestolpert ist, in einem solchen Maße in den anderen optischen Eindrücken unter, dass der Klägerin kein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass sie die Stufe übersehen hat.

b)

Selbst wenn man hier von einem geringen Mitverschulden der Klägerin ausgehen würde, würde dieses jedenfalls hinter dem weit überwiegenden Verschulden der Beklagten zurücktreten. Denn insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Vorwurf gegen die Beklagte, die den Marktplatz beziehungsweise die Stufenanlage als gestalterisches Element in der vorliegenden Form erstellt hat, nicht an ein Unterlassen in Form des Versäumnisses gebotener Sicherheitsvorkehrungen gegen eine von dritter Seite verursachte oder im Laufe der Zeit entstandene Gefahr, sondern an ein gefahrverursachendes aktives und planvolles Tun anknüpft, dessen Risiken die Beklagte durch vorherige sorgfältigere Planung hätte vermeiden können (vgl. hierzu bereits OLG Hamm, NJW-RR 2005, 255).

3.

Die Anschlussberufung der Klägerin, mit der sie Verurteilung der Beklagten zu einem gegenüber dem vom Landgericht zuerkannten Betrag von 1000 € um 200 € höheren Schmerzensgeld begehrt, ist, auch unter Berücksichtigung des weiten tatrichterlichen Ermessens, ebenfalls zurückzuweisen. Der Senat nimmt insoweit auf die Begründung des landgerichtlichen Urteils Bezug.

III.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97, 92, 708 Ziff. 10, 713 ZPO.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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