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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Köln
Beschluss verkündet am 04.10.2002
Aktenzeichen: HEs 190/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112 a
StPO § 121
StPO § 270
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT KÖLN BESCHLUSS

HEs 190/02

In der Strafsache

pp.

hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Köln im Haftprüfungsverfahren gemäß §§ 121, 122 StPO durch die Richter am Oberlandesgericht Siegert, Heidemann und Conzen

am 4. Oktober 2002

beschlossen:

Tenor:

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Köln (505 Gs 1158/02) vom 3. April 2002 wird aufgehoben.

Gründe:

I.

Der Angeklagte wurde am 2. April 2002 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 3. April 2002 in Untersuchungshaft aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Köln (505 Gs 1158/02) von diesem Tage. In diesem Haftbefehl wird ihm eine Vergewaltigung nach § 177 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 (gemeint Nr. 1) StGB, begangen in den frühen Morgenstunden des 2. April 2002 an seiner früheren Freundin J. C., zur Last gelegt. Der Haftbefehl ist gleichermaßen auf die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Wiederholungsgefahr gestützt.

Die Staatsanwaltschaft hat wegen dieser Tat (in Tateinheit mit Körperverletzung) am 22. Mai 2002 Anklage zu dem Amtsgericht - Schöffengericht - Köln erhoben. Das Amtsgericht Köln (613 Ls 88/02) hat den Angeklagten in einem Haftprüfungstermin am 14. Juni 2002 mündlich angehört und sodann Termin zur Hauptverhandlung auf den 9. August 2002 bestimmt.

In der Hauptverhandlung vom 9. August 2002 hat das Amtsgericht Köln die Sache gemäß § 270 Abs. 1 StPO an das Landgericht Köln verwiesen sowie mit Beschluss vom selben Tage den Haftbefehl vom 3. April 2002 aufrechterhalten. Die Sache ist nunmehr bei der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Köln zu 101-36/02 anhängig. Dort ist neuer Termin zur Hauptverhandlung auf den 28. und 30. Oktober 2002 anberaumt.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat die Akten dem Senat mit dem Antrag vorgelegt, gemäß §§ 121, 122 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus anzuordnen.

II.

Dem Antrag kann nicht entsprochen werden. Zweifelhaft ist schon das Bestehen eines Haftgrundes. Jedenfalls aber liegen die Voraussetzungen für eine die Dauer von sechs Monaten übersteigende Untersuchungshaft nach § 121 Abs. 1 StPO nicht vor.

Allerdings ist der Angeklagte der ihm zur Last gelegten Tat - die er mit dem Verweis auf einen angeblich einvernehmlichen Geschlechtsverkehr bestreitet - aufgrund der in der Anklageschrift vom 22. Mai 2002 im einzelnen aufgeführten Beweismittel dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht ergibt sich insbesondere aus den ausführlichen und in sich stimmig erscheinenden Angaben der Zeugin C. in der polizeilichen Vernehmung vom 2. April 2002.

Schon das Bestehen des in dem Haftbefehl vom 3. April 2002 angenommenen Haftgrundes der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) erscheint jedoch fraglich. Zwar hat der Angeklagte im Falle seiner Verurteilung eine jedenfalls erhebliche Freiheitsstrafe zu erwarten, was jedoch für sich allein den Haftgrund der Fluchtgefahr nicht zu begründen vermag (vgl. Senat StV 97, 642; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., § 112 Rdnr. 24). Auch ist er l.er Staatsangehöriger, der zudem mit dem Widerruf der Strafaussetzung einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe zur Bewährung rechnen muss. Andererseits ist der Angeklagte jedoch schon in Deutschland geboren. Er verfügt über intakte Beziehungen zu seiner in B. lebenden Mutter und war nach dem Abschluss der Handelsschule vor einer Festnahme als Koch-Azubi in einem Restaurant in K. fest angestellt.

Nicht gegeben ist jedenfalls der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112 a Abs. 1 Nr. 1 StPO (der gegenüber einer Fluchtgefahr ohnehin nur subsidiär wäre, in dem Haftbefehl vom 3. April 2002 aber als gleichrangig bestehend angenommen worden ist). Auch auf diesen Haftgrund darf nur geschlossen werden, wenn "bestimmte Tatsachen" die Gefahr begründen, dass der Angeklagte vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen werde. Dies kann nicht einmal aus der Aussage der geschädigten Zeugin C. abgeleitet werden. Nach ihren Bekundungen stellt sich das angeklagte Tatgeschehen als einmaliger Vorgang dar, nachdem die Beziehung schon im Januar 2002 beendet worden war. Entgegen dem Vorführbericht der Kriminalpolizei darf auch nicht bereits "bei einmaliger Begehung eines Sexualdelikts" durch einen erwachsenen Täter wegen Annahme einer "Störung der Persönlichkeit" auf Wiederholungsgefahr geschlossen werden. Dies widerspricht schon dem Gesetzestext des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO, der auch bei den dort aufgeführten Sexualstraftaten nicht etwa generell - wie dies in § 112 Abs. 3 StPO bei Delikten der Schwerkriminalität der Fall ist - von der Vermutung eines Haftgrundes ausgeht. Vielmehr verlangt das Gesetz das zusätzliche Vorliegen der Voraussetzungen des § 112 a Abs. 1 Halbsatz 2 StPO nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalles.

Eine abschließende Auseinandersetzung mit den Haftgründen kann jedoch dahinstehen, weil jedenfalls die Voraussetzungen für eine Anordnung der Haftfortdauer nach § 121 Abs. 1 StPO nicht vorliegen. Die Untersuchungshaft dauert in der vorliegenden Sache, ohne dass ein Urteil ergangen wäre, bereits über sechs Monate an. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO, der dennoch die Fortdauer der Haft rechtfertigen würde, liegt hingegen nicht vor.

Die Sache ist weder von besonderer Schwierigkeit noch war ein besonderer Umfang der Ermittlungen veranlasst; die Staatsanwaltschaft hat zeitnah und sachgerecht bereits am 22. Mai 2002 Anklage erhoben. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO ist aber auch nicht in der am 9. August 2002 durch das Schöffengericht ausgesprochenen Verweisung gemäß § 270 Abs. 1 StPO an das Landgericht Köln zu sehen.

Das Schöffengericht begründet mit Beschluss vom 9. August 2002 die Notwendigkeit einer Verweisung wegen nicht ausreichender Strafgewalt damit, er habe sich "nach Beginn der Hauptverhandlung" herausgestellt, dass der Angeklagte den Tatvorwurf bestreitet und somit die Geschädigte als Zeugin vernommen werden muss. Dies ist nicht richtig. Der Angeklagte hat nicht nur schon bei seiner Festnahme angegeben, er "habe niemanden vergewaltigt". Insbesondere auch in dem Haftprüfungstermin vor dem Schöffengericht am 14. Juni 2002 hat er wiederum behauptet, es sei nicht zu einer Vergewaltigung, sondern zu einem einverständlichen Geschlechtsverkehr gekommen. Es ist dies dieselbe Einlassung, die - auch wenn sie nicht der Wahrheit entsprechen sollte - der Einlassung dann in der Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht am 9. August 2002 entspricht. Dem gemäß hat sich nicht erst in dieser Hauptverhandlung herausgestellt, dass es einer ausführlicheren Beweisaufnahme bedarf. Auch hat sich der Tatvorwurf in der Hauptverhandlung vom 9. August 2002 nicht etwa als schwerwiegender herausgestellt als noch in der Anklage angegeben. Wenn das Schöffengericht seine Strafgewalt nicht für ausreichend erachtet hat, so wäre dies schon nach dem Haftprüfungstermin vom 14. Juni 2002 bis spätestens zu dem Eröffnungsbeschluss vom 21. Juni 2002 zu beachten und eine bereits Aktenvorlage nach § 209 Abs. 2 StPO an das Landgericht erforderlich gewesen. Es hätte dann zeitnah eine verfahrensabschliessende Hauptverhandlung ebenfalls etwa im August 2002 bei dem Landgericht statt nunmehr erst nach knapp zwei weiteren Monaten und nach schon mehr als sechs Monaten andauernder Untersuchungshaft stattfinden können.

Darüber hinaus ist es aber auch nicht sachgerecht gewesen, dass das Schöffengericht in der Hauptverhandlung vom 9. August 2002 gar nicht erst in die Beweisaufnahme eingetreten ist, ehe es die Sache an das Landgericht verwiesen hat. Wegen unzureichender Strafgewalt des Amtsgerichts darf an das Landgericht erst verwiesen werden, wenn die Verhandlung so weit geführt worden ist, dass der Schuldspruch feststeht, und wenn sich die Straferwartung so weit verfestigt hat, dass nicht mehr zu erwarten ist, eine mildere Beurteilung werde noch eine Strafe im Rahmen der Strafgewalt als ausreichend erscheinen lassen (vgl. BGHSt 45, 58, 60; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 270 Rdnr. 10). Die geschädigte Zeugin J. C. war (in Anwesenheit auch von Rechtsanwältin Dr. M. als Nebenklägervertreterin) - wie auch weitere Zeugen - zu der Hauptverhandlung vom 9. August 2002 geladen worden und auch erschienen. Ihre Vernehmung wäre zumindest erforderlich gewesen, ehe im Falle der Schuldspruchreife eine Verweisung nach § 270 Abs. 1 StPO ausgesprochen wurde. Hätte sich hingegen nach dieser Vernehmung der Tatvorwurf nicht bestätigt, so wäre ein Freispruch bereits durch das Schöffengericht veranlasst gewesen, ohne dass es zu einer weiteren Verzögerung durch die Verweisung an das Landgericht gekommen wäre.

Nach alledem hätte eine Abgabe oder Verweisung der Sache an das Landgericht wegen der seit Anklageerhebung unverändert gebliebenen Tatvorwürfe entweder spätestens im Juni 2002 stattfinden müssen oder aber gar nicht erfolgen dürfen. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO wäre nur dann gegeben, wenn sich erst nach erfolgter Beweisaufnahme vor dem Schöffengericht am 9. August 2002 erstmals herausgestellt hätte, dass das Tatgeschehen so schwer wiegt, dass entgegen der - sehr wohl sachgerechten - Anklage zu dem Schöffengericht dessen Strafgewalt nach § 24 Abs. 2 GVG nicht ausreicht und daher eine Verweisung nach § 270 Abs. 1 StPO geboten ist. Ist also vorliegend die Verweisung schon vom Zeitablauf her zu beanstanden, kommt es auch nicht mehr darauf an, ob die Annahme des Schöffengerichts zur Straferwartung ansonsten - auch nach Berücksichtigung der Alkoholisierung des Angeklagten - sachgerecht war.

Es kann somit auch nicht mehr darauf ankommen, dass das Landgericht Köln seinerseits in einem zeitlich sehr wohl vertretbaren Rahmen Hauptverhandlung auf den 28. und 30. Oktober 2002 - und damit noch relativ zeitnah nach dem Eingang der Akten bei ihm, immerhin aber eben doch erst knapp zwei Monate nach dem Hauptverhandlungstermin vor dem Schöffengericht - bestimmt hat. Das den nicht verurteilten Beschuldigten schützende Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG erlaubt den Eingriff in die persönliche Freiheit einer Person durch die Verhängung von Untersuchungshaft nur so lange, wie es zur Durchführung des Strafverfahrens unumgänglich ist. Ein Haftbefehl muss nach sechsmonatiger Dauer der Untersuchungshaft aufgehoben werden, wenn eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten nicht zeitnah unter Beachtung des besonderen Beschleunigungsgrundsatzes herbeigeführt worden ist. Dies gilt auch dann, wenn ein Beschuldigter schwerer Straftaten dringend verdächtig ist (vgl. BVerfG, NStZ 91, 397; BGH NStZ 91, 546; dem folgend auch die ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Senat StV 92, 524). Dabei ist insbesondere auch zu beachten, dass die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO als Ausnahmeregelung grundsätzlich eng auszulegen ist (BVerfG StV 92, 123; BGH NStZ 91, 546, 547; OLG Düsseldorf NJW 96, 2587); entsprechend streng müssen auch die Anforderungen an eine Verweisung an ein anderes Gericht bei der Beurteilung eines wichtigen Grundes sein.

Ende der Entscheidung

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