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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 08.06.2000
Aktenzeichen: 2 Ws 282/00
Rechtsgebiete: StGB, BtMG, StPO


Vorschriften:

StGB § 57 Abs. 1
StGB § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
BtMG § 29 a
BtMG § 30
StPO § 454 Abs. 2
StPO § 454 Abs. 3 Satz 1
StPO § 454 Abs. 2 Satz 2
StPO § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
StPO § 309 Abs. 2
StPO § 309 Abs. 1
StPO § 308 Abs. 2
StPO § 454 Abs. 2 Satz 8
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT KÖLN BESCHLUSS

2 Ws 281-282/00 34 VRs 7586/91 StA Mönchengladbach 35 VRs 428/98 StA Mönchengladbach

In der Strafvollstreckungssache

gegen

N. G. K., geboren am 1. Juni 1950 in M., z. Zt. in Strafhaft in der JVA ....,

hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Köln auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bonn (52 StVK 426-427/00) vom 28. März 2000 durch den Richter am Oberlandesgericht Siegert, den Richter am Oberlandesgericht Heidemann und den Richter am Landgericht Conzen

am 8. Juni 2000 beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bonn zurückverwiesen, die auch über die Kosten dieses Beschwerdeverfahrens zu befinden haben wird.

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer wurde am 28. August 1991 durch das Landgericht Mönchengladbach wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr (deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden war; insoweit ist am 21. September 1998 Widerruf ausgesprochen worden) verurteilt. Am 8. Januar 1998 wurde er durch das Amtsgericht Mönchengladbach wegen unerlaubter Einfuhr von in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt.

Er befindet sich derzeit in Strafhaft im offenen Vollzug in der JVA E.; die Freiheitsentziehung dauert einschließlich anzurechnender Untersuchungshaft ununterbrochen seit dem 19. Oktober 1997 an. Gemeinsamer Zwei-Drittel-Zeitpunkt war der 5. Mai 2000. Das Ende der Strafzeit ist für die erstgenannte Sache auf den 5. September 2000, das Gesamtstrafende ist auf den 16. August 2000 vorgemerkt.

In dem Verfahren über eine Reststrafaussetzung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe zur Bewährung hat sich der Leiter der JVA E. auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit für eine bedingte Entlassung des Verurteilten ausgesprochen. Auch die Staatsanwaltschaft Mönchengladbach hat eine Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB befürwortet.

Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bonn hat mit der Ladung zur mündlichen Anhörung des Verurteilten zwar vermerkt, dass im Hinblick auf die Einsatzstrafe von zwei Jahren und vier Monaten aus dem Urteil vom 8. Januar 1998 wegen eines Verbrechens nach §§ 29 a, 30 BtMG ein "Gutachtenfall" - gemeint: nach § 454 Abs. 2 StPO - vorliege. Sie hat es aber gleichwohl, ohne ein Sachverständigengutachten in Auftrag zu geben, mit Beschluss vom 28. März 2000 abgelehnt, die Vollstreckung des Restes der (Gesamt-) Freiheitsstrafen zur Bewährung auszusetzen.

Gegen diese am 10. April 2000 zugestellte Entscheidung richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom selben Tage, eingegangen am 14. April 2000. Da durch die Staatsanwaltschaft Mönchengladbach ursprünglich nur eines der beiden Vollstreckungshefte der Generalstaatsanwaltschaft zugeleitet worden war, ist die Sache mit den vollständigen Akten dem Senat erst am 31. Mai 2000 vorgelegt worden.

II.

Die gemäß § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und auch sonst zulässige sofortige Beschwerde hat vorläufigen Erfolg. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, weil nach Aktenlage eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB sehr wohl ernstlich in Betracht kommt, es hierfür aber noch der Einholung eines Gutachtens nach § 454 Abs. 2 StPO - das durch die Strafvollstreckungskammer in Auftrag zu geben sein wird - bedarf.

1.

Vorbehaltlich des noch zu erstattenden Gutachtens ist die dem Verurteilten zu stellende Legalprognose hinreichend günstig im Sinne des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB.

Die Kriterien, die nach dieser Vorschrift vorliegen müssen, sind in dem angefochtenen Beschluss zutreffend aufgeführt und entsprechen der ständigen Rechtsprechung des Senats. Es muss eine begründete Aussicht auf eine Resozialisierung des Verurteilten bestehen und zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit oder "reelle Chance" dafür gegeben sein, dass dieser künftig keine Straftaten mehr begehen wird. An diesen materiell-rechtlichen Voraussetzungen, für die auch schon nach bisheriger Rechtsprechung das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit mit zu berücksichtigen war (vgl. BT-Drucksache 13/9062 S. 9 m.w.N.), hat sich auch durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderer gefährlicher Straftaten vom 26.01.1998 trotz einer gewissen Verschärfung der Anforderungen nichts grundlegend geändert. Insbesondere ist die Formulierung der Verfahrensvorschrift des § 454 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht geeignet, ihrerseits zu einer noch einengenderen Auslegung des Wortlauts des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu führen, denn die materiell-rechtlichen Aussetzungskriterien sind abschließend im materiellen Recht des § 57 Abs. 1 StGB geregelt (vgl. Schöch NStZ 98, 1258, 1259; Schüler-Springorum StV 98, 669; Rosenau StV 99, 396). Ansätze für eine noch engere Sicht in Teilen der Rechtsprechung (vgl. etwa OLG Koblenz StV 98, 667) entsprechen nicht der Rechtsprechung des Senats. Die Klausel von der Verantwortbarkeit der Vollstreckungsaussetzung "unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit" schließt ebenso wie schon vorher die Klausel von der Verantwortlichkeit der Erprobung mit ein, daß es vertretbares Restrisiko eingegangen wird (BVerfG NJW 98, 2202).

Hiervon ausgehend und speziell auch nach den entscheidungsrelevanten Faktoren des § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB erschiene - wenn es nicht noch des einzuholenden Sachverständigengutachtens bedürfte - die auch von der Staatsanwaltschaft und von dem Leiter der JVA befürwortete bedingte Entlassung des Verurteilten sehr wohl angezeigt. Der Verurteilte ist Erstverbüßer und hat sich von dem nunmehr seit zweieinhalb Jahren durchgehenden Freiheitsentzug beeindruckt gezeigt; er hat sich im Vollzug stets gut geführt und bei dem Leiter der JVA glaubhaft den Eindruck hinterlassen, sein Leben nach einer Entlassung zu ändern. Aus sämtlichen Ausgängen und Urlauben kehrte der Verurteilte bislang beanstandungsfrei zurück; durchgeführte Alkohol- und Drogenkontrollen waren stets negativ. In wohnlicher Hinsicht ist die Entlassungssituation günstig; der Verurteilte würde in das Haus seiner Mutter ziehen. Dass der Verurteilte im offenen Vollzug kein Beschäftigungsverhältnis eingegangen ist (sondern zur Zufriedenheit der Anstalt als Hausarbeiter in der JVA wirkt), kann ihm nicht nachteilig ausgelegt werden; es beruht dies darauf, dass er einen Arbeitsplatz in unmittelbarer Umgebung des Wohnsitzes seiner pflegebedürftigen Mutter annehmen möchte.

2.

Angesichts dieser so weitgehend positiven Umstände war die Strafvollstreckungskammer gehalten, vor dem eine bedingte Entlassung ablehnenden Beschluss ein Sachverständigengutachten nach § 454 Abs. 2 StPO einzuholen.

Zwar liegt insoweit nicht schon ein "Verfahrensmangel" - so die Beschwerdebegründung vom 28. April 2000 - vor, denn die Strafvollstreckungskammer hat gar nicht erst erwogen, die Vollstreckung des Restes der zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Gerade hierin liegt aber der jedenfalls materiell-rechtliche Mangel der angefochtenen Entscheidung. Die Aussetzung der Reststrafenvollstreckung ist vorliegend nicht nur zu erwägen, sondern sogar eher naheliegend. Da den Richter der Strafvollstreckungskammer zur Prognoseentscheidung eine Aufklärungspflicht trifft und er sich ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschaffen muss (BVerfG NJW 2000, 501), oblag es ihm hier, das - wegen der Verurteilung zu einer Straftat im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB, nämlich zu einem Verbrechen (nach §§ 29 a Abs. 1 Nr. 2, 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG) zu einer Strafe von mehr als zwei Jahren aus dem Urteil vom 8. Januar 1998 - erforderliche Sachverständigengutachten in Auftrag zu geben. Zwar löst nicht jede Prüfung, ob der Rest einer Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen ist, die Pflicht zur Begutachtung des Verurteilten aus (BGH NStZ 2000, 279). Entbehrlich wäre die Einholung eines solchen Gutachtens und evtl. die anschließende Anhörung des Sachverständigen aber nur dann gewesen, wenn nach den Umständen des Einzelfalles die Aussetzung der Reststrafen offensichtlich nicht verantwortet werden kann und das Gericht deshalb die Strafaussetzung nicht in Betracht zieht (BGH a.a.O. und BGH NJW 2000, 1663, 1664). So liegt es hier aber nicht. Die Aussetzung der weiteren Vollstreckung ist jedenfalls nicht fernliegend, sondern kommt nach Sachlage "realistisch in Betracht" (vgl. Thüring. OLG NStZ 2000, 224). Aufgabe eines Gutachtens im Sinne des § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO ist es nicht etwa nur, eine für möglich erachtete bedingte Entlassung nach sachverständiger Überprüfung ggf. zu vermeiden, sondern ebenso, positiv die Voraussetzungen für eine nicht mehr gegebenen Gefahr erneuter Strafbarkeit zu ermitteln. Dies entspricht dem Gebot zureichender richterlicher Sachaufklärung in Strafvollstreckungssachen (hierzu BVerfG NJW 98, 2202, 2203).

Den Bedenken der Strafvollstreckungskammer in dem angefochtenen Beschluss, dass sich die Drogenfreiheit des Verurteilten seit Beginn des Vollzuges in der JVA E. trotz der Stellungnahme des Leiters dieser Anstalt noch nicht hinreichend habe feststellen lassen, kann gerade dadurch Rechnung getragen werden, dass sich das einzuholende Sachverständigengutachten auch auf diese Frage erstreckt. Schon gar nicht erscheint es nachvollziehbar, dass die Strafvollstreckungskammer dem Verurteilten ein Reststrafengesuch für den Sommer dieses Jahres anheim stellt, damit eine bedingte Entlassung nach Verbüßung der einen der beiden Strafen im September 2000 geprüft wird; es ist nicht ersichtlich, welche Veränderungen bis dahin hinsichtlich der Legalprognose zu erwarten sein sollen; zudem würde auch dann noch die Einholung des Gutachtens wegen der Verurteilungen nach §§ 29 a, 30 BtMG geboten sein.

3.

Das demnach einzuholende Gutachten gemäß § 454 Abs. 2 StPO ist von der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bonn in Auftrag zu geben, die auch eine - je nach Erklärungen zu § 454 Abs. 2 letzter Satz StPO - etwaige mündliche Anhörung des Sachverständigen vorzunehmen haben wird. Der Senat verweist die Sache daher zurück. Die Anordnung eines Sachverständigengutachtens und ggf. eine anschließende mündliche Anhörung durch den Senat als Beschwerdegericht - die zwar nicht ausgeschlossen erscheinen -, kommen im Regelfall nicht in Betracht.

Damit soll dem Verurteilten nicht nur eine Instanz nicht genommen werden (hierzu OLG Hamm StV 99, 216, 217). Vielmehr beruht die Zurückverweisung auch auf folgenden Erwägungen:

Ein Fall des § 309 Abs. 2 StPO, in dem das Beschwerdegericht zugleich die in der Sache (abschließend) erforderliche Entscheidung zu treffen hätte, liegt nicht eigentlich vor. Die derzeit eingelegte sofortige Beschwerde hat nur vorläufigen Erfolg. Eine Entscheidung darüber, ob im Ergebnis eine Reststrafenaussetzung angezeigt ist, kann noch nicht getroffen werden. Das in Auftrag zu gebende Gutachten stellt gerade noch keine (abschließende) Sachentscheidung dar; vielmehr ist die entsprechende Beweisanordnung lediglich eine Zwischenentscheidung. Ob wirklich die bedingte Entlassung die in der Sache erforderliche Entscheidung sein wird, ist noch offen.

Demgemäß liegt der hier gegebene Fall einer vorläufig erfolgreichen sofortigen Beschwerde des Verurteilten gegen die Ablehnung der Reststrafenaussetzung zur Bewährung ohne ein der Sache nach veranlasstes Gutachten nicht grundlegend anders als die - wenngleich zudem auch einem Verfahrensfehler nachfolgenden - Fälle einer sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Gewährung einer Reststrafenaussetzung ohne Einholung eines Gutachtens. In diesen Fällen ist es schon nahezu selbstverständliche Praxis der Oberlandesgerichte geworden, die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer aufzuheben und die Sache zwecks Einholung eines Sachverständigengutachtens zurückzuverweisen (vgl. OLG Frankfurt NStZ 98, 639; OLG Zweibrücken NJW 99, 1124; OLG Koblenz NStZ-RR 99, 345; OLG Hamm StV 99, 216; OLG Celle StV 99, 385; OLG Karlsruhe StV 99, 495), obwohl auch hier - wollte man eine engere Sicht zum Anwendungsbereich des § 309 Abs. 2 StPO vertreten - eine eigene Sachverständigenbeauftragung mit erst anschließender Sachentscheidung durch das Beschwerdegericht in Frage gekommen wäre.

Schließlich spricht für die hier gewählte Verfahrensweise des Senats auch der Rechtsgedanke des § 309 Abs. 1 StPO, dem Vorrang vor § 308 Abs. 2 StPO gebührt; dem Beschwerdeverfahren ist eine mündliche Verhandlung fremd. Mit der Einholung des Gutachtens nach § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO hat es nämlich nicht sein Bewenden. Wenn nicht nach § 454 Abs. 2 Satz 8 StPO hierauf verzichtet wird, ist nach § 454 Abs. 2 Satz 3 und Satz 6 StPO noch eine mündliche Anhörung des Sachverständigen geboten. Dies geht über den üblichen Gang eines Beschwerdeverfahrens vor dem Oberlandesgericht hinaus. Der Fall liegt insoweit nicht wesentlich anders als bei einer schon nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO gebotenen und unterlassenen mündlichen Anhörung; auch eine solche Anhörung selbst nachzuholen, ist nicht Sache des Beschwerdegerichts (vgl. Fischer in Karlsruher Kommentar, StPO, 4. Aufl., § 454 Rdnr. 37).



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