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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 20.01.2006
Aktenzeichen: 9 U 169/04
Rechtsgebiete: BGB, StrReinG NW, GG


Vorschriften:

BGB § 249
BGB § 254
BGB § 839 Abs. 1
BGB § 843
BGB § 847 a.F.
StrReinG NW § 1
GG Art. 34
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Berufungen des Klägers und der Beklagten gegen das am 5. Mai 2005 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Essen werden zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufungsinstanz haben der Kläger zu 76% und die Beklagte zu 24% zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

(abgekürzt gem. § 540 ZPO)

I.

Der Kläger befuhr als Taxifahrer am 5. Dezember 1998 gegen 1.20 Uhr die L-Straße in F von der Stadtmitte her kommend in nördlicher Richtung. Beim Überqueren der A-Brücke kam er auf der nach F führenden Gefällstrecke ins Schleudern und prallte mit dem Taxi gegen eine Straßenlaterne. Dabei zog er sich einen komplizierten Trümmerbruch des rechten Unterschenkels bzw. des oberen Sprunggelenkes zu.

Der Kläger hat behauptet, er sei mit dem Taxi ins Schleudern geraten, weil die L-Straße im gesamten Bereich der A-Brücke vereist gewesen sei. Die Beklagte habe im Unfallbereich keine ausreichenden Streumaßnahmen vorgenommen, obwohl schon am Vortag winterliches Wetter eingesetzt habe. Unstreitig herrschten im Bereich Essen seit dem Morgen des 4. Dezember 1998 bei Temperaturen um 0 Grad flächendeckend Schneeglätte bzw. Glätte durch überfrierende Nässe. Der Kläger behauptet weiter, selbst dann, wenn die Beklagte am Morgen des 4. Dezember 1998 gestreut haben sollte, dies nicht ausreichend gewesen sei, ein erneutes Vereisen der Zweigertbrücke zu verhindern. Wäre die Beklagte am 4. Dezember 1998 ihrer wiederholten Streupflicht in dem gebotenen Maß nachgekommen, hätte sich an der Unfallstelle zur Unfallzeit kein Glatteis befunden.

Mit seiner Klage nimmt der Kläger die Beklagte auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes in der Größenordnung von 100.000,00 DM, Ersatz seines mit 80.312,50 DM bezifferten materiellen Schadens (Haushaltsführungsschaden: 64.762,70 DM; Erwerbsschaden: 15.500,00 DM) und die Feststellung einer Ersatzpflicht der Beklagten für sämtliche künftige materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis in Anspruch.

Die Beklagte bestreitet die vom Kläger behauptete Glätte als Unfallursache und behauptet, der Unfall sei ausschließlich auf Fahrfehler des Klägers - wie etwa überhöhte Geschwindigkeit, Übermüdung oder Unaufmerksamkeit -zurückzuführen. Sie hat einen Verstoß gegen die ihr obliegende Streupflicht in Abrede gestellt. Insoweit ist im erstinstanzlichen Verfahren unstreitig geworden, dass die Unfallstelle am 4. Dezember 1998 zwischen 6.40 Uhr und 8.35 Uhr von der Beklagten gestreut worden ist. Die am Morgen des 4. Dezember 1998 vorgenommene Streumaßnahme habe bewirkt, dass die L-Straße den ganzen Tag über glättefrei geblieben sei. Ein erneutes Bestreuen des Unfallbereichs im weiteren Verlauf dieses Tages sei nicht erforderlich gewesen. Im Übrigen hat die Beklagte Einwendungen gegen die Höhe der geltend gemachten Ansprüche erhoben.

Das Landgericht hat nach Vernehmung von Zeugen und Einholung eines Winterdienst-Gutachtens dem Kläger ein Schmerzensgeld von 10.000,00 € sowie materiellen Schadensersatz in Höhe von 3.926,51 € zugesprochen und dem Feststellungsantrag zu 50% stattgegeben. Es hat eine Streupflichtverletzung der Beklagten sowie ein hälftiges Mitverschulden des Klägers als erwiesen angesehen, ein Schmerzensgeld von 10.000,00 € für angemessen erachtet und einen Haushaltsführungsschaden des Klägers verneint.

Gegen dieses Urteil wenden sich beide Parteien mit der Berufung. Die Beklagte begehrt weiterhin Klageabweisung und rügt fehlerhafte Feststellungen des Landgerichts zur Frage der Eisglätte an der Unfallstelle zum Unfallzeitpunkt sowie fehlende Feststellungen zum Anspruchsgrund (Glätte in streupflichtiger Zeit und Kausalität einer etwaigen Streupflichtverletzung für den Unfall). Ferner greift sie den Schmerzensgeldanspruch als überhöht an. Der Kläger verfolgt sein erstinstanzliches Begehren weiter, jedoch hinsichtlich des Schmerzensgeldes nur noch in Höhe eines für angemessen erachteten Betrages von 20.000,00 €. Er beanstandet die Feststellungen des Landgerichts zu seinem Mitverschulden und zum Haushaltsführungsschaden.

II.

Die zulässigen Berufungen der Parteien bleiben ohne Erfolg.

Die Beklagte haftet der Klägerin aus §§ 839 Abs.1, 847 BGB (a.F.) i.V.m. § 1 StrReinG NW, Art. 34 GG für die Folgen des Unfalls vom 5. Dezember 1998. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass es infolge Glätte an der Unfallstelle zu dem Unfall des Klägers gekommen ist und Verletzung der Streupflicht durch die Beklagte hierfür neben einem Eigenverschulden des Klägers durch eine den Straßen- und Witterungsverhältnissen nicht angepasste Geschwindigkeit mitursächlich gewesen ist.

Soweit die Beklagte Glätte an der Unfallstelle zum Unfallzeitpunkt bestreitet, kann dem nicht gefolgt werden. Das Landgericht hat die Aussagen der Zeugen T, L und U zutreffend gewürdigt. Selbst wenn bei der Aussage der Zeugin T, die sich bei dem Unfall als Fahrgast im Taxi befand, die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, dass die von ihr bekundete Glätte auf der Brücke nicht auf eigener Wahrnehmung, sondern einem Rückschluss aufgrund des Schleuderns des Taxis beruht, so sind die Angaben der beiden anderen Zeugen so eindeutig, dass kein Zweifel verbleibt, zumal die Glätte an der Unfallstelle auch in dem Zusatzbericht zur polizeilichen Unfallaufnahme vom 5. Januar 1998 (Bl.2 der Akten 46 Js 68/99 StA Essen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind) sowie die schriftliche Aussage der Zeugin H, die als Polizeibeamtin den Unfall aufgenommen hat, ausdrücklich bestätigt wird. Dabei ist es unerheblich, dass die Zeugen nicht mit Bestimmtheit sagen konnten, ob sich die Glätte über die gesamte Fahrbahn erstreckte oder diese, wie die Zeugin H erklärt hat, nur partiell vorhanden war. Da somit von Glätte an der Unfallstelle auszugehen ist, spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass diese ursächlich für den Unfall gewesen ist. Im Übrigen haben die Zeugen T, L und U übereinstimmend bekundet, dass der Kläger mit seinem Pkw auf glatter Fahrbahn ins Schleudern geraten seien. Die von der Beklagten behauptete den Verhältnissen nicht angepasste Fahrweise des Klägers beseitigt nicht die Ursächlichkeit der Glättebildung für den Unfall und ist lediglich im Rahmen eines Mitverschuldens des Klägers von Bedeutung.

Nach gefestigter Rechtsprechung müssen Kommunen nicht "rund um die Uhr" ihrer Streupflicht nachkommen. Vielmehr sind sie nur gehalten, die verkehrswichtigen Straßen für den normalen Tagesverkehr zu sichern. Dabei endet die Streupflicht in den Abendstunden mit dem Aufhören des allgemeinen Tagesverkehrs, was regional unterschiedlich zwischen 21.00 Uhr und 22.00 Uhr der Fall ist (BGH NJW 1985, 270; VersR 1958, 289). Der Senat zieht diese Grenze bei 22.00 Uhr (Urt. v. 23. 9. 1993 9 U 214/92). Bei einem Glätteunfall, der sich nach diesem Zeitpunkt ereignet, haftet die sicherungspflichtige Kommune nur dann, wenn die Streupflicht bereits in streupflichtiger Zeit nicht erfüllt wurde. Dies ist der Fall, wenn die Fahrbahn bereits in diesem Zeitraum glatt war und die Beklagte deshalb Streumaßnahmen hätte durchführen müssen, die auch den nach dieser Zeit eingetretenen Unfall verhindert hätten (BGH VersR 1984, 41; 1984, 891 m.w.N.). Darüber hinaus kann eine Haftung in Betracht kommen, wenn während bestehender Streupflicht zwar noch keine Glättebildung eingetreten, diese jedoch für die folgende Nacht vorhersehbar ist (Senatsurteil v. 4. 11. 2003 - 9 U 118/03 = NJW-RR 2004, 386; BGH VersR 1985, 189; OLG Frankfurt NJW-RR 2004, 312). Der vom Landgericht beauftragte Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten festgestellt, dass nach dem in dem Wetterbuch der Beklagten sowie im Wetterbericht des Deutschen Wetterdienstes dokumentierten Schneefall am 4. Dezember 1998 in Essen tagsüber bis gegen 18.00 Uhr in einer Höhe von 2 cm bis 4 cm ohne eine erneute Streuung nach der am Morgen erfolgten Streuung es bei der vorherrschenden Witterung (Temperaturen um den Gefrierpunkt und auch darunter) spätestens am Abend zu Glättebildung kommen musste. Ob diese von der Beklagten mit ihrer Berufung angegriffene Feststellung, auf die sich das angefochtene Urteil maßgeblich stützt, zutrifft, braucht nicht entschieden zu werden. Es steht nämlich zur Überzeugung des Senats fest, dass selbst dann, wenn sich in der streupflichtigen Zeit auf der Fahrbahn auf der A-Brücke keine neue Glätte gebildet hatte, diese jedenfalls seit dem Ende des Schneefalls nicht abgetrocknet war, sondern die morgens aufgebrachte Streuung mit einem Gemisch aus Trockensalz und einer Salzlösung allenfalls dazu ausreichte, den Neuschnee zum Schmelzen zu bringen und hierdurch die Feuchtigkeitsmenge insgesamt zu erhöhen, was eine weitgehende Neutralisierung der Schmelz- bzw. Tauwirkung der Salzlake zur Folge hatte. Bei den bestehenden Witterungsverhältnissen, die neben überwiegend unterhalb des Gefrierpunktes liegenden Temperaturen am 3. Dezember 1998 durch Temperaturen um den Gefrierpunkt im Laufe des Tages am 4. Dezember 1998 mit zahlreichen Glättemeldungen aus verschiedenen Stadtteilen in F gekennzeichnet waren, musste die Beklagte damit rechnen, dass es in der nachfolgenden Nacht zu erneuter Glättebildung durch überfrierende Nässe kommen würde. Dies hat der Sachverständige bei seiner ergänzenden Anhörung im Senatstermin ebenso überzeugend dargelegt wie den Umstand, dass bei einer erneuten Streuung nach dem Ende des Schneefalls um 18.00 Uhr bis zum Ende des streupflichtigen Zeitraums eine Glättebildung bis zum Unfallzeitpunkt nicht eingetreten wäre.

Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Streupflicht auch eine vorbeugende Streuung von gefährlichen Straßenstellen umfassen kann, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Glatteisbildung z.B. aufgrund des Wiedergefrierens vorhandener Nässe außerhalb der streupflichtigen Zeit bestehen (Senatsurteil v. 4. 11. 2003 - 9 U 118/03 = NJW-RR 2004, 386; BGH VersR 1985, 189; OLG Frankfurt NJW-RR 2004, 312). Die Beschränkung solcher Maßnahmen auf besondere Gefahrenstellen folgt aus dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit für den Streupflichtigen. Zweifellos handelt es sich bei der Unfallstelle um eine solche besondere Gefahrenstelle, da sie auf einer Brücke liegt, die bei niedrigen Temperaturen aufgrund ihrer Bauweise eher zur Glättebildung neigt als die umliegenden Straßen, und sich an dieser Stelle außerdem ein Gefälle befindet und zum Unfallzeitpunkt eine Baustelle mit einer Verschwenkung der Fahrbahn befand. Im Hinblick auf die bereits dargelegte der Beklagten im Einzelnen bekannte Witterungslage sowie die Feuchtigkeit der Fahrbahn - soweit nicht bereits in der streupflichtigen Zeit eine Glättebildung eingetreten war - musste die Beklagte mit der Glättebildung an dieser besonderen Gefahrenstelle in der nachfolgenden Nacht rechnen. Dass es sich hierbei nicht um eine lediglich abstrakte Gefahrenlage, sondern um eine konkret sich abzeichnende und naheliegende Situation handelte, folgt neben den bereits erwähnten Eintragungen im Wetterbuch des Winterdienstes, die für den 4. Dezember 1998 um 18 Uhr und 21 Uhr die Bemerkung "Glätte" enthalten, daraus, dass der Beklagten nach ihren eigenen Unterlagen Meldungen aus verschiedenen Teilen der Stadt über Glättebildung am 4. Dezember 1998 den ganzen Tag über, und zwar auch noch nach 18 Uhr vorlagen. Eine erneute Streuung noch am Abend des 4. Dezember 1998 wäre auch nicht von vornherein zwecklos gewesen, da der Schneefall aufgehört hatte und nicht zu erwarten war, dass das Streugut durch Schmelzwasser weggespült werden würde.

Dem Landgericht ist darin beizupflichten, dass dem Kläger ein erhebliches Mitverschulden gem. § 254 BGB zuzurechnen ist. Die Zeugin T hat vor dem Landgericht die Fahrweise des Klägers unmittelbar vor dem Unfall als "zu schnell" und "zügig" bezeichnet, wobei sie naturgemäß keine exakten Angaben zu der "gefühlsmäßig" wahrgenommenen Geschwindigkeit machen konnte. Die Zeugin U, die Beifahrerin in einem dem Kläger entgegenkommenden PKW war, hat ausgesagt, ihre Fahrerin sei wegen der bemerkbaren Glätte "sehr langsam" über die Brücke gefahren, während der ihnen entgegenkommende Kläger "mit Sicherheit nicht so langsam" gefahren sei. Zu Recht hat das Landgericht diese Eindrücke der beiden Zeuginnen nicht für unbeachtlich gehalten. Auch wenn exakte Feststellungen zu der vom Kläger gefahrenen Geschwindigkeit, die er übrigens selbst nicht angegeben und lediglich allgemein als "äußerst moderat" bezeichnet hat, nicht möglich sind, so sprechen die übereinstimmenden Angaben der beiden Zeuginnen, die ihre Wahrnehmungen aus unterschiedlichen Positionen zum Unfallgeschehen gemacht haben, dafür, dass der Kläger die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs nicht den ungünstigen Witterungs- und Straßenbedingungen angepasst hatte. Hierzu bestand aufgrund der bereits dargelegten besonderen Gefahrensituation auf der Brücke besondere Veranlassung. Die Bewertung seines Verursachungs- und Verschuldensanteils durch das Landgericht mit 50% ist nicht zu beanstanden. Eine höhere Haftungsquote des Klägers scheidet aufgrund genauerer Feststellungen zu der vom Kläger gefahrenen Geschwindigkeit, zu der von der insoweit darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten nichts Näheres vorgetragen worden ist, aus.

Hinsichtlich der Bemessung des Schmerzensgeldes sowie der Verneinung eines ausgleichspflichtigen Haushaltsführungsschadens des Klägers gem. § 843 BGB folgt der Senat dem Landgericht. Der Kläger hat nicht bewiesen, dass er vor dem Unfall eine ins Gewicht fallende Haushaltstätigkeit erbracht hat. Den Aussagen der Zeugen B und B2 zufolge hat es sich um geringfügige Tätigkeiten (Fahrten, Hausarbeiten der Kinder) gehandelt, die im Rahmen der §§ 249, 843 BGB nicht ersatzfähig sind. Soweit der Kläger seit dem 31. August 2000 in einem Einpersonenhaushalt lebt, hat das Landgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die Bestellung eines Sachverständigen ohne konkreten Sachvortrag auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis hinausläuft.

Im Ergebnis sind daher beide Berufungen zurückzuweisen.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 92, 708 Nr.10 ZPO.

Gründe, gemäß § 543 Abs.2 ZPO die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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