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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Urteil verkündet am 01.06.2006
Aktenzeichen: 1 U 2388/02
Rechtsgebiete: SGB V, BGB, ZPO, SGB I, VwVfG


Vorschriften:

SGB V § 5 Abs. 5
SGB V § 6 Abs. 3 a
BGB § 254
BGB § 254 Abs. 1
BGB § 839
BGB § 839 Abs. 1 S. 2
BGB § 839 Abs. 3
ZPO § 148
SGB I § 14
SGB I § 15
VwVfG § 25
Eine gesetzliche Krankenkasse verstößt gegen ihre sozialrechtliche Beratungspflicht, wenn sie bei einem konkreten Ersuchen um Aufnahme auf eine bevorstehende Gesetzesänderung, die den Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung erschwert, nicht hinweist. Dies gilt auch dann, wenn Personen wie der Antragsteller durch die Gesetzesänderung vom Wechsel in die gesetzliche Krankenversicherung in Zukunft gerade ausgeschlossen werden sollen.
OBERLANDESGERICHT MÜNCHEN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Aktenzeichen: 1 U 2388/02

Verkündet am 01.06.2006

In dem Rechtsstreit

wegen Forderung

erlässt der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Vavra und die Richter am Oberlandesgericht Nagorsen und Ramm aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18.05.2006 folgendes

Endurteil:

Tenor:

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 20.12.2001, Az.: 4 O 16325/01, wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Das Urteil ist für den Kläger sofort vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, falls der Kläger nicht zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger fordert nach Amtshaftungsgrundsätzen die Feststellung, die Beklagte habe ihm die Schäden zu ersetzen, die ihm daraus entstünden, dass er nicht bei ihr krankenversichert sei.

Der am 15.11.1933 geborene Kläger war von 1986 bis 1998 selbständig tätig und privat krankenversichert.

Er war Alleingesellschafter und Geschäftsführer der Firma K. GmbH, der ein Theaterzelt in München gehörte. Am 30.04.1998 verkaufte der Kläger die Gesellschaft an Herrn P. Am gleichen Tag schloss der Kläger mit der GmbH einen "Beratervertrag".

Gemäß einem auf den 21.08.1998 datierten Anstellungsvertrag stellte P. den Kläger ab 01.05.1998 als technischen Berater ein. Gemäß Ziffer 1. des Vertrages sollte seine Aufgabe "in erster Linie die Betreuung und Überwachung der vom Arbeitgeber derzeit durchgeführten Umbaumaßnahmen an dem im Eigentum des Arbeitnehmers stehenden K.theater auf dem Ra. Platz in M." sein.

Im Juli 1998 erhielt der Kläger von der Zweigstelle der Beklagten am O.stadion in M. die Auskunft, er sei bei ihr versichert. Die Frage des Beitragseinzugs sei nicht seine Sache.

Am 20.05.1998 meldete P. den Kläger bei der Beklagten rückwirkend zum 01.05.1998 an.

In seinem Rentenantrag vom 02.09.1998 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner.

Mit Schreiben vom 28.09.1998 (Anlage B 1) teilte die Beklagte dem Kläger mit, bei ihm lägen die Voraussetzungen für eine Krankenversicherung als Rentenantragsteller beziehungsweise Rentenbezieher nicht vor. Das derzeit bestehende Versicherungsverhältnis werde davon jedoch nicht berührt. Sollte diese Versicherung enden, könne er unter gewissen Voraussetzungen der AOK freiwillig beitreten. Der Antrag müsse innerhalb von drei Monaten nach Beendigung der Versicherung gestellt werden. Unter der Rufnummer 089/5444-2607 könne er telefonisch nähere Auskünfte einholen. Dies tat der Kläger nicht.

Am 01.10.1998 kündigte P. im Namen der GmbH dem Kläger, der die Beklagte darüber nicht informierte, "fristlos".

Mit Schreiben vom 06.11.1998 (Anlage zum klägerischen Schriftsatz vom 20.06.2002 Bl. 105/112 d. A.) teilte "Die K. am R.platz" der Beklagten mit, man habe den Arbeits- und Pachtvertrag mit dem Kläger wegen arglistiger Täuschung angefochten. Die Umbauarbeiten habe der Kläger als Geschäftsführer der Firma "K. GmbH" durchführen lassen.

Dem Kläger wurde dieses Schreiben erst durch Akteneinsicht am 01.02.2001 bekannt.

Am 01.12.1998 erreichte der Kläger das Renteneintrittsalter von 65 Jahren.

Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erstellte am 11.03.1999 eine "Mitteilung über eine vorläufige Leistung" (Anlage zum klägerischen Schriftsatz vom 20.06.2002 Bl. 105/112 d. A.), in der der Kläger darüber unterrichtet wurde, dass er gemäß seinem Antrag vom 02.09.1998 ab 01.12.1998 Regelaltersrente erhalte. Abgezogen werde ein Beitragsanteil zur Krankenversicherung von 96,91 DM und zur Pflegeversicherung von 12,02 DM. In einer Mitteilung vom 10.09.1999 (Anlage a. a. O.) war von Abzügen von 99,98 DM beziehungsweise 12,40 DM die Rede.

Der Kläger erhielt seine Rente unter Berücksichtigung der Abzüge ausgezahlt.

Die ihm 1998 ausgehändigte Versichertenkarte forderte die Beklagte nicht zurück.

Am 15.07.1999 schloss der Kläger im Verfahren 28 O 20095/98 des Landgerichts München I einen Vergleich mit P., gemäß dem letzterer dem Kläger den unmittelbaren Besitz am K.theater übertrug. Die vom Kläger beim Arbeitsgericht erhobene Kündigungsschutzklage wurde durch den Vergleich mit erledigt, ohne dass eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Kündigung erfolgte.

Am 22.12.1999 (BGBl. I S. 2626) wurde das "Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000" verabschiedet, wodurch zum 01.07.2000 folgender neu eingefügter § 6 Abs. 3 a SGB V in Kraft trat:

"Personen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres versicherungspflichtig werden, sind versicherungsfrei, wenn sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Versicherungspflicht nicht gesetzlich versichert waren. Weitere Voraussetzung ist, dass diese Personen mindestens die Hälfte dieser Zeit versicherungsfrei, von der Versicherungspflicht befreit oder noch nicht versicherungspflichtig waren. Der Voraussetzung nach Satz 2 stehen die Ehe oder die Lebenspartnerschaft mit einer in Satz 2 genannten Person gleich."

Die Beklagte wies den Kläger nicht auf die Gesetzesänderung hin. Für den Kläger bedeutete sie, dass er bei der Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung nach dem 01.07.2000 nicht mehr pflichtversichert war und keine Möglichkeit mehr hatte, nach einjähriger Pflichtversicherungszeit als freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung zu bleiben.

Am 01.01.2000 nahm der Kläger eine selbständige Tätigkeit auf.

Am 07.01.2000 teilte ein Mitarbeiter der Beklagten dem Kläger telefonisch mit, dass er nicht krankenversichert sei. Seine Rentenbescheide seien insofern falsch.

Mit Schreiben vom 11.01.2000 (Anlage K 2) an die Beklagte schilderte der Kläger aus seiner Sicht die bisherige Entwicklung. Wörtlich führte er gegen Ende seines Briefes aus: "Für mich ist nun eine äußerst schwierige Situation entstanden, nämlich dass ich mich von einem Tag zum anderen in einem versicherungslosen Zustand befinde. Wenn es aus der Sicht der AOK nicht möglich ist, mein Versicherungsverhältnis weiterzuführen, so bitte ich, mich als Altersrentner in der freiwilligen Versicherung aufzunehmen. Es liegt doch auf der Hand, dass alle diese "Irrtümer" nicht von mir verschuldet sind."

Mit Bescheid vom 14.01.2000 (Anlage B 3) teilte die Beklagte dem Kläger mit, er sei laut Erklärung des Unternehmens für das "Theaterzelt, Inhaber P." selbständig tätig gewesen. Seine Anmeldung zum 01.05.1998 sei daher zu Recht storniert worden.

Am 17.01.2000 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 14.01.2000 Widerspruch ein. In seinem Brief (Anlage K 3) führte der Kläger aus, wenn er die Anwartschaft für eine Fortführung des Versicherungsverhältnisses nicht erreicht haben sollte, so habe er in jedem Fall das Anrecht, in die freiwillige Versicherung aufgenommen zu werden.

In einem Schreiben vom 06.04.2000 (Anlage K 4), das sich mit dem Vertragsverhältnis zu P. beschäftigte, wiederholte der Kläger seine Bitte, ihn als freiwillig Versicherten in der AOK zu belassen. Eine andere Entscheidung sei eine unbillige Härte gegenüber seiner Person, da er als Rentner keine Möglichkeit habe, in eine Krankenversicherung zu kommen.

Am 24.11.2000 setzte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte die auszuzahlende Rente neu fest und ordnete eine Nachzahlung der seit dem 01.12.1998 einbehaltenen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge an (Anlage K 6).

Am 13.12.2000 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück (Anlage B 2).

Am 01.01.2001 stellte die Berger-BKA Luftschloss KG den Kläger als technischen Leiter ein (Arbeitsvertrag Anlage K 7).

Der Kläger führte vor dem Sozialgericht R. unter den Aktenzeichen S4 KR 108/01, S4 KR 1570/01 und S4 KR 2083/01 drei Verfahren gegen die Beklagte. Diese waren auf die Feststellung, dass der Kläger zwischen dem 01.05. und dem 30.11.1998 versicherungspflichtig in der Kranken- und Pflegeversicherung beschäftigt gewesen und die Beklagte verpflichtet sei, ihn als pflichtversichertes, hilfsweise freiwilliges Mitglied in der Kranken- und Pflegeversicherung zu führen, gerichtet. Am 04.08.2005 wies das Sozialgericht R. die verbundene Klage rechtskräftig ab.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte hafte ihm gegenüber wegen fehlerhafter Sachbehandlung, insbesondere wegen unterlassener Aufklärung aus Amtshaftung, da er im Falle ordnungsgemäßen Verhaltens der Beklagten noch vor Inkrafttreten des § 6 Abs. 3 a SGB V eine versicherungspflichtige Tätigkeit ergriffen hätte, mit der Folge, dass er sich nach Ablauf eines Jahres freiwillig weiterversichern hätte können.

Der Kläger hat beantragt:

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle Nachteile zu ersetzen, die daraus entstehen, dass er ab 01.01.2001 keine Leistungen aus der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner als Pflichtversicherter, hilfsweise als freiwillig Versicherter erhält.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, der Kläger habe es versäumt, sich ausreichend um seine Versicherungsangelegenheiten zu kümmern. Er habe somit seinen Zustand der Versicherungsfreiheit zumindest mitverschuldet. Eine Aufklärungspflicht habe nicht bestanden, da der Kläger zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 6 Abs. 3 a SGB V eine einjährige Vorversicherungszeit hätte nachweisen müssen, so dass keine Aufklärung über das am 22.12.1999 verabschiedete Gesetz vor dem 30.06.2000 hätte erfolgen müssen.

Das Landgericht hat der Klage mit Endurteil vom 08.11.2001 teilweise stattgegeben. Es hat festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle Nachteile zu ersetzen, die daraus entstehen, dass er ab 01.03.2001 keine Leistungen aus der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner als freiwillig Versicherter erhält. Hinsichtlich der Entscheidungsgründe nimmt der Senat auf das Urteil Bezug.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Beklagte ihr Begehren einer völligen Klageabweisung weiter.

Die Beklagte bringt vor, sie sei nicht verpflichtet gewesen, den Kläger auf die durch Gesetz vom 22.12.1999 erfolgte Einführung einer Altersgrenze in § 6 Abs. 3 a) SGB V hinzuweisen. Die fehlende Reaktion des Klägers auf das Schreiben vom 28.09.1998 zeige, dass er sich um eine Aufnahme in die freiwillige Versicherung nicht bemüht habe.

Da der Vertrag über den Verkauf seiner GmbH im Vergleich von 1999 rückgängig gemacht worden sei, sei er als deren Geschäftsführer versicherungsfrei gewesen. Damit wäre ein Hinweis auf die Einführung der Altersgrenze hinfällig gewesen.

Der Kläger habe in Kenntnis der Tatsache, dass er zu keinem Zeitpunkt ein die Versicherungspflicht begründendes Arbeitsverhältnis eingegangen sei, Anfang 2000 eine selbständige Tätigkeit aufgenommen. Der Hinweis an ihn, er müsse ein Arbeitsverhältnis begründen, um versicherungspflichtig zu werden, wäre überflüssig gewesen. Dies gelte in gleichem Maße für einen Hinweis auf die Altersgrenze.

Nach dem Grundsatz der formellen Publizität der Gesetze gelte allen Normadressaten ein Gesetz mit der Verkündung im Bundesgesetzblatt als bekannt.

Eine Beratungspflicht bestehe nur dort, wo ein Beratungsbedürfnis bestehe. Das gesamte Verhalten des Klägers vor und nach dem 01.01.2000 zeige, dass er einer Beratung nicht bedurft habe.

Das Landgericht hätte nicht unterstellen dürfen, dass der Kläger sich beratungsgemäß verhalten hätte, da dieser der Auffassung gewesen sei, der Bescheid vom 14.01.2000 sei unrichtig. Eine abhängige Beschäftigung habe er zeitnah nicht aufgenommen, obwohl sich dies wegen seines Alters und der Möglichkeit, dass der Standpunkt der Beklagten richtig war, geradezu aufgedrängt habe.

Ein Anspruch scheide zudem nach § 254 BGB aus, denn der Kläger habe es nach Erhalt des Schreibens vom 14.01.2000 versäumt, weitere Auskünfte zu erholen.

Das Landgericht hätte das Verfahren in Hinsicht auf den Rechtsstreit S4 KR 2083/01 beim Sozialgericht R. gemäß § 148 ZPO aussetzen müssen, da der Kläger in diesem Falle im Wege des sozialgerichtlichen Herstellungsanspruches im Wesentlichen die gleiche Rechtsfolge wie im vorliegenden Verfahren begehre. Aus § 839 Abs. 3 BGB ergebe sich der Vorrang der Fachgerichte.

Die Beklagte beantragt:

I. Das Urteil des LG München I vom 20.12.2001, Az.: 4 O 16325/01, wird aufgehoben.

II. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Berufung.

Seiner Auffassung nach hat das Sozialgericht R. zu Unrecht das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses mit P. verneint.

Die Beklagte habe pflichtwidrig bei P. die Versicherungsbeiträge nicht eingezogen.

Hätte die Beklagte sich früher um den Einzug der Beiträge gekümmert, hätte P. keine vorgeschobenen Gründe wie im Schreiben vom 06.11.1998 zur Rechtfertigung vorgebracht. Er, der Kläger, hätte in diesem Fall schon im Sommer/Herbst 1998 ein neues Arbeitsverhältnis begründet. Er sei seit 1997, spätestens ab März 1998 von der Firma B. KG beziehungsweise der Firma Bay. KG bedrängt worden, dort als technischer Leiter tätig zu werden. Es sei pflichtwidrig, dass ihn die Beklagte nicht über den Inhalt des Schreibens vom 06.11.1998 informiert habe.

Sein Beratungsbedarf habe sich der Beklagten geradezu aufdrängen müssen.

Die Berufung der Beklagten auf das Schreiben vom 28.09.1998 sei rechtsmissbräuchlich, da die Krankenversicherungsbeiträge nach Rentenbeginn zwanzig Monate lang eingezogen worden seien. Er, der Kläger, habe aufgrund dieses Verhaltens davon ausgehen können, als Rentner krankenversichert zu sein. Die Beklagte hätte ihn darauf hinweisen müssen, dass das nicht der Fall war. Er hätte dann spätestens zum 01.04.1999 eine abhängige Beschäftigung aufgenommen.

Bei der K. GmbH habe es sich um einen bloßen Mantel ohne Geschäftsfeld und Einnahmen gehandelt. Einer Auflösung habe entgegengestanden, dass die GmbH noch offene Forderungen gehabt habe. Er habe pro Woche höchstens eine Stunde für die GmbH gearbeitet. Versicherungsfreiheit nach § 5 Abs. 5 SGB V habe auch nach Rückübertragung der GmbH nicht bestanden.

Anfang des Jahres 2000 habe er darauf vertrauen dürfen, die Krankenversicherungsfrage zu seinen Gunsten zu klären.

Wäre er im Januar 2000 auf die Gesetzesänderung aufmerksam gemacht worden, hätte er ein abhängiges Arbeitsverhältnis aufgenommen. Er hätte eine Arbeitsmöglichkeit gehabt, wie sich aus der Bestätigung der Firma B. KG vom 08.12.2000 ergebe. Ab September 1999 hätte er als Angestellter für Herrn Dr. Bay., den Erwerber des K.zelts arbeiten können. Auch der Großzeltverleiher Sch. und der Werkstattinhaber Kr. hätten ihn eingestellt, wenn er darum gebeten hätte.

Ein Mitverschulden sei ihm nicht anzulasten.

Die Entscheidung BSGE 55, 257 sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Zum einen gehe es nicht um den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, zum anderen nicht um abwegige Gestaltungsmöglichkeiten. Die Verwaltung der Sozialversicherungsträger habe alles zu unterlassen, was den Zugang der Bürger zur Sozialversicherung vereitle. Es sei nicht Aufgabe der Beklagten, Entscheidungen des Gesetzgebers vorweg zu nehmen. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 GG sei zu beachten. Das Unterlassen eines Hinweises könne nicht damit gerechtfertigt werden, die Kranken- und Pflegeversicherung zu entlasten. In der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 03.05.2005 (richtig 03.03.2005) in der Sache Az.: III ZR 186/04 sei eine Verpflichtung der Baubehörde bejaht worden, den Inhaber einer Baugenehmigung auf eine drohende Veränderungssperre hinzuweisen.

Das Sozialgericht R. habe die Frage einer Verletzung einer Beratungspflicht offen gelassen, da es für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch darauf nicht ankomme

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren nimmt der Senat Bezug auf die Schriftsätze der Beklagten vom 17.05.2002 (Bl. 93/101 d. A.) und vom 09.02.2006 (Bl. 143/144 d. A.) sowie des Klägers vom 20.06.2002 (Bl. 105/112 d. A.), vom 12.07.2002 (Bl. 117/119 d. A.), vom 02.11.2005 (Bl. 132/138 d. A.) und vom 05.04.2006 (Bl. 151/155 d. A.)

Das Verfahren hat auf Antrag der Parteien zwischen dem 14.08.2001 und dem 15.11.2005 geruht.

Der Senat hat Beweis erhoben durch die Vernehmung der Zeugen Sylvia P., Uwe Berger, Johann Kr. und Johannes Sch. im Termin vom 16.05.2006 (Sitzungsniederschrift Bl. 165/170 d. A.).

Entscheidungsgründe:

Das Landgericht hat eine Amtspflichtverletzung der Beklagten im Zusammenhang mit der Beratung des Klägers im ersten Halbjahr 2000 und damit einen Anspruch des Klägers gemäß § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG zu Recht bejaht. Die Beklagte hätte den Kläger auf die Möglichkeit, durch Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung vor dem 01.07.2000 sich nach Ablauf eines Jahres freiwillig versichern zu können, hinweisen müssen. Der Senat glaubt dem Kläger aufgrund der Beweisaufnahme, dass er trotz seines Alters von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und Arbeit gefunden hätte.

1. Eine Bindung des Senats an die Entscheidung des Sozialgerichts R. vom 04.08.2005 besteht nicht.

Zum einen hat der Bundesgerichtshof mehrmals entschieden, dass Sozialgerichtsurteile über den sozialrechtlichem Herstellungsanspruch im Verfahren über § 839 BGB nicht binden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshof schließt eine Klageabweisung durch das Sozialgericht einen Amtshaftungsanspruch nicht aus, da die Pflichtwidrigkeit des Handelns beim Herstellungsanspruch nur eine Vorfrage darstellt (z. B. BGHZ 103, 242. 245; BGH NVwZ 1997, 1243).

Außerdem hat das Sozialgericht R. die Frage, ob die Beklagte Beratungspflichten verletzt hat, im Rahmen seiner Prüfung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ausdrücklich offen gelassen (vgl. S. 12/13 des Urteils vom 04.08.2005).

2. Die Beklagte hat gegenüber dem Kläger nach dem 07.01.2000 ihre sozialrechtliche Beratungspflicht nach § 14 SGB I Allgemeiner Teil verletzt. Dagegen treffen die übrigen vom Kläger erhobenen Vorwürfe nicht zu beziehungsweise sind zumindest für den eingetretenen Zustand nicht kausal.

a) Im Unterlassen des behaupteten zügigen Beitragseinzugs bei P. ist keine Amtspflichtverletzung gegenüber dem Kläger zu sehen. Anders als bei der privaten Krankenversicherung (oder der freiwilligen Weiterversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung) hängt der Krankenversicherungsschutz pflichtversicherter Arbeitnehmer nicht von der pünktlichen Abführung der Beiträge durch den Arbeitgeber ab. Die Sozialversicherung muss ihre Versicherten daher nicht über Zahlungsschwierigkeiten ihrer Arbeitgeber informieren.

b) Die unterlassene Information des Klägers über das Schreiben vom 06.11.1998 hat ebenfalls keine haftungsrechtlichen Folgen. Der Kläger wusste aus der Kündigung durch P., dass jedenfalls für die Zukunft keine Sozialversicherungsbeiträge gezahlt würden und war zudem im Schreiben vom 28.09.1998 über die Rechtslage aufgeklärt worden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 16.06.1994 - 13 RJ 25/93) begründet außerdem die Abmeldung des Arbeitnehmers bei der Krankenkasse (Einzugsstelle) durch seinen Arbeitgeber grundsätzlich keine Beratungspflicht.

c) Ob die späte Reaktion der Beklagten auf die Abführung der Beiträge durch die Rentenversicherung eine Amtspflichtverletzung gegenüber dem Kläger darstellt, lässt der Senat offen. Selbst für einen Außenstehenden, der mit der Schwerfälligkeit behördlicher Abläufe vertraut ist, erscheint angesichts der Möglichkeit eines automatisierten Datenabgleichs befremdlich, dass die Beklagte erst nach knapp einem Jahr reagiert hat. Ohne eine Klärung der internen Abläufe bei den Sozialversicherungsträgern lässt sich jedoch nicht sagen, ob eine derartige Verzögerung schuldhaft, aufgrund des Charakters des betriebenen Massengeschäfts unvermeidbar oder möglicherweise von der Rentenversicherung zu verantworten ist.

Ein zeitgleicher Schaden ist dem Kläger dadurch jedenfalls nicht entstanden, da er seine Versicherungskarte in diesem Zeitraum benützt und die Beklagte bei ihm für erbrachte Leistungen keinen Regress genommen hat.

Für die spätere Entwicklung ist die verzögerte Reaktion, wie das Landgericht zu Recht ausgeführt hat, nicht kausal. Ab dem 07.01.2000 wusste der Kläger, dass die Beklagte das Bestehen der Krankenversicherung für Rentner verneinte. Zu diesem Zeitpunkt war die Gesetzesänderung noch nicht in Kraft getreten.

d) Die vom Kläger vorgelegte Korrespondenz belegt, dass die Beklagte ihre Beratungspflicht ab dem 11.01.2000 verletzt hat.

Unstreitig bestand die einzige Möglichkeit des Klägers, Krankenversicherungsschutz bei der Beklagten für das Alter zu erlangen, Anfang 2000 darin, eine abhängige Beschäftigung aufzunehmen, damit er sich nach Ablauf eines Jahres freiwillig versichern konnte. Der Senat nimmt wegen der rechtlichen Einzelheiten auf die Entscheidungsgründe des Urteils des Landgerichts München I vom 20.12.2001 S. 11 ff Bezug.

Der Beratungsanspruch nach § 14 SGB I Allgemeiner Teil ist umfassend (Wannagat/Rüfner, SGB, § 14 Allgemeiner Teil Rn. 1; Giese SGB § 14 Allgemeiner Teil Rn. 4.5); er geht über § 25 VwVfG hinaus. Hinzu kommt der Auskunftsanspruch nach § 15 SGB I. Es besteht aus dem Sozialrechtsverhältnis zudem die über § 14 Allgemeiner Teil hinausgehende Verpflichtung, den Bürger vor Schaden zu bewahren (Wannagat SGB Allgemeiner Teil 14 Rn. 10). Zum Beratungsanspruch gehören auch bevorstehende Änderungen der Rechtslage (Giese § 14 Allgemeiner Teil Rn. 4.7).

Eine Mitgliedschaft setzt der Beratungsanspruch nicht voraus (Wannagat a. a. O. Randnr.4, Kasseler Kommentar Seewald, § 14 Allgemeiner Teil Rn. 5). Der Bürger muss so beraten werden, dass er auf bezahlten Rechtsrat verzichten kann. Ein kompetenter Rechtsanwalt hätte dem Kläger als sichersten Weg die Suche nach einer abhängigen Beschäftigung empfohlen, statt sich allein auf die ungewisse sozialgerichtliche Auseinandersetzung über die Wertung der Tätigkeit für P., die bis zur Kündigung nur ungefähr ein halbes Jahr gedauert hatte, einzulassen.

Eine Pflichtverletzung der Beklagten wäre allerdings zu verneinen, wenn der Kläger die entsprechende Beratung nicht nachgefragt (aa), wenn er sie durch das Schreiben vom 28.09.1998 schon erhalten (bb) oder der Zweck der Gesetzesänderung zum 01.07.2000 der Beratung entgegengestanden hätte (cc). Dies ist jedoch nicht der Fall.

aa) Die Mitarbeiter der Beklagten hätten den konkreten Beratungsbedarf des Klägers erkennen müssen und einfach befriedigen können.

Es besteht keine Pflicht des Leistungsträgers, von sich aus Beratung anzubieten, da dies administrativ nicht zu bewältigen wäre (Wannagat a. a. O). Die Beratungspflicht entsteht in der Regel. erst mit Initiative des Ratsuchenden (BSGE 42, 224, 227).

Diese Voraussetzung ist erfüllt.

Dass der Kläger die Initiative ergriffen hat, belegen seine Schreiben an die Beklagte vom 11.01.2000, 17.01.2000 und 06.04.2000 (Anlagen K 2 - K 4). Er äußerte ausdrücklich den Wunsch, sich freiwillig zu versichern, falls er nicht Mitglied als Rentner sein könne. Seine Schreiben, in denen er auf seine Notlage hinwies, haben geradezu Appellcharakter. Eine sachdienliche Antwort der Beklagten ist nicht ersichtlich. Darauf, dass eine freiwillige Versicherung damals wegen fehlender Wartezeiten nicht möglich war, kann sie sich nicht berufen. Dem Kläger ging es offenkundig darum, als freiwilliges Mitglied aufgenommen zu werden. Eine Möglichkeit hierzu bestand durch Ableistung der Wartezeit als abhängig Beschäftigter. Ob der Kläger von dieser Möglichkeit Gebrauch machen wollte, konnte er nur nach der sozialrechtlichen Beratung entscheiden. Dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt nicht sofort freiwilliges Mitglied werden konnte, schloss den Beratungsbedarf nicht aus, sondern begründete ihn gerade.

Dies wird durch die höchstrichterliche Rechtsprechung bestätigt, nach der schon ein weit undeutlicheres Begehren des Klägers eine Beratung über seine Möglichkeiten erforderlich gemacht hätte. Der Senat verweist auf folgendes wörtliches Zitat aus BGH NVwZ 1997, 1243:

"Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die bereits für die Rechtslage vor Inkrafttreten des § 14 SGB I Anwendung gefunden hat, ist eine umfassende Beratung des Versicherten die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, d.h. die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt. Eine Leistungsgewährung darf nicht deshalb unterbleiben, weil der einzelne nicht über die ihn begünstigenden Bestimmungen Bescheid weiß. Die Beratungspflicht ist deshalb nicht auf Normen beschränkt, die der betreffende Sozialversicherungsträger, hier die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte als die für die gesetzliche Rentenversicherung zuständige Körperschaft, anzuwenden hat. Die Kompliziertheit des Sozialrechts liegt gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen versicherten Risiken (z.B. den Risiken der Renten- und der Krankenversicherung) sowie in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen (BSGE 61, 175, 176 f; BSG SozR 1200 § 14 Nr. 13 und Nr. 16; Grüner/Dalichau, SGB I, § 14 Anm. I; Krauskopf/Baier, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung, 3. Aufl., § 14 SGB I Rn. 4).

Daher kann sich der Leistungsträger nicht auf die Beantwortung konkreter Fragen oder abgegrenzter Bitten beschränken, sondern muss sich bemühen, das konkrete Anliegen des Ratsuchenden zu ermitteln und - unter dem Gesichtspunkt einer verständnisvollen Förderung - zu prüfen, ob über die konkrete Fragestellung hinaus Anlass besteht, auf Gestaltungsmöglichkeiten, Vor- oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit dem Anliegen verbinden. Den Anspruch auf Beratung hat jeder bezüglich solcher sozialrechtlicher Rechte und Pflichten, die ihm in seiner Person jetzt oder künftig zustehen bzw. obliegen können (Krauskopf/Baier, aaO, § 14 SGB I Rn. 2)."

Zumindest ebenso weit geht die neuere Rechtsprechung der Landessozialgerichte. Danach haben Sozialversicherungsträger sogar trotz Nichtvorliegens eines Beratungsbegehrens spontan auf klar zu Tage liegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die sich offensichtlich als zweckmäßig aufdrängen und die von jedem verständigen Versicherten mutmaßlich genutzt werden (LSG Thüringen, Urteil vom 21.02.2005 - L 6 KR 665/03; LSG Saarland, Urteil vom 18.02.2004 - L 2 KR 27/02 und LSG NRW, Urteil vom 17.11.1998 - L 5 KR 44/97; alle drei Entscheidungen aus Juris zur Hinweispflicht auf einen Beitritt zur freiwilligen Versicherung).

In einem kurzen Brief oder Telefonat hätte die Beklagte darauf hinweisen können, dass die Voraussetzungen einer freiwilligen Versicherung nicht vorlagen, ein Beitritt als freiwilliges Mitglied aber nach Ablauf eines Jahres als abhängig Beschäftigter noch möglich wäre, wenn die Beschäftigung vor dem 01.07.2000 aufgenommen würde.

bb) Durch das Schreiben vom 29.08.1998 (Anlage B 1) hat die Beklagte ihre Beratungsverpflichtung nicht erfüllt. Aus den Schreiben des Klägers vom 11.01., 17.01. und 06.04.2000 konnten die Mitarbeiter des Beklagten ersehen, dass dem Kläger hinsichtlich der Frage der freiwilligen Versicherung das Problembewusstsein fehlte. Erst recht konnten sie nicht unterstellen, dass dem Kläger die Gesetzesänderung zum 01.07.2000 bekannt war, auf die im Schreiben vom 29.08.1998 (naturgemäß) noch nicht eingegangen werden konnte.

cc) Der Zweck der Gesetzesänderung entband die Beklagte nicht von ihrer Beratungsverpflichtung.

(1) Die Gesetzesänderung wollte allerdings Personen wie dem Kläger im Alter von 66 Jahren den Eintritt in die gesetzliche Krankenversicherung unmöglich machen.

Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten diejenigen, die über die längste Zeit ihres Berufslebens keine Sozialversicherungsbeiträge geleistet haben, nicht mehr die Möglichkeit haben, in dem Alter, in dem erfahrungsgemäß die Krankheitskosten stark ansteigen und der Verdienst - nach dem sich der Beitrag bemisst - sinkt, Mitglied der Sozialversicherung zu werden. Deren Behandlungskosten müssen nämlich durch die anderen Beitragszahler nach dem System der gesetzlichen Krankenversicherung mitfinanziert werden, was nicht nur unbillig erscheint, sondern auch die Lohnnebenkosten erhöht. Es erscheint daher wünschenswert, dass dieser Personenkreis, soweit er leistungsfähig ist, in der privaten Krankenversicherung bleibt beziehungsweise eine entsprechende Versicherung abschließt. Im Übrigen muss die Sozialhilfe, die durch alle Steuerzahler und nicht nur durch die sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer finanziert wird, eingreifen.

(2) Die Möglichkeit, im Alter in die gesetzliche Krankenversicherung zu wechseln, wurde vor der Gesetzesänderung vielfach genutzt. Ein Rechtsmissbrauch lag darin nicht und hätte auch im Fall des Klägers nicht vorgelegen. Die Verteilung der Lasten zwischen Sozialversicherungsträgern, Staat und der Eigenverantwortung des Bürgers befindet sich in ständiger Diskussion und erfährt laufend gesetzliche Änderungen. Diese Korrekturen bedeuten nicht, dass die mit ihnen unterbundenen Gestaltungsmöglichkeiten vorher gesetzeswidrig oder auch nur moralisch verwerflich gewesen sind. Das gilt auch für den Zeitraum zwischen der Verkündung und dem Inkrafttreten eines Gesetzes. "Vorzieheffekte" sind in diesem Fall im Steuer- und Sozialrecht etwas Alltägliches.

(3) Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts muss der Sozialversicherungsträger über den Fall des Rechtmissbrauchs hinaus die Versicherten allerdings nicht darüber belehren, dass sie den mit der Änderung verbundenen Nachteilen durch ein Handeln in der Zeit zwischen Verkündung und Inkrafttreten der Gesetzesänderung ausweichen können, falls der Gesetzgeber eine Vorschrift ändert, weil er sie für unbefriedigend hält (Leitsatz von BSGE 55, 257).

Eine genaue Analyse der Entscheidung des Bundessozialgerichts zeigt indes, dass sie den vorliegenden Sachverhalt nicht erfasst, obwohl der zitierte Leitsatz das nahe legt. Das liegt nach der Auffassung des Senats weniger daran, dass die Aussage des Bundessozialgerichts den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch betrifft, als daran, dass sich der Kläger mit einem klar erkennbaren Beratungsbedarf an eine bestimmte Krankenkasse wandte.

Es geht also nicht darum, dass der Beklagten oder der Gesamtheit der gesetzlichen Krankenkassen zur Last gelegt wird, sie hätten sich nicht von sich aus mit einer Anzeigenkampagne an alle bisher nicht gesetzlich krankenversicherten Personen über 55 Jahre mit der Empfehlung gewandt, zur Erlangung einer günstigen Krankenversicherung sofort eine abhängige Beschäftigung aufzunehmen. Es geht auch nicht darum, dass sie weniger als ein Jahr abhängig beschäftigte, bei ihnen versicherte Personen nicht auf die Gesetzesänderung hingewiesen haben.

Das Bundessozialgericht stützt sich maßgeblich darauf, dass in einem solchen Fall der mit der Gesetzesänderung angestrebte Erfolg weitgehend beeinträchtigt werde. Zur allgemeinen Information genügt daher, wie es ausführt, die Verkündung des Gesetzes im Bundesgesetzblatt und der daraus ersichtliche Termin des Inkrafttretens.

Durch einen Hinweis an den Kläger auf die Voraussetzungen einer freiwilligen Versicherung und die anstehende Gesetzesänderung wäre der mit der Gesetzesänderung angestrebte Erfolg wenn überhaupt, nur in einem Einzelfall, keinesfalls aber weitgehend beeinträchtigt worden. Weitergehende Verpflichtungen der gesetzlichen Krankenversicherungen hätten daraus nicht abgeleitet werden können.

3. Die Verletzung der Beratungspflicht ist dafür kausal, dass der Kläger heute nicht freiwillig bei der Beklagten krankenversichert ist.

a. Weder aus dem Schriftverkehr zwischen den Parteien noch aus den Zeugenaussagen haben sich greifbare Anhaltspunkte dafür gefunden, dass der Kläger vor dem 01.07.2000 von der Gesetzesänderung und den sich aus ihr für ihn persönlich ergebenden Konsequenzen wusste.

b. Der Senat glaubt dem Kläger, dass er bei einem Hinweis auf die Möglichkeit, durch die Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung über ein Jahr sich im Alter freiwillig versichern zu können, von dieser Gebrauch gemacht hätte. Der Abschluss einer privaten Krankenversicherung im Alter des Klägers ist selbst bei einem Verzicht auf eine privatärztliche Behandlung im Krankenhaus extrem teuer, falls es überhaupt Versicherungen gibt, die Personen dieses Alters aufnehmen. Dass der Kläger darauf Wert legte, krankenversichert zu sein, belegt sein Schriftverkehr mit der Beklagten. Dass er sich "zur Ruhe setzen" und keinesfalls mehr arbeiten wollte, stimmt nicht. Dies wird durch die Aussage seiner Frau und des Zeugen Berger widerlegt. Wie Berger schilderte, arbeitete der Kläger von Herbst 1999 bis zum wirtschaftlichen Scheitern der B. KG (im Jahr 2001) als technischer Leiter des Zeltbetriebs 40 Stunden die Woche. Sozialversicherungspflichtig wäre der Kläger bereits durch Abschluss eines Arbeitsvertrags mit einer weit geringeren zeitlichen Verpflichtung geworden.

c. Die Aussagen der Zeugen P., B., Kr. und Sch. haben den Senat überzeugt, dass es dem Kläger im Jahr 2000 trotz seines Alters ohne Mühe gelungen wäre, eine abhängige Beschäftigung im Bereich Zeltbau/Zeltverleih/Zirkustechnik zu finden. Die Angaben der Zeugen Kr. und Sch. über die körperliche Leistungsfähigkeit und Kompetenz des Klägers sind zwar erstaunlich. Anhaltspunkte dafür, dass sie die Unwahrheit gesagt haben, ergaben sich bei der Vernehmung aber nicht. Ihre Schilderungen machten einen farbigen und lebensnahen Eindruck.

4. Ein Anspruchsausschluss nach § 839 Abs. 1 S. 2 oder Abs. 3 BGB - anderweitiger Ersatzanspruch beziehungsweise vorwerfbares Unterlassen eines Rechtsmittels - ist nicht ersichtlich.

5. Ein Mitverschulden des Klägers nach § 254 Abs. 1 BGB hat der Senat erwogen, verneint es jedoch angesichts der Gesamtumstände.

Die unterlassene Lektüre des Bundesgesetzblattes ist dem Kläger nicht anzulasten. Das Sozialrecht ist zu kompliziert und wird zu häufig geändert, als dass man die fehlende Kenntnis der genauen Rechtsentwicklung, die schon für den nicht spezialisierten Juristen schwer durchschaubar ist, dem normalen Bürger als Verschulden gegen sich selbst anrechnen könnte.

Allerdings hätte der Kläger dem Schreiben vom 28.09.1998 (Anlage B 1) entnehmen können, dass für die freiwillige Versicherung besondere Voraussetzungen galten. Unter der dort angegebenen Rufnummer hätte der Kläger wahrscheinlich auch im Jahr 2000 eine konkrete Auskunft erhalten. Möglichweise wäre er auch auf die bevorstehende Gesetzesänderung hingewiesen worden. Das Schreiben der Beklagten war aus der Sicht des Klägers durch die Nachricht der Rentenversicherung und den Beitragsabzug aber überholt. Es ist nicht nachweisbar, dass es ihm Anfang des Jahres 2000 überhaupt noch gegenwärtig war.

Der Kläger hat sich im ersten Halbjahr dreimal schriftlich an die Beklagte gewandt. In Rechtsangelegenheiten ist dies der sicherste Weg, verlässliche Informationen zu erhalten. Dass der Kläger bei der Beklagten nicht angerufen oder die Geschäftsstelle in München zum persönlichen Gespräch aufgesucht hat, erscheint daher nicht vorwerfbar.

6. Gemäß § 839 BGB ist der Kläger durch Geldersatz so zu stellen, als wenn er bei der Beklagten freiwillig versichert wäre (Palandt/Sprau, BGB 65. Aufl. Rn 78 m. w. N.). Dem genügt der Tenor des landgerichtlichen Urteils.

Bisher ist noch kein Schaden eingetreten, da der Kläger sich ursprünglich mit der von der Beklagten 1998 zur Verfügung gestellten Krankenversicherungskarte und danach mit einer vom Sozialamt zur Verfügung gestellten Krankenversicherungskarte der Beklagten hat behandeln lassen. Die weitere Unterstützung durch das Sozialamt hängt jedoch von der wirtschaftlichen Entwicklung des Gastronomiebetriebs der Ehefrau des Klägers ab. Daher besteht für die künftige Entstehung eines Schadens eine gewisse Wahrscheinlichkeit, was für die Begründetheit der Feststellungsklage ausreicht (Thomas/Reichold, ZPO 27. Aufl. § 256 ZPO Rn 21 m. w. N.).

Der Senat hat von dem Versuch einer Präzisierung des Tenors abgesehen, denn eine Tenorierung des Feststellungsantrags, die alle zukünftigen Streitpunkte zwischen den Parteien berücksichtigt, erscheint unmöglich. Deshalb und auch im Sinne einer einfachen Abwicklung für beide Seiten wäre der vom Senat vorgeschlagene Vergleich, dass die Beklagte den Kläger freiwillig versichert oder dem Kläger eine Krankenversicherungskarte aushändigt und der Kläger im Gegenzug monatliche Zahlungen in Höhe des Beitrags für eine freiwillige Versicherung leistet, sinnvoll gewesen. Die Beklagte hat dagegen jedoch grundsätzliche Bedenken erhoben.

Die Abwicklung wird folgendermaßen abzulaufen haben, wenn die Beklagte dem Kläger keine Krankenversicherungskarte oder eine gleichwertige Bescheinigung aushändigt:

Bei der ambulanten Behandlung wird die Beklagte privat(zahn)ärztliche Rechnungen zeitnah im Rahmen der Gebührenordnungen zu erstatten haben, da der Kläger keine Möglichkeit hat, sich anders behandeln zu lassen. Den Ersatz der Kosten für Zahnersatz schuldet die Beklagte jedoch nur in der Höhe, in der sie sich bei Kassenpatienten an den Kosten beteiligt. Auch andere Regelungen für Selbstbeteiligungen, zum Beispiel bei Medikamenten, sind übertragbar.

Ein Anspruch des Klägers auf Wahlleistungen im Krankenhaus auf Kosten der Beklagten besteht nicht. Die Inanspruchnahme von Wahlleistungen (Chefarztbehandlung, Ein-/Zweibettzimmer) ist nämlich nicht die Voraussetzung der Aufnahme ins Krankenhaus und stellt keine Kassenleistung dar. Die Beklagte ist jedoch vorschusspflichtig, soweit vom Krankenhaus vom Kläger ein Vorschuss für die Aufnahme in die allgemeine Pflegeklasse verlangt wird. Wenn die Beklagte den Kläger für den Notfall nicht vorweg mit einer schriftlichen, allgemein gehaltenen Kostenübernahmeerklärung ausstatten will, wird sie die gebotene unverzügliche Kostenregelung nur durch den Bereitschaftsdienst mit dem Fall vertrauter Mitarbeiter, die ständig, auch am Wochenende, telefonisch erreichbar sind, veranlassen können. Den Kläger durch Geldersatz so zu stellen, wie er als freiwillig Versicherter bei einer nicht vorhersehbaren Einlieferung ins Krankenhaus stünde, bedeutet, dass von ihm zu leistende Vorschüsse sofort geleistet werden müssen.

Vom jeweiligen Erstattungsbetrag kann die Beklagte die mittlerweile hypothetisch aufgelaufenen Krankenversicherungsbeiträge für einen freiwillig versicherten Rentner mit den Einkunftsverhältnissen des Klägers abziehen. Dabei ist nur der Zeitraum zu berücksichtigen, ab dem das Sozialamt keine Leistungen mehr an die Beklagte erbringt beziehungsweise erbringen wird.

Für den Kläger wird es sich empfehlen, die hypothetischen Beiträge anzusparen, damit er seine Arzt- und Krankenhausrechnungen stets in voller Höhe begleichen kann.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die vorläufige Vollstreckung durch den Kläger kann die Beklagte nach den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO abwenden.

Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO. Die Entscheidung BSGE 55, 257 betrifft nicht die pflichtgemäße Reaktion auf einen aus mehreren Schreiben erkennbaren konkreten Wunsch.

Ende der Entscheidung

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