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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Urteil verkündet am 25.01.2001
Aktenzeichen: 24 U 170/98
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 852 Abs. 1
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 92 Abs. 1
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 101
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 711
ZPO § 3
ZPO § 546 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT MÜNCHEN - ZIVILSENATE IN AUGSBURG - IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Aktenzeichen: 24 U 170/98 zu 1 O 1374/93 LG Kempten

Verkündet am 25. Januar 2001

Die Urkundsbeamtin: Justizangestellte

In dem Rechtsstreit

wegen Forderung

erläßt der 24. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München, Zivilsenate in Augsburg, durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht und aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. Dezember 2000 folgendes

Endurteil:

Tenor:

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Endurteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 14. Januar 1998 geändert:

Der Beklagte wird verurteilt, an die Kläger (als Rechtsnachfolger der am 3. September 1999 verstorbenen ) 175.000 DM nebst 4 v. H. jährlich Zinsen hieraus seit 24. Juni 1993 zu bezahlen.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die weitergehende Berufung des Beklagten und die Anschlussberufung der Kläger werden zurückgewiesen.

III. Die Kosten des Berufungsrechtszuges werden gegeneinander aufgehoben.

Von den außergerichtlichen Kosten der Streithelferin trägt der Beklagte 70 %; im Übrigen trägt die Streithelferin die Kosten selbst.

Bei der Kostenentscheidung des Landgerichts hat es sein Bewenden.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Parteien können die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit, der Beklagte in Höhe von 260.000 DM, die Kläger in Höhe von 2.500 DM abwenden, wenn nicht die jeweilige Gegenpartei Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

V. Die Beschwer der Parteien beträgt jeweils 175.000 DM

Tatbestand:

Die Kläger verlangen (als Alleinerben ihrer am 15. August 1987 geborenen und am 3. September 1999 verstorbenen Tochter) - frühere Klägerin - vom Beklagten wegen ärztlicher Kunstfehler im Zusammenhang mit der Betreuung der Schwangerschaft der Klägerin und der Geburt des Kindes Schmerzensgeld.

Der Beklagte betreute die Klägerin als Frauenarzt während deren Schwangerschaft in den Jahren 1986/1987 zunächst in monatlichen, später in zweiwöchigen Abständen. In diesem Zusammenhang machte er Herztonaufzeichnungen sowie Ultraschalluntersuchungen. Ende April/Anfang Mai 1987 wurde die damals 33 Jahre alte Klägerin wegen vorzeitiger Wehen stationär medikamentös (Tokolyse) behandelt.

Nachdem der Beklagte sie zuletzt am 14.8.1987 in der 38. Schwangerschaftswoche gynäkologisch untersucht hatte, rief ihn die Klägerin an diesem Tag gegen 19.30 Uhr an und berichtete ihm von zwischenzeitlich aufgetretenen Blutungen. Der Beklagte riet ihr, zu Hause zu bleiben. Spätestens um 22.50 Uhr wurde die Klägerin im Krankenhaus S, mit dem Verdacht auf vorzeitigen Blasensprung aufgenommen. Die diensthabende Hebamme benachrichtigte deshalb und wegen frischer Blutungen den Beklagten als Belegarzt um 23.04 Uhr fernmündlich und fertigte ein Kardiotokogramm (Ableitung und Aufzeichnung der kindlichen Herzschlagfrequenz und der Wehentätigkeit - im folgenden: CTG) an, aus dem sich bei dem Kind eine Bradykardie (verlangsamte Herzschlagfolge) ergab. Der Beklagte traf um 23.25 Uhr ein und führte in der Zeit von 0 Uhr bis 0.10 Uhr eine Schnittgeburt durch. Das Kind kam mit einem Geburtsgewicht von 1.810 Gramm ohne Lebenszeichen zur Welt. Anschließend wurde es wiederbelebt und von Kinderärzten übernommen. Es stellten sich u.a. eine schwerste Tetraparese (inkomplette Lähmung aller vier Gliedmaßen) und ein Hydrozephalus (Wasserkopf) heraus. Die geistige Entwicklung des Kindes war schwer gestört. Außerdem entwickelte sich ein cerebrales Anfallsleiden.

Die frühere Klägerin hat dem Beklagten schwere Behandlungsfehler angelastet. Er habe im Ultraschallbild sichtbare Wachstumsstörungen nicht erkannt, jedenfalls nicht die gebotenen Maßnahmen ergriffen. Auch am 14.8.1987 habe er nach dem Anruf ihrer Mutter die erforderlichen Schritte versäumt und sei für die verspätete Notoperation verantwortlich.

Die frühere Klägerin hat beantragt,

den Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von mindestens 250.000 DM nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu verurteilen.

Der Beklagte hat Behandlungsfehler und deren Ursächlichkeit für die Schädigung des Kindes bestritten. Vielmehr sei als Ursache der Nikotin- und Alkoholmissbrauch der Mutter anzusehen. Im übrigen hat der Beklagte die Verjährung eingewendet.

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme (Erholung von Gutachten) nach Klageantrag erkannt. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, der Beklagte habe schuldhaft Wachstumsstörungen der Leibesfrucht nicht erkannt und deshalb die gebotenen Maßnahmen unterlassen. Am 14.8.1987 habe er es versäumt, die Schwangere (nach Mitteilung von Blutungen) erneut einzubestellen. Bei richtigem Vorgehen hätten sich die Gesundheitsstörungen des Kindes vermeiden lassen. Wegen des grob fehlerhaften Verhaltens sei insoweit von einer Beweislastumkehr auszugehen. Eine Verjährung des Anspruchs der früheren Klägerin sei nicht eingetreten.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten.

Der Beklagte hat sich insbesondere erneut auf die Verjährung mit der Begründung berufen, die Mutter sei bereits im Oktober 1987 über die hypoxische Hirnschädigung, den Hydrozephalus und das Krampfleiden sowie über den Sauerstoffmangel unterrichtet worden. Jedenfalls habe sie vorwerfbar nicht nach ärztlichen Versäumnissen gefragt. Ein grober Behandlungsfehler seinerseits habe - nach dem Standard im Jahr 1987 - auch unter Berücksichtigung des Gerichtsgutachtens nicht vorgelegen. Er habe lediglich für die Feststellung der Wachstumsretardierung weniger geeignete Merkmale geprüft und vorliegende Befunde verkannt. Im Jahr 1987 seien die vom Sachverständigen vermissten Thorax-Messungen nicht ärztlicher Standard gewesen. Zwischen der intrauterinen Wachstumsretardierung und dem Gesundheitsschaden bestehe im übrigen nur ein möglicher, kein enger Ursachenzusammenhang. Auch das Verhalten am 14.8.1987 sei (nach Mitteilung von schwachen Blutungen ohne Wehen) nicht grob fehlerhaft gewesen und von der Sachverständigen Dr. D als "gut nachvollziehbar" angesehen worden. Sein Ratschlag, daheim zu bleiben, sei ärztlich vertretbar gewesen. Die starke Spontanblutung sei erst gegen 23 Uhr aufgetreten.

Die intrauterine Wachstumsstörung sei insbesondere auf den starken Nikotingenuss der Mutter (durchschnittlich 40 Zigaretten täglich auch während der Schwangerschaft) zurückzuführen. Der Kindsvater habe vergeblich versucht, sie davon abzubringen. Sonographische Untersuchungen mit Fetometrie seien in der 35. Schwangerschaftswoche nicht veranlasst gewesen. Wann die Wachstumsstörung eingetreten ist und wie er, der Beklagte, sie habe erkennen können, bleibe unklar. Der Kopfumfang habe sich noch in der 35. Schwangerschaftswoche im Toleranzbereich befunden; sämtliche CTG-Aufzeichnungen seien unauffällig gewesen; die Schwangere habe an Gewicht zugenommen. Die vorzeitige Ablösung der Plazenta sei schicksalhaft gewesen. Für die organisatorischen Schwierigkeiten und zeitlichen Verzögerungen im Krankenhausbetrieb (u.a. Verspätung der Operationsschwester Einzelheiten und Beweisangebote vgl. Schriftsatz vom 6.1.2000 S. 4 f. = Bl. 235 f. d. A.) sei er als Belegarzt nicht verantwortlich. Die Krankenhausträgerin habe insoweit für etwaige Versäumnisse ihrer Angestellten einzustehen.

Der Beklagte hat folgende Anträge gestellt:

1. Das Urteil des Landgerichts Kempten vom 14. Januar 1998 wird aufgehoben.

2. Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger haben beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen,

und im Rahmen einer unselbständigen Anschlussberufung, unter teilweiser Aufhebung des Urteils des Landgerichts Kempten vom 14. Januar 1998 den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin wegen der fehlerhaften Geburtsleitung ein Schmerzensgeld von mindestens 350.000 DM nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu bezahlen.

Die Kläger tragen vor, die Unterlassung der Wachstumsprüfung bei Kenntnis vom Nikotinmissbrauch der Schwangeren und die unterbliebene klinische Abklärung der Blutungsursache am 14.8.1987 seien grobe Behandlungsfehler, die Schwangerschaftsbetreuung sei insgesamt völlig unzureichend gewesen. Auch habe im Krankenhaus angesichts des CTG-Befundes eine kindliche Notsituation vorgelegen, die eine sofortige Schnittentbindung erforderlich gemacht habe. Bei adäquater Überwachung des kindlichen Wachstums wäre kein neurologischer Schaden entstanden. Zur Verjährung meinen die Kläger, sie hätten aus den ihnen bekannten Umständen - Sauerstoffmangelversorgung und hypoxische Hirnschädigung - nicht auf einen Behandlungsfehler schließen müssen. Die Leistung von Schadenersatz sei nach jahrelangen Verhandlungen seit Juli 1991 am 27.5.1993 abgelehnt worden.

Der Beklagte beantragt,

die Anschlussberufung zurückzuweisen.

Mit Schriftsatz vom 31.1.2000 (BL. 328 - 337 d. A.) ist im Berufungsrechtszug die Stadt S den Klägern als Streithelferin beigetreten.

Auch sie behauptet unter Bezugnahme auf das Gerichtsgutachten der Sachverständigen Dr. D, bei guter Diagnostik und Erkennung der Wachstumsretardierung sowie bei guter Geburtsmedizin mit rechtzeitiger Entbindung wäre der Gesamtzustand des Kindes nicht eingetreten. Eine Thoraxmessung in der 35. Schwangerschaftswoche hätte die intrauterine Mangelentwicklung aufgedeckt und zu Kontrollmaßnahmen bzw. zu einer vorzeitigen Entbindung geführt. Ein Nichtreagieren in einem solchen Fall wäre grob fehlerhaft gewesen. Auch angesichts des Alkohol- und Zigarettenkonsums der Klägerin sei eine Überwachung unabdingbar gewesen. Die am 14.8.1987 telefonisch mitgeteilten Blutungen könnten Anzeichen der später aufgetretenen vorzeitigen Plazentaablösung und Anlass für eine unverzügliche Schnittentbindung gewesen sein. Das Verkennen des Befundes oder das Unterlassen der Schnittentbindung wäre als grober Fehler anzusehen. Als Belegarzt sei dem Beklagten die Grundversorgung im Krankenhaus S bekannt gewesen und treffe ihn die Verantwortlichkeit für den reibungslosen Ablauf.

Die Streithelferin beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachvortrags der Parteien und ihrer Beweisangebote wird zur Ergänzung des Tatbestands auf die in beiden Rechtszügen gewechselten Schriftsätze, auf die Sitzungsniederschriften und auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

Der Senat hat gemäß Beweisbeschluss vom 9.12.1998 (Bl. 226 ff. d. A.) und 19.2.1999 (Bl. 256 ff. d. A.) ein schriftliches gynäkologisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. A. T. T vom 30.6.1999 (Bl. 262 - 295 d. A.) erholt, das gemäß Beweisbeschluss vom 13.3.2000 (Bl. 350 f. d. A) am 20.7.2000 (Bl. 358 - 363 d. A.) ergänzt worden ist.

Die Einhaltung der Förmlichkeiten des Berufungsrechtszuges ist zur Sitzungsniederschrift vom 22.10.1998 (Bl. 221 d. A.) festgestellt worden.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Berufung des Beklagten hat nach dem Tod der früheren Klägerin im Ergebnis teilweise Erfolg. Die Anschlussberufung der Kläger bleibt erfolglos.

Die Kläger haben als Alleinerben ihrer im Laufe des Berufungsverfahrens verstorbenen Tochter einen im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übergegangenen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 175.000 DM (§§ 847, 1922 BGB).

Der Beklagte hat im Rahmen der Betreuung der Schwangerschaft der jetzigen Klägerin und im Geburtsmanagement (zum Teil schwere) Fehler begangen, die für den Gesundheitsschaden des Kindes ursächlich geworden sind bzw. von deren Ursächlichkeit für den Gesundheitsschaden aus Beweislastgründen auszugehen ist.

1. a) Nach den Feststellungen der Sachverständigen Prof. Dr. G. K (Klinikdirektor) und Dr. med. habil. Gerlinde D (Chefärztin der Abteilung Geburtshilfe- und Gynäkologie des Städtischen Krankenhauses München-Neuperlach) im schriftlichen Gutachten vom 6.3.1995 (Bl. 56 ff. d. A.), der Sachverständigen Dr. D bei ihrer Vernehmung durch das Landgericht am 2.8.1995 (Bl. 84 f. d. A.), die durch die Ausführungen im schriftlichen Gutachten (Bl. 262 ff. d. A.) des dem Senat langjährig als besonders qualifiziert bekannten Sachverständigen Prof. Dr. med. A. T. T (Leiter der Frauenklinik und Hebammenschule des Klinikums Aschaffenburg) insoweit bestätigt werden, war nach den Unterlagen des Beklagten die Entwicklung des Kindes etwa ab der 33. Schwangerschaftswoche der Klägerin gestört. Ein wesentliches Wachstum fand nicht mehr statt. Die vom Beklagten verwendeten Maße (Kopfdurchmesser sowie Oberschenkellänge) waren zur Erkennung eines Wachstumsrückstandes ungeeignet. Auch die Gewichtszunahme der Mutter war in diesem Zusammenhang ohne ausschlaggebende Bedeutung.

Der Beklagte hat es pflichtwidrig unterlassen, auf die auch für ihn erkennbare, gegenüber der Norm mehrwöchige Retardierung des Kindes dem ärztlichen Standard im Jahr 1987 entsprechend zu reagieren. Infolgedessen ist es u.ä. während der Spätschwangerschaft über viele Wochen hinweg zu einer Mangelversorgung des Kindes gekommen, die schließlich zu dessen schweren Gesundheitsschaden geführt hat.

Der Beklagte hat nicht die von der Sachverständigen Dr. D jedenfalls ab dem 17.7.1987 geforderten Maßnahmen getroffen. Danach wären häufigere Untersuchungen, mehrmalige abgeleitete Kardiotokogramme unter Wehenbelastung und ggf. die Einweisung in ein Perinatalzentrum geboten gewesen (Sitzungsniederschrift des Landgerichts vom 2.8.1995 S. 3 = Bl. 85 d. A.). In dem schriftlichen Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. K /Dr. D vom 27.2.1995 (S. 3 = Bl. 63 d. A.). d. A.) ist festgehalten, insbesondere häufige Ultraschalluntersuchungen seien geeignete Maßnahmen, um Mangelentwicklungen des Kindes rechtzeitig festzustellen. Bei Erkennen einer Mangelentwicklung während der Schwangerschaft (dokumentierbar ab der 33. Schwangerschaftswoche - das Kind hatte in der 38. Schwangerschaftswoche nur ein Geburtsgewicht von 1.810 Gramm!) habe die Schwangerenbetreuung ein Risiko-Management zur Vermeidung einer erhöhten Morbidität und Mortalität erfordert, das hier nicht wahrgenommen worden sei (a.a.O. S. 7 = Bl. 68 d. A.).

Auch nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. T hat der Beklagte pflichtwidrig nicht die Möglichkeit wahrgenommen, neben der Messung des biparietalen Schädeldurchmessers und der Lokalisation der Plazenta an der Vorderwand eine sich abzeichnende intrauterine Mangelentwicklung durch Bestimmung des Thoraxdurchmessers abzuklären (a.a.O. S. 20 = Bl. 281 und S. 25/26 = Bl. 286/287 d. A.). Dazu hätte vor allem auch deshalb Anlass bestanden, weil die Klägerin unbestritten Raucherin war und auch während der Schwangerschaft geraucht hat. Im Rechtsstreit ist lediglich ein "Nikotinabusus" wiederholt bestritten worden. Der Sachverständige Prof. Dr. T hat weiter ausgeführt (aaO), bei einer Raucherin gälten andere Maßstäbe zur Überwachung des kindlichen Wohlergehens. Der Arzt müsse gezielt nach Alkohol- und Zigarettenkonsum fragen und ggf. auf bestimmte körperliche Merkmale achten.

Der Beklagte ist nach wiederholtem eigenen Sachvortrag selbst davon ausgegangen, dass die Klägerin noch während der Schwangerschaft (mit durchschnittlich 40 Zigaretten pro Tag) stark rauchte und dass er (und der Kindsvater) sie vergeblich davon abzubringen versuchte(n). Unter diesen Umständen hätte für ihn aller Anlass bestanden, das Wachstum des Kindes ständig im Auge zu behalten, auf etwaige Entwicklungsstörungen zu achten und ggf. Spezialisten hinzuzuziehen. Entsprechende Angaben über ihren Zigarettenkonsum soll die Klägerin auch gegenüber dem Anästhesisten Dr. Perathoner gemacht haben. Im Bericht der Kinderklinik des Kreiskrankenhauses M vom 4.11.1987 (Anlage K 12) ist von "massivem mütterlichem Nikotinabusus" die Rede.

Auch der Sachverständige Prof. Dr. T hielt - nach Feststellung einer relevanten Retardierung über einen Zeitraum von etwa zwei bis drei Wochen - die Einweisung in ein Perinatalzentrum für erforderlich, um eine vorzeitige Entbindung durchzuführen, bevor eine chronische Durchblutungsstörung irreversiblen Schaden am kindlichen Gehirn anrichtete (a.a.O. S. 31 = Bl. 292 d. A.).

Schließlich haben es die Sachverständigen Dr. Barbara O (Leiterin der Entwicklungsneurologischen Abteilung des Dr. von H Kinderspitals im Klinikum Innenstadt der Universität München) und Karl K (Kinderarzt) als ärztliches Versäumnis angesehen, dass der Beklagte auf die schon in der 33. Schwangerschaftswoche erkennbare intrauterine Wachstumsretardierung nicht sofort in geeigneter Weise reagiert hat. Ein Perinatalzentrum sei für die Führung der Mutter während einer Risikoschwangerschaft und für das rechtzeitige Einsetzen notwendiger Maßnahmen zur vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft eingerichtet (schriftliches neurologisches Gutachten vom 27.12.1996 S. 11 = Bl. 122 d. A.).

b) Bei einer Gesamtwürdigung unter Einbeziehung der genannten gutachtlichen Stellungnahmen mehrerer hochrangiger Sachverständiger zu diesem Punkt hält es der Senat - wie schon das Landgericht - für erwiesen, dass das Fehlverhalten des Beklagten zumindest mitursächlich für die (durch eine schwerste Cerebralparese in Form einer spastisch-dystonen Tetraparese, eine Störung der geistigen Entwicklung und ein cerebrales Anfallsleiden gekennzeichnete) ausgeprägte neurologische Störung des Kindes geworden ist.

Die Schädigung des Gehirns lag bereits am ersten Lebenstag vor. Das klinische Bild war typisch für eine schwere frühe Hirnschädigung. Für eine Störung in Form einer genetischen Fehlanlage des Gehirns ergaben sich bei den Untersuchungen in bildgebenden Verfahren keine Hinweise. Auch für eine neurodegenerative Erkrankung oder Stoffwechselstörung fanden sich in den Befunden der Neonatal- und der Folgezeit keine Anhaltspunkte. Die ersten neurologischen Symptome traten schon 24 Stunden nach der Geburt in Form von cerebralen Anfällen, später von Schluckstörungen auf. Das in der 38./39. Schwangerschaftswoche geborene Kind war deutlich untergewichtig (Gewicht eines Föten zwischen der 30. und 34. Schwangerschaftswoche) - Anzeichen für eine länger bestehende intrauterine Mangelversorgung. Dies wurde durch die histopathologische Beurteilung der Plazenta bestätigt, die Infarkte, sekundäre Verkalkungen und eine mangelhafte Gefäßversorgung aufwies. Bei der Entlassung aus der Kinderklinik zeigten sich typische frühe Hinweise für eine Zerebralparese.

Der Sachverständige Prof. Dr. T hat im Gutachten vom 30.6.1999 (S. 30 ff. = Bl. 291 ff. d. A.) überzeugend dargelegt, dass bei adäquater Überwachung des kindlichen Wachstums kein neurologischer Schaden entstanden wäre. Vielmehr hätte nach Feststellung einer relevanten Retardierung von etwa zwei bis drei Wochen gegenüber der Norm die Einweisung in ein Perinatalzentrum dazu geführt, dass die Entbindung der Klägerin zu einem früheren Zeitpunkt und noch vor einer irreversiblen Schädigung des kindlichen Gehirns infolge chronischer Durchblutungsinsuffizienz erfolgt wäre.

Aus den Gutachten ist auch zu entnehmen, dass die Auffassung des Beklagten, Ultraschalluntersuchungen zur Untersuchung der Kindesgröße würden nur bis zur 29., maximal bis zur 32. Schwangerschaftswoche durchgeführt, nicht zutrifft. Die Sachverständigen Prof. K und Dr. D sowie Prof. Dr. T haben jedenfalls mit aller Deutlichkeit klargestellt, dass das Schwangerschaftsmanagement bei bekanntem Nikotinkonsum und den sich daraus ergebenden Gefahren für die Entwicklung des werdenden Lebens wesentlich intensiver, u.a. auch mit zusätzlichen Untersuchungen, durchgeführt werden muss.

c) Ein für die Überzeugungsbildung des Senats ausreichender Ursachenzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden des Kindes wäre auch deshalb anzunehmen, weil die Schwangerschaftsbetreuung der Klägerin ab der 33. Schwangerschaftswoche, spätestens aber ab dem 17.7.1987 (35. Schwangerschaftswoche) wegen der Nichtbeachtung des Wachstumsrückstandes als grober Kunstfehler zu werten ist. Der Beklagte hat nicht den ihm bei Annahme schweren ärztlichen Versagens obliegenden Beweis erbracht, dass das Kind den Gesundheitsschaden auch bei der von den Sachverständigen geforderten Vorsorge, insbesondere bei Verbringung in ein Perinatalzentrum, erlitten hätte.

Die Unterlassung einer adäquaten Überprüfung des kindlichen Wachstums in Kenntnis des Umstandes, dass die Klägerin Raucherin war und noch während der Schwangerschaft rauchte, war ein Fehler, der einem durchschnittlich ausgebildeten Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe schlechterdings nicht unterlaufen darf. Es handelte sich insoweit nicht etwa nur um ein einmaliges Übersehen (Diagnosefehler) oder um das einmalige Nichtbeachten der Wachstumsretardierung. Vielmehr hat der Beklagte bei den (u.a. sonographischen) Untersuchungen am 17.7., 31.7., 5.8. und 14.8.1987 den mehrwöchigen Wachstumsrückstand des Feten und die dadurch angezeigte Gefahrenlage für die Leibesfrucht nicht erkannt oder nicht beachtet bzw. bei den Untersuchungen nicht alle wesentlichen Parameter geprüft. Hätte der Beklagte bei pflichtgemäßer engmaschiger Überprüfung den deutlichen Wachstumsrückstand entdeckt, wäre es ein unverständliches schweres ärztliches Versäumnis gewesen, auf diesen - angesichts des Nikotingenusses der Mutter besonders naheliegenden - Risikofaktor nicht (wie bereits ausgeführt) in medizinisch angemessener Weise zu reagieren.

Der Senat sieht keinen Anlass, über die bereits in beiden Rechtszügen erholten Gutachten hinaus weitere (Ober)Gutachten zu erholen.

2. Unter diesen Umständen muss über die Auswirkungen weiterer Fehler des Beklagten im Rahmen des Schwangerschafts- und Geburtsmanagements nicht abschließend entschieden werden:

a) Der Beklagte ist am 14.8.1987 abends nach telefonischer Mitteilung der Klägerin, sie habe Blutungen, nicht tätig geworden. Er hat insbesondere die möglichen Ursachen der Blutungen nicht weiter abgeklärt und die Schwangere nicht zur Untersuchung einbestellt. Wie der Sachverständige Prof. T nachvollziehbar ausgeführt hat, kann eine solche Mitteilung auf einen harmlosen Befund, aber auch auf ein relevantes Ereignis wie eine Randsinusblutung oder eine vorzeitige Plazentalösung hindeuten, wie sie dann bei der Klägerin aufgetreten ist. Der Beklagte konnte und durfte einen solchen Befund nicht telefonisch abklären. Es war die Aufforderung unerlässlich, sofort eine klinische Untersuchung und Klärung des Befundes - in der Praxis oder besser im Krankenhaus - vorzunehmen.

Ob auch dieses ärztliche Versäumnis in der Befunderhebung grob fehlerhaft war (wie der Senat annimmt) und zu Beweiserleichterungen der Klägerin hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs mit dem Gesundheitsschaden ihres Kindes führen würde, kann aus den genannten Gründen dahingestellt bleiben.

b) Ein weiteres Versäumnis des Beklagten liegt nach den Ausführungen der Sachverständigen Prof. K /Dr. D (Gutachten vom 27.2.1995 S. 5/6 = Bl. 66/67 d. A.) und Prof. Dr. T (Gutachten vom 30.6.1999 S. 6 ff. = Bl. 267 ff. d. A., S. 16/17 = Bl. 277/278 d. A.) darin, dass er angesichts der von ihm diagnostizierten vorzeitigen Plazentaablösung bei der Klägerin und der durch das CTG angezeigten kindlichen Notsituation nicht für die schnellstmögliche Entbindung gesorgt hat. Nach der Definition der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie darf der tolerable Zeitverlust (Entscheidungs-Entbindungszeit) bei einer Not-Sectio nicht mehr als 20 Minuten betragen. Die Sachverständigen Prof. K /Dr. D haben erhebliche Organisationsmängel und eine gänzlich unzulängliche apparative Ausstattung des Kreißsaals des Stadtkrankenhauses S festgestellt (a.a.O. S. 6 = Bl. 67 d. A.). Insbesondere verfügte das Krankenhaus nicht über einen ständig anwesenden diensthabenden Anästhesisten bzw. Frauenarzt, sondern insoweit nur über Belegärzte. Die Zeit von der Entscheidung des Beklagten bis zur Entbindung betrug mindestens 55 Minuten - eine deutliche zeitliche Verzögerung der Geburt mit Auswirkungen auf den bestehenden Sauerstoffmangel des Kindes. Auch der Sachverständige Prof. Dr. T bemängelt in seinem Gutachten vom 30.6.1999 (S. 22 ff. = Bl. 283 ff. d. A., S. 27 ff. = Bl. 288 ff. d. A.) umfangreich das Geburtsmanagement des Beklagten.

Aus den genannten Gründen kann auch insoweit offenbleiben, ob es dem Beklagten als (ggf. schwerer) Behandlungsfehler anzulasten ist, dass er als für eine in Not- oder Eilfällen ausreichende medizinische Versorgung im Belegkrankenhaus verantwortlicher Belegarzt (vgl. BGH NJW 1995, 1611 f.) eine Risikopatientin wie die Klägerin in einem solchermaßen unzureichend ausgestatteten Belegkrankenhaus entbinden ließ, ohne rechtzeitig Vorsorge zu treffen.

3. Der auf die Kläger übergegangene Schmerzensgeldanspruch ist, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, nicht verjährt.

Gemäß § 852 Abs. 1 BGB verjährt der Anspruch auf Ersatz des aus einer unerlaubten Handlung entstandenen Schadens in drei Jahren von dem Zeitpunkt an, in welchem der Verletzte von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt. Diese Kenntnis muss so weit gehen, dass der Geschädigte in der Lage ist, eine Schadenersatzklage erfolgversprechend, wenn auch nicht risikolos, zu begründen. Insbesondere gehört zur Kenntnis von einem schuldhaften Behandlungsfehler eines Arztes das Wissen von den wesentlichen Umständen des Behandlungsverlaufs. Ferner muss der Patient als medizinischer Laie die Tatsachen kennen, aus denen sich ein Abweichen des Arztes vom ärztlichen Standard ergibt. Nicht einmal die Kenntnis von möglichen Schadensursachen reicht hierfür aus. Ein bloßes Kennnenmüssen schadet dem Geschädigten - von Fällen des Rechtsmissbrauchs abgesehen - selbst dann nicht, wenn es auf grober Fahrlässigkeit beruht (vgl. BGH Urteil vom 24.6.1999 Aktenzeichen IX ZR 363/97 MDR 1999, 1198).

Dass die Eltern bereits im November 1987 über eine hypoxische Hirnschädigung, über den Hydrocephalus und das Krampfleiden ihres Kindes Bescheid wussten, kann als wahr unterstellt werden, ist aber nicht entscheidungserheblich und bedarf auch deshalb nicht der beantragten Beweiserhebung (vgl. Berufungsbegründung S. 2 = Bl. 169 d. A. und Schriftsatz vom 15.10.1998 Bl. 216 f.). Denn ein solches Krankheitsbild kann verschiedene Ursachen haben und lässt - zumal für Laien - keinen Schluss auf ein ärztliches Versagen zu. Der Beklagte hat weder substantiiert vorgetragen noch Beweis für Umstände angeboten, aus denen sich eine bessere Kenntnis der jetzigen Klägerin als gesetzlicher Vertreterin des Kindes herleiten ließe.

4. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt der Senat in erster Linie den massiven Gesundheitsschaden und das langjährige Leiden des zwischenzeitlich verstorbenen Kindes. Hinsichtlich der Einzelheiten zu dessen Entwicklung, zu den schwersten Behinderungen, Krankheitszuständen, ärztlichen bzw. therapeutischen Maßnahmen und zu den Beeinträchtigungen der Lebensqualität in der Neonatal- und in der Folgezeit wird auf das erwähnte Gutachten Prof. K /Dr. D (S. 3 - 8 = Bl. 114 - 119 d. A.) Bezug genommen. Allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass das Kind bereits im Alter von 12 Jahren verstorben ist. Mag das ursprünglich vorgestellte Schmerzensgeld in der Größenordnung von 250.000 DM als grundsätzlich den gesamten überschaubaren (lebenslangen) immateriellen Schaden abgeltend eher zu niedrig angesetzt gewesen sein, so kann die tatsächlich eingetretene Lebenszeit nicht ohne Folgen für die Bemessung bleiben.

Schmerzensgelderhöhend wirkt sich nicht aus, dass der Beklagte bzw. die hinter ihm stehende Haftpflichtversicherung bisher keine Zahlungen geleistet hat. Da die Haftungsfrage bis zuletzt streitig geblieben und noch im Berufungsrechtszug ein weiterer Sachverständiger beauftragt worden ist, kann sich die Zahlungsverweigerung nicht zum Nachteil des Beklagten auswirken. Seine Ausführungen zur Nikotin- und Alkoholabhängigkeit der Klägerin waren sachgerecht und wirken sich bei der Beurteilung der Haftung letztlich auch zu ihren Gunsten aus. Dass die Klägerin vor und während der Schwangerschaft in diesem Zusammenhang durch ihr Verhalten die Leibesfrucht gefährdet hat, lässt den Schmerzensgeldanspruch des Kindes unberührt. Der Grad des persönlichen Verschuldens des Beklagten ist - auch bei Annahme eines groben Kunstfehlers - nicht so hoch, dass deshalb das Schmerzensgeld über den zugesprochenen Betrag hinaus erhöht werden müsste.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 92 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO. Da zum Zeitpunkt der Entscheidung des Landgerichts die Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von mindestens 250.000 DM auch nach Ansicht des Senats Erfolg gehabt hätte, verbleibt es bei der vom Landgericht getroffenen Kostenentscheidung zu Lasten des Beklagten.

Gemäß § 101 ZPO hat der Beklagte die außergerichtlichen Kosten der Streithelferin im Berufungsverfahren zu 70 % zu tragen. Er ist zu den Gerichtskosten mit der im Verhältnis der Hauptparteien getroffenen Kostenentscheidung belastet. Darüber hinaus ist der Beitritt lediglich zur Abwehr der Berufung des Beklagten erfolgt. Da der Beitritt erst nach dem Tod der ursprünglichen Klägerin erklärt wurde, ist wegen des Teilerfolgs der Berufung eine Quotelung veranlasst.

Die vorläufige Vollstreckbarkeit und der Vollstreckungsschutz richten sich nach § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Beschwer wird nach §§ 3, 546 Abs. 2 ZPO festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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