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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 16.03.2007
Aktenzeichen: 2 Ws 103/07
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 57 Abs. 2 Nr. 1
Das Erstverbüßungsprivileg des § 57 Abs. 1 Nr. 1 StPO gilt bei einer Anschlussvollstreckung mehrerer selbständiger Freiheitsstrafen nicht nur bezüglich der Ersten, sondern auch bezüglich der nachfolgend vollstreckten Strafe (n), selbst wenn die Summe der Strafen 2 Jahre übersteigt. Der Senat hält an seiner früheren - gegenteiligen - Auffassung nicht fest.
2 Ws 101/07 2 Ws 103/07

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - über das Halbstrafengesuch an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Köln zurückgegeben.

Gründe:

I.

Die Verurteilte befindet sich - erstmals - ununterbrochen seit dem 16.11.2005 in Haft. In dem Verfahren StA Köln 30 Js 587/05 erlitt sie ab diesem Zeitpunkt zunächst Untersuchungshaft. Am 05.04.2006 wurde die Untersuchungshaft zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe wegen Diebstahls von 6 Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Köln vom 13.09.2005 - StA Köln 49 Js 489/05 - bis zu dem am 05.08.2006 erreichten 2/3-Zeitpunkt unterbrochen. Anschließend wurde die in dem Verfahren StA Köln 30 Js 587/05 wegen Einbruchsdiebstahls verhängte Strafe von einem Jahr aus dem Urteil des Amtsgerichts Köln vom 16.06.2006 bis zum Halbstrafentermin am 16.09.2006 vollstreckt. Seit dem 17.09.2006 wird eine durch Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Köln vom 15.07.2003 - StA Köln 44 Js 102/01 - nachträglich gebildete Gesamtfreiheitsstrafe wegen Bandendiebstahls von 14 Monaten vollstreckt. Die Hälfte dieser Strafe war - unter Anrechnung von 61 Tagen Untersuchungshaft - am 14.02.2007 verbüßt, 2/3 werden am 26.04.2007 verbüßt sein.

Die Strafvollstreckungskammer hat mit dem angefochtenen Beschluss den Antrag der Verurteilten, "am 14.02.2007 ihre Reststrafe zur Halbstrafe zur Bewährung auszusetzen", als unzulässig abgelehnt mit der Begründung, der Verurteilten komme das sog. Erstverbüßerprivileg nicht zugute, das in Fällen sog. Anschlußvollstreckung nicht gelte. Eine Entscheidung über die Strafaussetzung sei erst "zu einem gemeinsamen 1/2-Strafen- bzw. 2/3-Strafen-Zeitpunkt zulässig."

II.

Gegen diesen Beschluß hat die Verurteilte sofortige Beschwerde eingelegt, die gem. § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO zulässig ist und vorläufigen Erfolg hat.

Die Strafvollstreckungskammer hat sich bei ihrer Entscheidung - wie in keiner Weise zu beanstanden - an der bisherigen Rechtsprechung des Senats orientiert, an der der Senat nach erneuter Prüfung nicht festhält.

1. Der Zeitpunkt, zu dem bei Anschlußvollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen nach § 454 b Abs. 3 StPO eine gleichzeitige Entscheidung über eine Reststrafenaussetzung zu treffen ist, war hier bereits bei hälftiger Verbüßung der Strafe von 14 Monaten aus dem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Köln vom 15.07.2003 am 14.02.2007 erreicht.

Die Vollstreckung der Strafe von einem Jahr aus dem Urteil des Amtsgerichts Köln vom 16.06.2006 ist zutreffend, wovon auch die Strafvollstreckungskammer ausgeht, gemäß § 454 b Abs. 2 Nr. 1 StPO nach Verbüßung der Hälfte und die Vollstreckung der Strafe von 6 Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Köln vom 13.09.2005 gemäß § 454 b Abs. 2 Nr. 2 StPO zum 2/3-Termin unterbrochen worden.

Wann vorliegend der Zeitpunkt für eine gleichzeitige Entscheidung über eine Reststrafenaussetzung erreicht ist, hängt mithin davon ab, ob die derzeit im Wege der Anschlußvollstreckung an dritter Stelle verbüßte Strafe von 14 Monaten aus dem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Köln vom 15.07.2003 dem sog. Erstverbüßerprivileg nach § 454 b Abs. 2 Nr. 1 StPO unterliegt.

2. Diese Frage bejaht der Senat. Der Senat hat in einer älteren Entscheidung zu der in Rechtsprechung und Schrifttum (seinerzeit noch stärker) umstrittenen Frage, ob in Fällen sog. Anschlußvollstreckung der Verurteilte auch bezüglich an zweiter (oder wie hier : dritter) Stelle vollstreckten Strafen sog. Erstverbüßer i.S.v. § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB ist, die Auffassung vertreten, dass eine Halbstrafenaussetzung nach § 57 Abs. 1 Nr. 1 StGB in derartigen Fällen nicht in Betracht kommt (Senat 19.12.1989 - 2 Ws 622/89 -). An dieser Auffassung hält der Senat nach erneuter Prüfung nicht fest.

Er schließt sich der von der obergerichtlichen Rechtsprechung und in der Kommentierung inzwischen ganz überwiegend vertretenen gegenteiligen Auffassung an, nach der ein Verurteilter Erstverbüßer in den Fällen unmittelbarer Anschlußvollstreckung mehrerer selbständiger Freiheitsstrafen nicht nur bzgl. der ersten Strafe ist. Vielmehr sind auch die nachfolgend vollstreckten Strafen einzubeziehen.

(vgl aus neuerer Zeit OLGe Stuttgart NStZ 2000,593; StV 94,250; Düsseldorf StV 90,271 mit Nachweisen älterer Rechtsprechung; ebenso Schönke/Schröder-Stree, StGB, 27.Aufl., § 57 Randnr. 23a; NK-Dünkel, StGB , 14. Lieferung (30.11.03) § 57 Randnr. 50; SK-Horn, StGB, § 57 Randnr.16 a; MK-Groß, StGB, 2005, § 57 Randnr. 45; Tröndle/Fischer, StGB, 55. Aufl., § 57 Randnr. 25; LR-Günter Wendisch, StPO , 25.Aufl., § 454 b Randnr. 19; SK-Paeffgen , StPO, § 454 b Randnr.16; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., § 454 b Randnr. 3; a.A. LK-Gribbohm, StGB, 11. Aufl., § 57 Randnr.37; Lackner/Kühl, StGB, 25.Aufl., § 57 Randnr. 16 mit Nachweisen älterer Rechtsprechung ).

Aus Sicht des Senates ist in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung eine an der Lebenswirklichkeit orientierte materielle, nicht auf die formelle Selbständigkeit der jeweiligen Vollstreckung abstellende Betrachtung geboten. Die der Regelung zugrundeliegende Erwägung des Gesetzgebers, dass derjenige, der sich erstmals im Strafvollzug befindet, diesen in aller Regel am spürbarsten empfinden wird, trifft auch auf die Anschlußvollstreckung zu.

Den Bedenken der Gegenauffassung, die der Senat in seiner angeführten Entscheidung im einzelnen dargelegt hat, läßt sich im Rahmen der "Kann-Vorschrift" Rechnung tragen.

3. Das Erstverbüßerprivileg gilt nach Auffassung des Senats konsequenterweise auch für einen Verurteilten, bei dem die Summe der unmittelbar nacheinander zu vollstreckenden 2 Jahre übersteigt, wie dies hier der Fall ist (OLGe Düsseldorf, Stuttgart a.a.O. je m.w.N. aus der obergerichtlichen Rechtsprechung; ebenso MK-Groß, a.a.O. Randnr.46; SK-Horn a.a.O. Rndnr.16 b; NK-Dünkel a.a.O., Randnr. 52; SK-Paeffgen a.a.O., Randnr.15; Tröndle-Fischer, a.a.O., Randnr. 26; Meyer-Goßner a.a.O., Randnr. 3; aA Schönke/Schröder-Stree a.a.O., Randnr. 23 a).

Maßgeblich für diese Auslegung ist der kriminalpolitische Sinn der Vorschrift : "Die Begrenzung auf Freiheitsstrafen von höchstens 2 Jahren ist im Hinblick auf die generalpräventive Erwägung erfolgt, dass Strafen in dieser Höhe für Taten verhängt werden, bei denen eine Halbstrafenaussetzung noch im allgemeinen Rechtsbewußtsein akzeptabel und unter Gesichtspunkten der Prävention erfolgversprechend ist. Dieser Gesichtspunkt verliert nicht deshalb an Gewicht, weil - u.U. zufällig - mehrere solcher Strafen nacheinander zu vollstrecken sind" (so überzeugend Tröndle-Fischer a.a.O.)

Diese Auslegung entspricht auch dem Grundsatz der vollstreckungsrechtlichen Selbständigkeit mehrerer nicht gesamtstrafenfähiger Strafen, der durch die gleichzeitig mit der Erstverbüßerregelung in die StPO eingefügten Unterbrechungsbestimmungen des § 454 b StPO ausdrücklich bestätigt worden ist und sich auch in zahlreichen anderen Bestimmungen sowohl des materiellen als auch des Verfahrensrechts findet (vgl dazu näher OLG Stuttgart a.a.O.).

4. Angesichts dessen, dass statistisch die Vollverbüßung die Regel und die Reststrafenaussetzung die Ausnahme ist (Halbstrafenaussetzungen liegen unter 2 %, vgl. Tröndle-Fischer a.a.O., Randnr 1), fällt die Gefahr unbilliger Ungleichbehandlung, die etwa wegen Zufälligkeiten im Erkenntnisverfahren, die eine Gesamtstrafenbildung verhindern, entstehen kann, nicht ins Gewicht und kann jedenfalls in Kauf genommen werden. An der gegenteiligen Auffassung in seiner früheren Entscheidung hält der Senat - der seither mit der Problematik der Erstverbüßerregelung bei Anschlussvollstreckungen bezeichnenderweise nicht befaßt gewesen ist - auch insoweit nicht fest.

Auch hier gilt im übrigen, dass etwaigen Bedenken gegen eine unangebrachte Halbstrafenaussetzung durch das Regulativ der "Kann-Bestimmung" Rechnung getragen werden kann.

Außerdem müssen schon nach dem Wortlaut des Gesetzes selbstverständlich auch "die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt" sein, um eine Halbstrafenaussetzung zu gewähren, d.h. es muß eine günstige Sozialprognose gestellt werden können. Diese Voraussetzung bedarf vor dem Hintergrund der zahlreichen, bis in das Jahr 1997 zurückreichenden einschlägigen Vorstrafen der Verurteilten im vorliegenden Fall eingehender Prüfung.

5. Der Senat hat daher den angefochtenen Beschluss aufgehoben und die Sache an die Strafvollstreckungskammer zurückgegeben, damit diese nunmehr eine Entscheidung in der Sache trifft.

6. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlaßt, sie wird von der Strafvollstreckungskammer je nach dem Ergebnis der erneuten Entscheidung zu treffen sein.

Ende der Entscheidung

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