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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Köln
Urteil verkündet am 18.01.2006
Aktenzeichen: 5 U 178/04
Rechtsgebiete:


Vorschriften:

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das am 14. Oktober 2004 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Bonn - 9 O 127/03 - wird zurückgewiesen.

Auf die Berufung des Klägers wird das vorgenannte Urteil unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert und - soweit es den Schmerzensgeldanspruch angeht - wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 25.000,- € nebst 5% Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 28. März 2003 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen haben der Kläger zu 25% und die Beklagte zu 75% zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Parteien dürfen die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn die jeweils andere Partei nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Der Kläger wurde nach unproblematischem Schwangerschaftsverlauf am 11. April 1991 um 6:39 Uhr spontan im St. K. Hospital in C. geboren. Am 13. April 1991 wurde er, nachdem er einen Krampfanfall erlitten hatte, notfallmäßig in die L. Kinderklinik B. verlegt, wo er bis zum 3. Mai 1991 verblieb Die wesentlichen Entlassungsdiagnosen lauteten B-Streptokokken-Sepsis und Neugeborenenkrämpfe.

Der Kläger hat behauptet, nach erstmaligem Stillen am 11. April 1991 hätten sich bei ihm Auffälligkeiten gezeigt. Er habe dauernd geschrieen, die Nahrungsaufnahme verweigert, und es habe sich eine deutliche Berührungsempfindlichkeit gezeigt, die sich im Laufe gesteigert habe. Magengrummeln und Schmerzsymptome seien hinzugetreten. Auf all diese Symptome hätten weder die Krankenschwestern noch die Ärzte reagiert, obwohl darin deutliche Anzeichen für eine Sepsis oder eine Meningitis zu sehen seien. Untersuchungen, die zu einem frühzeitigen Erkennen des Krankheitsbildes geführt hätten, seien unterblieben. Ein Kinderarzt sei fehlerhaft nicht hinzugezogen worden. Auch sei es zu erheblichen Dokumentationsmängeln gekommen. Bei sachgerechter ärztlicher Behandlung wäre noch vor dem Abend des 13. April 1991 eine Antibiosetherapie eingeleitet worden. Als Folge der zu spät erkannten und nicht rechtzeitig behandelten Sepsis sei es bei ihm zu einer Hirnschädigung gekommen, die zu einer dauerhaften rechtsseitigen Hemiparese geführt habe; ferner sei seine visumotorische Koordination beeinträchtigt und seine Entwicklung gestört.

Der Kläger hat ein Schmerzensgeld in Höhe von 50.000,- € für angemessen gehalten und beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt werde, nebst Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz sei dem 28. März 2003 zu zahlen;

2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm den infolge der fehlerhaften Behandlung in der Zeit vom 11. bis 13. April 1991 in der Vergangenheit entstandenen und zukünftig noch entstehenden materiellen Schaden zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht aufgrund sachlicher und zeitlicher Kongruenz auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat behauptet, der Kläger habe keine reaktionspflichtige Symptomatik gezeigt, die auf eine Neugeborenensepsis habe schließen lassen. Im übrigen hätte auch eine unmittelbar nach der Geburt eingeleitete Antibiotikabehandlung den Schadenseintritt nicht verhindern können. Sie hat, soweit es deliktische Ansprüche angeht, die Einrede der Verjährung erhoben.

Das Landgericht hat dem Kläger mit Urteil vom 14. Oktober 2004, auf das wegen der tatsächlichen Feststellungen Bezug genommen wird, ein Schmerzensgeld in Höhe von 15.000,- € nebst Zinsen zuerkannt und dem Feststellungsantrag entsprochen. Dagegen richten sich die Berufungen beider Parteien, die ihre erstinstanzlichen Anträge, soweit ihnen nicht stattgegeben worden ist, in vollem Umfang weiterverfolgen.

Die Beklagte rügt, das Landgericht habe seiner Entscheidung zu Unrecht die Behauptungen der Kindesmutter zum Zustand des Klägers in den ersten beiden Lebenstagen zugrunde gelegt. Diese Behauptungen seien bestritten gewesen. Die Kammer habe sich nicht damit begnügen dürfen, insoweit nur die Kindesmutter informatorisch zu hören. Tatsächlich hätten die behaupteten Symptome beim Kläger nicht vorgelegen. Dafür spreche auch, dass selbst nach Aufnahme in die Kinderklinik nicht alle der vom Kläger behaupteten Symptome aufgetreten und dokumentiert worden seien. Im übrigen lägen bei ihr, der Beklagten, keine Dokumentationsmängel vor. Die Trinkmenge sei, wie der Sachverständige ausgeführt habe, nicht zu dokumentieren, auch nicht die Visiten. Routinemaßnahmen seien generell nicht zu dokumentieren. Soweit der Kläger daher Auffälligkeiten behaupte, sei er beweispflichtig.

Rechtsfehlerhaft sei ferner die Feststellung eines groben Behandlungsfehlers. Der Sachverständige habe in seinem schriftlichen Gutachten einen groben Behandlungsfehler ausdrücklich verneint. Auch seine Ausführungen in der mündlichen Verhandlung gäben dazu nichts her; er habe lediglich ausgeführt, es wäre grob fehlerhaft gewesen, wenn man am 13. April 1991 nicht sogleich mit einer Antibiosetherapie begonnen hätte.

Beweiserleichterungen kämen auch nicht unter dem Gesichtspunkt der unterlassenen Befunderhebung in Betracht. Wäre ein Blutbild erhoben worden, hätte dies möglicherweise am 13. April 1991 einen reaktionspflichtigen Befund ergeben. An diesem Tag habe man jedoch tatsächlich bereits die Verlegung des Klägers in die Kinderklinik veranlasst.

Der Kläger erstrebt mit der Berufung die Verurteilung zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes in Höhe von 35.000,- €. Er verweist auf seine körperlichen Defizite, auf möglicherweise eintretende gesundheitliche Verschlechterungen, auch und insbesondere hinsichtlich eines bestehenden Spitzfußes sowie auf die festgestellte Intelligenzminderung, die wahrscheinlich dazu führen werde, dass er keine Beruf erlernen könne, sondern allenfalls eine untergeordnete Hilfstätigkeit in einer beschützenden Umgebung werde ausüben können.

Wegen aller weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen. Der Senat hat gemäß dem Beschluss vom 11. Mai 2005 Beweis erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der Sitzung vom 12. Dezember 2005 (Bl. 414-427 d.A.) verwiesen.

II.

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet, während das Rechtsmittel des Klägers in der Sache zum Teil Erfolg hat.

Nach dem Ergebnis der in zweiter Instanz durchgeführten Beweisaufnahme ist dem ärztlichen bzw. nichtärztlichen Personal der Beklagten ein (einfacher) Behandlungsfehler zur Last zu legen, weil dieses auf Auffälligkeiten, die der Kläger unmittelbar nach seiner Geburt gezeigt hat, nicht rechtzeitig reagiert hat. Der Senat ist aufgrund der Angaben der Zeugen S. und Eheleute P. davon überzeugt, dass der Kläger nach der Geburt dauerhaft geschrieen hat, wobei es sich nicht um ein Wimmern, sondern um ein starkes Schreien gehandelt hat, das sich bei Berührungen verstärkte. Das haben die Zeugen P. und die Zeugin S. glaubhaft bekundet. Die Zeugen P., die Großeltern des Klägers, haben sich in den beiden ersten Tagen nach der Geburt des Klägers mehrfach im Krankenhaus aufgehalten und konnten daher den Kläger, der sich bei seiner Mutter befunden hat, über einen längeren Zeitraum beobachten. Sie haben geschildert, dass der Kläger dauerhaft - allenfalls mit kleineren Unterbrechungen - kräftig geweint hat und nicht trinken wollte. Sie hätten das Gefühl gehabt, dass dem Kläger Berührungen Schmerzen bereiteten. Der Senat hat, mögen auch die Ereignisse zum Zeitpunkt der Vernehmung schon mehr als 14 Jahre zurückliegen, keinen Anlass daran zu zweifeln, dass die Eheleute P. damit ihre damaligen Wahrnehmung zutreffend wiedergegeben hat. Sie decken sich zudem mit den Angaben der Zeugin S., die zur damaligen Zeit das Zimmer mit der Mutter des Klägers geteilt hat und daher als persönlich nicht betroffene Person das Geschehen beobachtet hat. Auch sie hat bekundet, dass der Kläger mehr oder weniger ständig geschrieen hat, wobei es sich nicht um ein normales Schreien, sondern unruhiges und plötzliches Schreien gehandelt habe, so als habe der Kläger Schmerzen. Diese Angaben - mögen sie auch einen subjektiven Eindruck wiedergeben - erscheinen nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die Zeugin als 2-fache Mutter über persönliche Erfahrungen verfügt, glaubhaft. Jedenfalls besteht kein begründetes Anlass, an der Richtigkeit ihrer Schilderung zu zweifeln. Solche Zweifel ergeben sich insbesondere nicht aus den Bekundungen der Zeugen O., Dr. I. und Dr. Y., die an den konkreten Zustand des Klägers in den beiden ersten Tagen nach seiner Geburt keine Erinnerung mehr hatten. Der Umstand, dass insoweit in den Behandlungsunterlagen des Klägers keine Auffälligkeiten notiert sind, ist jedenfalls kein zwingendes Indiz dafür, dass solche nicht gleichwohl entsprechend den übereinstimmenden, glaubhaften Bekundungen der Zeugen P. und S., die auf den Senat auch einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen haben, aufgetreten sind.

Ausgehend davon, dass der Kläger in den beiden ersten Tagen nach der Geburt dauerhaft stark geschrieen hat und berührungsempfindlich war, ist dem Klinikpersonal nach den in jeder Hinsicht nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. S. vorzuwerfen, dass sie weder eigene Untersuchungen zur Abklärung der Symptome (körperliche Untersuchung, Blutbild, Bestimmung von Entzündungsparametern, Ultraschalluntersuchung des Kopfes) vorgenommen noch den Kläger wenigstens unverzüglich in die Kinderklinik verlegt haben. Der Sachverständige hat insoweit klar und eindeutig ausgeführt, dass weitergehende Maßnahmen jedenfalls am Vormittag des 12. April 1991 notwendig gewesen wären, was auch unmittelbar einleuchtet, da der Zustand des Klägers trotz Glukosegabe und Anlegen unverändert war. Nach den weiteren Feststellungen des Sachverständigen hätte man dann noch im Laufe des 12. April 1991 mit über 50%-iger Wahrscheinlichkeit erhöhte Entzündungsparameter festgestellt, woraufhin mit einer Antibiose noch am 12. April 1991 hätte begonnen werden können und auch zwingend hätte begonnen werden müssen.

Der Sachverständige hat indes nicht sicher feststellen können, dass sich eine um mindestens 24 Stunden früher begonnene Antibiose auf den Zustand des Klägers günstig ausgewirkt hätte, wenngleich dies nach seinen Angaben auf keinen Fall ausgeschlossen ist. Diese Unaufklärbarkeit geht zu Lasten der Beklagten. Entgegen der Annahme des Landgerichts kann dem Personal der Beklagten zwar kein grober Behandlungsfehler zur Last gelegt werden; einen solchen hat der Sachverständige Prof. S. weder bei seinen gutachterlichen Äußerungen in erster Instanz noch bei seiner erneuten Befragung durch den Senat angenommen. Darauf kommt es aber auch nicht an, denn Beweiserleichterungen ergeben sich für den Kläger bereits nach den vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätzen zur unterlassenen Befunderhebung. Unterlässt ein Arzt fehlerhaft die Erhebung oder Sicherung medizinisch notwendiger Befunde, hätte ein erhobener Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem aus medizinischer Sicht reaktionspflichtigen Ergebnis geführt und wäre das Unterlassen einer Reaktion nicht anders als durch einen groben Behandlungsfehler zu erklären, sind dem Patienten bei der Frage der Kausalität Beweiserleichterungen zuzubilligen (vgl. BGHZ 138, 1, 4; BGH, VersR 1999, 60, 61; 1999, 457, 458; 1999, 1241, 1243 f.; 1999, 1282, 1283; Geiss/Greiner, aaO, Rdn. B 296). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Der Sachverständige Prof. S. hat insoweit klar festgestellt, dass am Vormittag des 12. April 1991 ein Arzt hinzuzuziehen gewesen wäre, der entsprechende Untersuchungen vorzunehmen und Befunderhebungen zu veranlassen gehabt hätte, bei denen sich mit über 50%-iger Wahrscheinlichkeit Entzündungsparameter gezeigt hätten, die eine sofortige Antibiotika-Behandlung medizinisch notwendig gemacht hätten. Wäre die Antibiose trotz der Entzündungsanzeichen unterblieben, wäre darin ein grober Behandlungsfehler zu sehen. Das hat der Sachverständige Prof. S. auf Befragen des Senats nach Erläuterung des Begriffes des groben Behandlungsfehlers klipp und klar so ausgeführt. Der Senat folgt dessen überzeugenden Feststellungen.

Das Landgericht hat die Beklagte danach zu Recht zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verurteilt und die Feststellung der Pflicht zum Ersatz des materiellen Schadens ausgesprochen. Allerdings wendet der Kläger mit seiner Berufung im Ansatz zutreffend ein, dass das vom Landgericht zuerkannte Schmerzensgeld zu niedrig bemessen ist. Die erstinstanzliche Begutachtung durch Dr. J. sowie durch die Dipl-Psych. A. hat ergeben, dass der Kläger unter einer leichten rechtsseitigen spastischen Hemiparese, die bei Linkshändigkeit gut kompensiert ist, sowie unter einem Spitzfuß rechtsseitig, der noch kompensiert ist, leidet. Ferner besteht beim Kläger eine Lernbehinderung im Grenzbereich zur leichten Intelligenzminderung. Gegen diese überzeugenden Feststellungen hat keine der Parteien substantiierte Einwände erhoben. Die danach beim Kläger bestehenden dauerhaften körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen behindern ihn zwar sicher in einem nicht unerheblichen Maß in seiner Lebensführung. Der Kläger ist indes in der Lage, die körperlichen Beeinträchtigungen gut zu kompensieren und vermag sich auch unter Berücksichtigung der leichten Intelligenzminderung sozial zu integrieren. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass der Spitzfuß möglicherweise künftig einer operativen Behandlung bedarf, sind doch gravierende Verschlechterungen nicht ernsthaft zu befürchten. Auch die Mutmaßung des Klägers, er werde nicht selbst für sein Einkommen sorgen können, erscheinen auf der Grundlage der Feststellungen der Sachverständigen A. nach den derzeitigen Erkenntnissen kaum berechtigt. Der Senat hält auf der Grundlage der Feststellungen der Sachverständigen Dr. J. und A. ein Schmerzensgeld in Höhe von 25.000,- € für angemessen, aber auch ausreichend.

Die Einrede der Verjährung hat die Beklagte in zweiter Instanz nicht wiederholt. Die bloße Bezugnahme auf den Vortrag in erster Instanz reicht, nachdem das Landgericht sich eingehend - und nach Ansicht des Senats im übrigen auch zutreffend - mit der Problematik der Verjährung auseinandergesetzt hat, insoweit nicht aus.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Berufungsstreitwert: 100.000,- € (s. Senatsbeschl. v. 3. Januar 2005)

Ende der Entscheidung

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