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Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 04.09.2006
Aktenzeichen: 27 UF 198/06
Rechtsgebiete: BGB, FGG


Vorschriften:

BGB § 1632 Abs. 1
BGB § 1632 Abs. 4
BGB § 1744
BGB § 1800
FGG § 12
FGG § 49 a Abs. 1 Ziff. 6
FGG § 50 c
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Es wird angeordnet, dass das Kind I. U. H. unverzüglich aus der derzeitigen Pflegefamilie in die Obhut der Eheleute W. und S. I., C. Straße 33, xxxx O.-T. zurückgeführt wird und dort bis zur Entscheidung des Senats in Hauptsache verbleibt.

Das Kreisjugendamt des S.-T.-Kreises wird ermächtigt, erforderlichenfalls unter Mithilfe eines Gerichtsvollzieher die Rückführung des Kindes vorzunehmen.

Der Gerichtsvollzieher wird ermächtigt, einfache Gewalt anzuwenden und gegebenenfalls die Polizei und einen Schlosser hinzuzuziehen.

Gründe:

Über den Verbleib des betroffenen Kindes ist durch einstweilige Anordnung zu entscheiden, da ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Einschreiten besteht, welches ein Abwarten bis zur endgültigen Entscheidung über die Beschwerde des Jugendamts nicht gestattet, und eine Endentscheidung im Sinne der zunächst vorläufigen Maßnahme wahrscheinlich ist.

Nach § 1632 I BGB umfasst die Personensorge das Recht, die Herausgabe des Kindes von jeden zu verlangen, der es den Eltern oder einem Elternteil widerrechtlich vorenthält. Dieses Recht steht gemäß § 1800 BGB auch dem Vormund zu. Der Herausgabeanspruch nach § 1632 I BGB wird durch § 1632 IV BGB dahin modifiziert, dass die Herausnahme des Kindes aus einer Pflegefamilie zur Unzeit vermieden werden soll, um sein persönliches, insbesondere seelisches Wohl nicht zu gefährden (BVerfG NJW 1988, 125). Dabei stellt § 1632 IV BGB darauf ab, dass das Kind bereits seit längerer Zeit in der Pflegefamilie lebt. Insoweit ist auf das Zeitgefühl eines Kindes abzustellen. Kinder sind anders als Erwachsene in Bezug auf ihre Einstellung zur Zeit. Das Kleinkind erkennt als Eltern diejenigen Personen an, die von Stunde zu Stunde seine wichtigsten Bedürfnisse befriedigen, seine Gefühle erwecken und für seine Bedürfnisse Sorge tragen (Staudinger-Salgo, BGB, 2004 § 1632 BGB Rdn. 66). Vorliegend ist zudem zu berücksichtigen, dass U. nach der Geburt und einem kurzen Krankenhausaufenthalt sofort in die Obhut der jetzigen Pflegeltern übergeben worden ist, die für sie somit die einzigen Bezugspersonen sind.

Die strengen Anforderungen des § 1632 IV BGB, dass ein Verbleiben des Kindes in der Pflegefamilie nur dann anzuordnen ist, wenn durch die Wegnahme das Kindeswohl gefährdet würde, trifft den Fall, dass das Kind in die eigene Herkunftsfamilie zurückgeführt werden soll. Darum geht es aber vorliegend nicht. Die Vormünderin hat U. nur aus der bisherigen Pflegestelle herausgenommen, um sie anschließend in einer anderen Pflegestelle, einer Adoptionspflegestelle nach § 1744 BGB, unterzubringen. In einem solchen Fall darf die Trennung des Kindes von seinen bisherigen Pflegeeltern nur dann erfolgen, wenn eine Gefährdung des Kindeswohls nicht zu befürchten ist (ständige Rspr. des BVerfG, vgl. BVerfG NJW 1988, 125; NJW 1989, 519; NJW-RR 2005, 657; OLG Rostock FamRZ 2001 1633; Staudinger-Salgo a.a.O. § 1632 BGB Rdn. 48; Huber in Münchener Kommentar a.a.O. § 1632 BGB Rdn. 46). Eine Gefährdung des psychischen Wohls von U. durch die Herausnahme aus der bisherigen Pflegefamilie kann unter den gegebenen Umständen aber nicht ausgeschlossen werden. In dem der Entscheidung BVerfG NJW 1988, 125 zu Grunde liegenden Verfahren sind vom BVerfG Gutachten zu der Frage eingeholt worden, welche psychischen Beeinträchtigungen bei einem Wechsel der Bezugspersonen zu befürchten seien. Der Gutachter M. hat dazu ausgeführt, die Trennung von der Bezugsperson führe zu einem Angst- und Bedrohungsgefühl, das schädliche Dauerfolgen verursachen könne. Dabei könne keine unterste Altersgrenze festgestellt werden, vor der ein Trennungstrauma des Kindes ohne Bedeutung sei. Ein Säugling sei schon wenige Tage nach der Geburt in der Lage, selbst früheste Erfahrungen zu speichern. Das Bundesverfassungsgericht zieht daraus die allgemeine Folgerung, dass für ein Kind mit seiner Herausnahme aus der gewohnten Umgebung ein schwer bestimmbares Zukunftsrisiko verbunden sei. Dem schließt sich der Senat an. Eine Gefährdung des Kindeswohls lässt sich daher vorliegend nicht ausschließen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es besonders wichtig ist, in U. ein starkes Urvertrauen aufzubauen, da sich nicht ausschließen lässt, dass sie durch massiven Alkohol- und Medikamentenmissbrauch ihrer leiblichen Mutter in der Zeit der Schwangerschaft embryonale Schädigungen erlitten hat, die sie möglicherweise auf Dauer behindern werden. Ob geringere Anforderungen an die Kindeswohlprüfung in dem Fall zu stellen sind, in dem das Kind aus einer Pflegestelle einer Adoptionsstelle zugeführt werden soll (vgl dazu BVerfG FamRZ 1989, 31), kann dahinstehen, da vorliegend die auch bisherigen Pflegeltern schon vor der Geburt U.s gegenüber dem Jugendamt erklärt haben, das Kind adoptieren wollen, sobald die rechtlichen Möglichkeiten dafür vorliegen. Welchem Adoptionsantrag das Vormundschaftsgericht entsprechen wird, ist derzeit völlig offen. Allein die Tatsache, dass die neuen Pflegeeltern aus dem Kreis der durch die Adoptionsstelle des Jugendamts U. geprüften Adoptionsbewerber stammen, qualifiziert sie nicht gegenüber den bisherigen Pflegeeltern, die durch das Jugendamt des S.-T.-Kreises im Zusammenwirken mit der dortigen Adoptionsvermittlungsstelle als für eine Adoption geeignet befunden worden sind. Dabei ist die zuständige Adoptionsvermittlungsstelle vom Jugendamt nicht übergangen worden, sondern, wie sich aus den Akten des Jugendamts ergibt, befragt worden, ob aus dem Kreis der Adoptionsbewerber eine geeignete Familie vorgeschlagen werden könne. Die Adoptionsvermittlungsstelle hat das nach Prüfung verneint und vorgeschlagen, eine Pflegefamilie zu suchen, die unter den gegebenen Umständen auch bereit sei, das Kind zu adoptieren. Daraufhin hat das Jugendamt die Familie I. aus sechs in Betracht kommenden Familien als die geeigneteste ausgewählt. Weder vom Auswahlverfahren noch von den bisher bekannten Umständen gibt es stichhaltige Gesichtspunkte, die gegen die bisherige Pflegefamilie sprechen. Im Gegenteil ist besonders hervorzuheben, dass die Eheleute I. bereits über ausgeprägte Erfahrungen in der Kinderbetreuung und Kindererziehung verfügen, da sie 3 eigene Kinder haben. Die Mutmaßung des Amtsgerichts, dass durch die Betreuung der eigenen Kinder keine Zeit für U. bliebe, ist durch nichts gerechtfertigt, zumal die Söhne bereits 7, 15 und 18 Jahre alt sind. Sollte U. eine Schädigung davongetragen haben, kann sich das Aufwachsen in einer Gemeinschaft mit gesunden Geschwistern sogar als besonders hilfreich erweisen. Hinzukommt, dass die bisherige Pflegemutter als Kinderkrankenschwester den Umgang mit kranken Kindern erlernt hat. Mit der Eignung der bisherigen Pflegefamilie hat das Amtsgericht sich in keiner Weise auseinandergesetzt. Es hat es nicht einmal für nötig befunden, sie anzuhören, wozu es im Rahmen der Amtsermittlung verpflichtet gewesen wäre. Selbst wenn man die Voraussetzungen für eine Anhörungspflicht nach § 50 c FGG mangels Zeitdauer nicht für gegeben erachtet, war die Anhörung der Pflegeeltern nach § 12 FGG geboten (Keidel-Engelhardt § 50 c FGG Rdn. 3; Huber in Münchener Kommentar a.a.O. § 1632 Rdn. 17; Staudinger-Salgo a.a.O. § 1632 BGB Rdn. 34). Hinzukommt, dass die Pflegeltern nach 12 Wochen, in denen sie U. als das Kind, das sie auf Dauer bei sich behalten und adoptieren wollen, Bindungen aufgebaut haben. Ob diese Zeitdauer bereits ausreicht, um einen Schutz nach Art. 6 I GG zu begründen (vgl. dazu grundsätzlich BVerfG NJW 1985, 423; NJW 1989, 519) kann dahinstehen. Jedenfalls ist es nicht hinnehmbar, dass ihnen nach fast 3 Monaten das Kind weggenommen wird, ohne dass sie sich vorher dazu überhaupt äußern konnten. Auch das Jugendamt ist vor der Entscheidung nicht angehört worden, was § 49 a I Ziff. 6 FGG zwingend vorschreibt. Die Vorgehensweise des Amtsgerichts im Zusammenwirken mit der Vormünderin erweckt den Eindruck, dass vollendete Verhältnisse geschaffen werden sollten, bevor Gegenmaßnahmen, wie etwa die vom Jugendamt nach Bekanntwerden des angefochtenen Beschlusses beantragte einstweilige Anordnung, realisiert werden konnten. Diesem Zweck diente es offensichtlich auch, U. bereits einen Tag vor dem dem Jugendamt angekündigten Termin aus der Familie zu nehmen.

Ende der Entscheidung

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