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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 28.08.2007
Aktenzeichen: 2 Ws 412/07
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT KÖLN BESCHLUSS

2 Ws 412/07

In der Strafsache

hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Köln auf die Beschwerde des Angeklagten vom 24.7.2007 gegen den Haftbefehl der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Köln vom 13.7.2007, Az. 102 - 12/06,

am 28.8.2007

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten verworfen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte wurde erstmals am 29.3.2005 auf der Grundlage des Haftbefehls des Amtsgerichts Bergisch Gladbach vom 23.3.2005, Az. 40 Gs 204/05, festgenommen. In diesem Haftbefehl wurden ihm in 5 Fällen Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern vorgeworfen. Der Haftbefehl wurde auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt, subsidiär ist das Amtsgericht zudem vom Haftbefehl der Wiederholungsgefahr ausgegangen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl vom 23.3.2005 verwiesen (Bl. 127 ff. d.A.). Durch weiteren Beschluss des Amtsgerichts Bergisch Gladbach vom 21.6.2005, irrtümlich datiert auf den 21.6.2006, wurde der Angeklagte vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont. Ihm wurde aufgegeben, sich wöchentlich dreimal bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden, jeden Wohnsitzwechsel unverzüglich anzuzeigen, jeder gerichtlichen Weisung, insbesondere jeder Ladung, unverzüglich Folge zu leisten und jeden Kontakt zu den Geschädigten T A, B A, U A, N C und anderen Kindern zu vermeiden. Außerdem war ihm untersagt, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen.

Die Staatsanwaltschaft Köln hat am 31.1.2006 Anklage erhoben. Hierin wurden dem Angeklagten Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern sowie Vergewaltigungen in insgesamt 11 Fällen vorgeworfen. Die 2. große Strafkammer des Landgerichts Köln hat die Hauptverhandlung durch Beschluss vom 12.3.2007 eröffnet. Zuvor hatte der Kammervorsitzende durch wiederholte Vermerke in der Akte dokumentiert, dass das Verfahren wegen Überlastung der Strafkammer nicht weiter gefördert werden konnte. Die Hauptverhandlung hat schließlich in der Zeit vom 5.7. bis 13.7.2007 an 5 Hauptverhandlungstagen stattgefunden.

Das Landgericht hat den Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 13.7.2007 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Jahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 9 Fällen sowie wegen Vergewaltigung in 2 Fällen verurteilt. Am selben Tag hat das Landgericht den mit der Beschwerde angegriffenen Haftbefehl erlassen. Hierin wird dem Angeklagten entsprechend den Feststellungen in der Hauptverhandlung zur Last gelegt, durch mindestens 11 selbständige Handlungen in 8 Fällen sexuelle Handlungen an einer Person unter 14 Jahren vorgenommen zu haben, in einem Fall ein Kind dazu bestimmt zu haben, dass es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt und von einem Dritten an sich vornehmen lässt sowie in 2 weiteren Fällen eine Frau mit Gewalt zum außerehelichen Beischlaf mit ihm genötigt zu haben. Wegen der Einzelheiten der Tatvorwürfe wird auf den Haftbefehl verwiesen (Bl. 608 ff. d.A.). Das Landgericht hat den Haftbefehl auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt. Es hat ausgeführt, die festgestellten Taten deuteten auf schwere Persönlichkeitsmängel hin, die weitere Taten ähnlicher Art befürchten ließen. Es hat auf eine Vielzahl weiterer Missbrauchsfälle hingewiesen, die jedoch wegen Verjährung nicht angeklagt worden seien. Das Landgericht hat ferner ausgeführt, nach dem in der Hauptverhandlung erstellten psychiatrischen Gutachten des Sachverständigen Dr. S liege beim Angeklagten sexuelle Pädophilie vor, die zwar keinen Krankheitswert habe, jedoch therapiebedürftig sei. Der Angeklagte sei derzeit nicht zu einer Therapie bereit.

Mit der Beschwerde wendet sich der Angeklagte gegen die Anordnung der Haft. Hilfsweise begehrt er die erneute Verschonung von der Untersuchungshaft gegen Auflagen und Weisungen. Er verweist insofern insbesondere darauf, dass er über eine lange Zeit von der Untersuchungshaft verschont gewesen sei und sich an seiner psychischen Situation seither nichts geändert habe. Eine Wiederholungsgefahr liege daher nicht vor.

II.

Die nach § 304 Abs. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Die Einwendungen des Angeklagten führen weder zur Aufhebung des Haftbefehls noch kommt eine Haftverschonung in Betracht.

Der Senat sieht die Untersuchungshaft bereits aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) als gerechtfertigt an. Die durch das Landgericht verhängte hohe Freiheitsstrafe von 8 Jahren begründet eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich der Angeklagte im Falle einer Freilassung dem weiteren Verfahren entzieht. Gegen die Annahme der Fluchtgefahr spricht nicht, dass sich der während des bisherigen Verfahrens ganz überwiegend von der Untersuchungshaft verschonte Angeklagte dem Verfahren gestellt hat. Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe abgestritten und bis zuletzt auf einen Freispruch gehofft. Deshalb stellt sich die nunmehr verhängte langjährige Freiheitsstrafe als neuer Umstand dar, der die Fluchtmotivation des Angeklagten deutlich erhöht haben dürfte. Hinzu tritt, dass der 50-jährige Angeklagte bislang über keine Erfahrungen in der Strafhaft verfügt und er von daher als besonders haftempfindlich anzusehen ist. Auch persönlich verfügt er über keine relevanten Bindungen, die ihn von einer Flucht abhalten könnten. Im Gegenteil sind durch die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten Bindungen zu seiner Familie zerstört. Dass der Angeklagte offensichtlich eine Lebensgefährtin hat und bislang über einen Arbeitsplatz verfügte, sind keine Umstände, die in Anbetracht der hohen Straferwartung einer Fluchtgefahr durchgreifend entgegenstehen. Auch aus Sicht des Senats liegt beim Angeklagten aber auch der subsidiäre Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112 a Abs. 1 Nr. 1 StPO) vor. Der Angeklagte ist aufgrund der Feststellungen der Strafkammer der mehrfachen Begehung von Straftaten nach §§ 176 und 177 StGB dringend verdächtig. Es besteht ferner die Gefahr, dass er vor Eintritt der Rechtskraft weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begeht. Grund dafür ist die vom Sachverständigen in der Hauptverhandlung dargestellte beidgeschlechtliche Pädophilie des Angeklagten und die dadurch bedingte schwerwiegende Persönlichkeitsstörung. Der Angeklagte soll im Tatzeitraum immer wieder massive sexuelle Übergriffe auf seine eigene Tochter, einen Freund seiner Tochter sowie seine Nichte und seinen Neffen unternommen haben. Neben den ohnehin in erheblicher Zahl zur Anklage gelangten Taten stehen eine Vielzahl weiterer Taten zu besorgen, die mangels Konkretisierung oder wegen Verjährung nicht zur Anklage gelangen konnten. In einer Gesamtschau ist festzustellen, dass das Sexualleben des Angeklagten über einen langen Zeitraum durch massive Übergriffe auf Kinder geprägt war. Es ist nicht ersichtlich, dass der Angeklagte ohne eine nachhaltige Therapie in Zukunft von derartigen Handlungen absieht. Hierzu bestand bislang aber keine Bereitschaft.

Entgegen der Auffassung des Angeklagten ist der Vollzug der Untersuchungshaft auch geboten. Der psychiatrische Sachverständige ist in der Hauptverhandlung vor der Strafkammer zu dem Ergebnis gekommen, dass ohne eine Therapie Rückfallgefahr vorliegt. Es ist aus diesem Grunde nicht zu verantworten, von der Anordnung der Untersuchungshaft abzusehen. Von neuerlichen Straftaten des Angeklagten wären höchstrangige Rechtsgüter besonders schutzbedürftiger Personen betroffen. Mit Rücksicht auf diesen Umstand kommt auch die vom Angeklagten in zweiter Linie angestrebte Haftverschonung (§ 116 Abs. 3 StPO) nicht in Betracht. Ihm ist zwar zuzugestehen, dass seit der letzten festgestellten Tat im April 2004 keine weiteren Delikte hinzugetreten sind. Der Senat berücksichtigt ebenso, dass der seit dem 21.6.2005 von der Untersuchungshaft verschonte Angeklagte die ihm gestellten Auflagen und Weisungen beachtet hat. Die trotz dieser Entwicklung vom Sachverständigen festgestellte Rückfallgefahr stellt sich jedoch als Umstand dar, der trotz vorheriger Verschonung einen Vollzug der Untersuchungshaft notwendig macht (vgl. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO). Mag es der Angeklagte durch Disziplin erreicht haben, in den letzten drei Jahren von weiteren Übergriffen auf Kinder abzusehen, mag es Folge glücklicher Umstände sein, dass bislang nichts weiter geschehen ist, so macht gleichwohl bereits die Feststellung, dass weitere Sexualdelikte gegenüber Kindern wahrscheinlich sind, die erneute Haft erforderlich. Hierbei berücksichtigt der Senat auch, dass die Geschädigten - mit Ausnahme der Geschädigten T A, die jedoch keinen Kontakt mehr mit dem Angeklagten haben dürfte - inzwischen aufgrund ihres Alters nicht mehr gefährdet sind. Das frühere Verhalten des Angeklagten zeigt aber, dass er seine Tatopfer im engsten und weiteren Familienkreis sowie auch über diesen hinaus im Freundeskreis seiner Tochter gesucht hat. Hieraus folgt, dass die von ihm ausgehende Gefahr nicht auf einen bestimmten Kreis beschränkt ist, sondern Straftaten zu besorgen sind, die auch einen bisher nicht abzugrenzenden Personenkreis betreffen können.

Die nunmehr durch Verteidigerschriftsatz vom 27.8.2007 angebotene Kaution und die Anregung einer Therapieauflage rechtfertigen ebenso keine Verschonung. Die Kaution ist trotz der angebotenen Höhe nicht geeignet, die durch die hohe Straferwartung begründete Fluchtgefahr abzuwenden. Im Hinblick auf die Wiederholungsgefahr könnte die Kaution allenfalls als Druckmittel taugen, die Durchführung einer Sexualtherapie sicherzustellen. Hierzu ist aber zu bemerken, dass sich der Angeklagte bislang in keiner Weise therapiebereit gezeigt hat. Wenn er nunmehr erstmals durch seinen Verteidiger eine Therapieauflage in den Raum stellt, ist festzustellen, dass insoweit keinerlei weitere Konkretisierung erfolgt. Dies spricht dagegen, dass der Angeklagte ernstlich eine Therapie anstrebt. Wenn dies wirklich sein Wille wäre, müsste erwartet werden, dass er sich mit Hilfe seiner Verteidiger schon längst nach einer konkreten Therapiemöglichkeit umgesehen und diese dem Senat mitgeteilt hätte. Solche Bemühungen sind jedoch nicht zu verzeichnen.

Die Anordnung der Untersuchungshaft ist trotz der bisherigen Verfahrensdauer gerechtfertigt. Der Senat sieht allerdings, dass die Strafkammer das Verfahren über einen langen Zeitraum wegen Überlastung nicht fördern konnte. Dies ist unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung bedenklich. Hiernach unterliegt ein Verfahren auch dann den besonderen Anforderungen des Beschleunigungsgebots, wenn der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist (vgl. nur BVerfG B. v. 29.11.2005, 2 BvR 1737/05, StV 2006, 87, 88 f.). Gleichwohl vermag der Senat aufgrund folgender Erwägung keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot festzustellen, der die Aufhebung des Haftbefehls zu rechtfertigen vermag:

Die Erfahrungen der gerichtlichen Praxis zeigen, dass eine weitgehende Gleichstellung zwischen inhaftiertem Angeklagten einerseits und verschontem Angeklagten andererseits im Hinblick auf die damit verbundenen persönlichen Einschränkungen nicht angebracht ist. Der Vollzug eines Haftbefehls und die Anordnung der Untersuchungshaft bei gleichzeitiger Haftverschonung betreffen einen Angeklagten in sehr unterschiedlicher Weise. So ist es durchaus in der Mehrzahl der Haftsachen festzustellen, dass Angeklagte sich gegen Haftverschonungen nicht zur Wehr setzen, weil sie in der Regel ihr bisheriges Leben weiter führen können. So liegt der Fall auch hier. Es ist kein Hinweis darauf ersichtlich, dass der Angeklagte in den über 2 Jahren seiner Haftverschonung durch die ihm auferlegten Auflagen und Weisungen in erheblichem Maße eingeschränkt war. Er hat sich jedenfalls - trotz der langen Verfahrensdauer - zu keinem Zeitpunkt dagegen zur Wehr gesetzt. So ist nach der Auffassung des Senats eine längere Verfahrensdauer bei von der Haft verschonten Angeklagten im Vergleich zu inhaftierten Angeklagten, die ihre persönliche Freiheit nahezu vollends verlieren, auch mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen in Einklang zu bringen.

Aus diesem Grunde kann dahinstehen, ob der Grundsatz, wonach erhebliche Verfahrensverzögerungen, die nicht dem Angeklagten anzulasten sind, der weiteren Aufrechterhaltung der Haft entgegen stehen (vgl. BVerfG a.a.O.), bei Feststellung einer Wiederholungsgefahr überhaupt eingreifen kann. Dies erscheint jedenfalls zweifelhaft und zu relativieren, wenn weitere Straftaten eines Angeklagten zu Lasten höchster Rechtsgüter zu besorgen sind. Mag es etwa im Falle der Fluchtgefahr noch angehen, eine mögliche Flucht des Angeklagten hinzunehmen und damit den staatlichen Strafverfolgungsanspruch in Frage zu stellen, weil die staatlichen Organe zuvor selber nicht für einen angemessenen Fortgang des Verfahrens Rechnung getragen haben, so erscheint es als unverantwortbar, dieselbe Konsequenz bei einem für die Allgemeinheit gefährlichen Täter zu ziehen. In diesem Falle dürfte es der Schutz höchster Rechtsgüter unbeteiligter Dritter gebieten, einen solchen Täter auch bei justizbedingten Verfahrensverzögerungen um einige Monate weiterhin in der Untersuchungshaft zu behalten. Es ist nämlich auch Aufgabe des Staates, für Sicherheit vor gefährlichen Straftätern zu sorgen und der Verletzung insbesondere höchster Rechtsgüter entgegenzuwirken. Es erscheint in hohem Maße bedenklich, justizbedingte Verfahrensverzögerungen nur "zugunsten" des Angeklagten zu werten und dabei eine hohe Gefahr für unbeteilgte Dritte aus dem Blick zu verlieren.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 S. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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