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Gericht: Oberlandesgericht München
Urteil verkündet am 21.02.2002
Aktenzeichen: 24 U 570/01
Rechtsgebiete: DÜG, BGB, StGB, ZPO


Vorschriften:

DÜG § 1
BGB § 823 Abs. 1
BGB § 823 Abs. 2
BGB § 831
BGB § 288 n.F.
StGB § 223
StGB § 230
ZPO § 3
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 100 Abs. 1
ZPO § 543 Abs. 2 n.F.
ZPO § 546 Abs. 2 a.F.
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 711
I. Fährt auf einem kleinen Bahnhof mit schienengleichen Übergängen ein Pendler-Zug ausnahmsweise auf einem anderen Gleis als üblich ein, muss insbesondere dann, wenn sonstige Schutzvorrichtungen (z. B. Lichtzeichen, Schranke, Absperrung, Drehkreuz) im Bereich der Übergänge fehlen, bei der Lautsprecherdurchsage auf die besondere Gefahrenlage deutlich hingewiesen werden.

II. Bei (inhaltlich und/oder akustisch) mangelhafter Lautsprecherdurchsage kann die Bahn wegen Organisationsverschuldens ein Mithaftungsanteil von 50 % treffen, wenn eine Schülerin das Bahngleis unaufmerksam betritt und von dem einfahrenden Zug erfasst wird.


OBERLANDESGERICHT MÜNCHEN - ZIVILSENATE IN AUGSBURG - IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Aktenzeichen: 24 U 570/01

Verkündet am 21. Februar 2002

In dem Rechtsstreit

wegen Forderung und Feststellung

erläßt der 24. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München, Zivilsenate in Augsburg, durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht und aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 31. Januar 2002 folgendes

Endurteil:

Tenor:

I. Die Berufungen der Klägerin und der Beklagten gegen das Endurteil des Landgerichts Memmingen vom 29. Mai 2001 werden zurückgewiesen.

II. Die Beklagte trägt zwei Drittel, die Klägerin ein Drittel der Kosten des Berufungsrechtszuges.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Parteien können die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit - die Klägerin in Höhe von 1.500 Euro, die Beklagte in Höhe von 55.000 Euro - abwenden, wenn nicht die jeweilige Gegenpartei Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Beschwer der Beklagten beträgt 38.346,89 Euro, diejenige der Klägerin 19.173,45 Euro.

Tatbestand:

Die Klägerin verlangt Schadenersatz nach einem Bahnunfall.

Am 2.10.1998 wollte die damals 17 Jahre alte Klägerin mit der Bahn von Illertissen nach Memmingen zur Schule fahren. Der Regionalzug RB 5705 (Abfahrtszeit 6.44 Uhr) fuhr aus betrieblichen Gründen statt wie üblich auf Gleis 2 an diesem Tag auf Gleis 1 ein. Bei Einfahrt des Zuges wollte die Klägerin über einen der beiden schienengleichen, mit Holzbohlen versehenen Übergänge vom Bahnsteig A zum Bahnsteig B gelangen. Dabei wurden sie wie auch ihre sie begleitende Freundin von dem einfahrenden Zug erfasst und schwer verletzt. Unter anderem erlitt die Klägerin ein stumpfes Bauchtrauma mit Leberkontusion, eine Facialisparese rechts, ein Schädelhirntrauma, eine Kopfschwartehablederung, verschiedene Frakturen und Beschädigungen der Zähne 10, 11 und 21. Der linke Vorfuss musste amputiert werden.

Die Klägerin hat vorgetragen,

die Beklagte habe ihre erhöhten Verkehrssicherungspflichten in Bezug auf die Absicherung des schienengleichen Bahnübergangs und angesichts der Gleisänderung am Unfalltag in besonders hohem Maße verletzt. Deshalb komme auch ein möglicher Mitverschuldensanteil nicht zum Tragen. Im Wesentlichen hat die Klägerin behauptet, die Ansage sei undeutlich und ohne Hinweis auf die Gleisänderung, die Beleuchtung wegen einer ausgefallenen Lampe unzureichend, der Reisendensicherer 25 m vom Übergang entfernt und unzureichend in seine Aufgaben eingewiesen gewesen. Der Zug habe auf der eingleisigen Bahnstrecke ohne rechtzeitigen Achtungspfiff erst kurz vor dem Bahnsteig auf Gleis 1 gewechselt und sei vom Standort der Klägerin aus wegen einer Baustelle nicht sichtbar gewesen. Auf dem Bahnhof hätten sich schon mehrere Unfälle ereignet; die Beklagte habe eine Langsamfahrstelle einrichten und einen Übergang sperren müssen.

Die Klägerin hat folgende Anträge gestellt:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, welches in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, 100.000 DM aber nicht unterschreiten sollte, nebst 4 % Zinsen hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

Gleichzeitig wird beantragt, zumindest einen Teil der Kapitalzahlung in Form einer monatlichen Rente zu gewähren.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte zum Ersatz aller künftigen immateriellen und materiellen Schäden aus dem Unfall vom 2.10.1998 verpflichtet ist, die nach der letzten mündlichen Verhandlung entstanden sind, jedoch nur, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Die Beklagte hat im ersten Rechtszug Klageabweisung beantragt.

Sie hat eine Mithaftung in Höhe von 50 % eingeräumt, eine erhöhte Betriebsgefahr und ein Verschulden in ihrem Verantwortungsbereich jedoch bestritten. Sie hat behauptet, die Bahnanlage sei nicht unfallträchtig. Die von der Klägerin unbeachtet gebliebene zweimalige Lautsprecherdurchsage sei rechtzeitig vor Einfahrt des Zuges, bei der zweiten Ansage auch unter Hinweis auf die Gleisänderung erfolgt und gut zu hören, die Beleuchtung ausreichend gewesen. Der Reisendensicherer habe sich am vorgesehenen bestmöglichen Standort befunden, der Bahnübergang sei deshalb gesichert gewesen. Die Gleisänderung sei wegen eines auf Gleis 2 haltenden (unbeleuchteten) Zuges erfolgt. Die Schienenabzweigung vom Hauptgleis zu den Nebengleisen habe sich über 300 m vom Bahnhof entfernt befunden. Die Klägerin habe die frei einsehbare Gleisanlage betreten, als der Zug noch 5 bis 10 m entfernt und es dem Zugführer trotz Schnellbremsung und Achtungspfiff unmöglich gewesen sei, den Unfall zu vermeiden.

Das Landgericht hat folgendes Endurteil erlassen:

I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 50.000 DM (i.W.: fünzigtausend Deutsche Mark) nebst 4 % Zinsen hieraus seit 4.1.2001 zu bezahlen.

II. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle künftigen immateriellen und materiellen Schäden aus dem Unfall vom 2.10.1998 zu 50 % zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger und sonstige Dritte übergehen.

Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, die Beklagte habe ihre - wegen der durch den höhengleichen Bahnübergang geschaffenen Gefahrenquelle und wegen der Gleisänderung erhöhte - Verkehrssicherungspflicht verletzt. Sie habe mit gewohnheitsmäßigem Verhalten von Pendlern bzw. Dauerkunden rechnen und entsprechende Sicherheitsvorkehrungen treffen müssen. Bei der nicht überall ausreichend verständlichen Lautsprecherdurchsage sei nur auf die Einfahrt, nicht jedoch besonders auf die ausnahmsweise Gleisänderung hingewiesen worden. Der Reisendensicherer habe wegen der zwei offenen Übergänge nur einen Teil der Fahrgäste durch Warnhinweise erreichen können. Die Klägerin habe die Gleisanlage ohne Beachtung der Lautsprecherhinweise und ohne auf den einfahrenden Zug zu achten unvermittelt und leichtfertig betreten. Das Landgericht hat die jeweiligen Mitverursachungs- und Verschuldensanteile als gleichwertig erachtet.

Hiergegen richten sich die Berufungen beider Parteien.

Die Beklagte trägt im Berufungsrechtszug vor,

die Feststellungsklage sei im Hinblick auf ihr, der Beklagten, Teilanerkenntnis der Mithaftung zur Hälfte mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.

In materiellrechtlicher Hinsicht habe das Landgericht, was die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht betrifft, die zu Lasten der Klägerin bestehende Beweislast verkannt. Die Klägerin habe überhaupt nicht auf die ausreichend lauten Durchsagen über die technisch einwandfreie Lautsprecheranlage geachtet; der Inhalt der Ansagen sei deshalb nicht entscheidungserheblich. Die behauptete mangelnde Verstehbarkeit gehe beweismäßig zu ihren Lasten. Die Bereitstellung eines weiteren Reisendensicherers sei der Bahn nicht zumutbar. Da auf Gleis 2 sichtbar ein anderer Zug abgestellt gewesen sei, habe die Klägerin höchst leichtsinnig gehandelt; die Betriebsgefahr der Bahn trete deshalb zurück.

Die Beklagte stellt zur eigenen Berufung folgende Anträge:

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Landgerichts Memmingen vom 29.5.2001 in Ziff. I und II aufgehoben, soweit die Beklagte verurteilt wurde.

II. Die Klage wird auch insoweit abgewiesen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Zur eigenen Berufung stellt sie folgende Anträge:

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 29.5.2001 in Ziff. I dahingehend abgeändert, dass die Beklagte an die Klägerin 75.000 DM (i.W.: fünfundsiebzigtausend Deutsche Mark) nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz nach § 1 des DÜG vom 9.6.1998 hieraus seit 4.1.2001 zu bezahlen hat.

2. Des Weiteren wird das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 29.5.2001, in Ziff. II dahingehend abgeändert, dass festgestellt wird, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle künftigen immateriellen und materiellen Schäden aus dem Unfall vom 2.10.1998 zu 75 % zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen, und dass im Übrigen die Klage abgewiesen wird.

Die Klägerin räumt im Berufungsrechtszug ein Mitverschulden von höchstens 25 % ein. Sie trägt im Wesentlichen wie im ersten Rechtszug und weiter vor, aus den Zeugenausssagen ergebe sich, dass jedenfalls die zweite Durchsage nicht zu verstehen war. Des Weiteren stellt die Klägerin die Notwendigkeit der Gleisänderung in Frage. Sie habe davon ausgehen dürfen, dass der Zug wie immer auf Gleis 2 einfährt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachvortrags der Parteien und ihrer Beweisangebote wird zur Ergänzung des Tatbestands auf die in beiden Rechtszügen gewechselten Schriftsätze samt Anlagen, auf die Sitzungsniederschriften und auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

Die Förmlichkeiten des Berufungsrechtszuges ergeben sich aus der Sitzungsniederschrift des Senats vom 31. Januar 2002 (Bl. 111-114 d. A.).

Entscheidungsgründe:

A.

Die zulässigen Berufungen der Parteien sind unbegründet.

I. Die Feststellungsklage (Klageantrag 2) ist zulässig.

Insbesondere besteht ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin an der Feststellung. Die Beklagte bestreitet im Berufungsrechtszug ihre eigene Haftung wegen des behaupteten hohen Verschuldens der Klägerin gänzlich und beantragt, die Klageanträge voll abzuweisen. Unter diesen Umständen kann der Klägerin angesichts der schwerwiegenden Unfallfolgen und einer sich durch Zeitablauf verschlechternden Beweislage nicht angesonnen werden, auf ein vorprozessual gegebenes Teilanerkenntnis der Beklagten zu vertrauen.

II. Das Landgericht hat mit zutreffenden Gründen - mit Zustimmung der Parteien unter Auswertung der umfangreichen Beweiserhebung im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren - eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der Bahn sowie ein Mitverschulden der Klägerin von 50 % angenommen und die Beklagte unter Berücksichtigung der beiderseitigen Haftungsanteile entsprechend verurteilt (I. der Urteilsformel). Der Senat schließt sich den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils an. Lediglich ergänzend, insbesondere zum beiderseitigen Berufungsvorbringen der Parteien, wird ausgeführt:

1. Auch nach Ansicht des Senats wurden im Bereich der Beklagten Verkehrssicherungspflichten verletzt.

Die Beklagte musste angesichts der auf dem Bahnhof Illertissen durch zwei schienengleiche Bahnübergänge geschaffenen besonderen Gefahrenlage alles wirtschaftlich und organisatorisch Vertretbare tun, um diese Gefahrenlage für ihre Kunden möglichst gering zu halten.

Es mag der Bahn aus nachvollziehbaren Gründen nicht möglich oder angesichts der Kundenfrequenz auf dem Bahnhof Illertissen nicht zumutbar gewesen sein, durch Unterführung oder Überweg einen sicheren Zugang u.a. zum Bahnsteig B zu schaffen. Auch bestand wohl keine Verpflichtung der Bahn, im Bereich der vorhandenen beiden Bahnübergänge Personal (z. B. mehrere Reisendensicherer) abzustellen, um ggfls. einzelne Bahnfahrer vor einem unvorsichtigen Überqueren der Gleise zu warnen oder abzuhalten. Abgesehen davon hätte ein unmittelbar am streitgegenständlichen Bahnübergang positionierter Reisendensicherer nach Sachlage weder Anlass noch die Möglichkeit gehabt, die Klägerin und ihre Freundin vom Betreten des Bahnübergangs vor dem herannahenden Zug abzuhalten. Denn beide Mädchen betraten die Gleisanlage offensichtlich völlig unvermittelt - vergleichbar mit Fußgängern, die sich auf einem Gehsteig aufhalten und dann trotz Fahrzeugverkehrs plötzlich auf die Straße laufen.

Allerdings wäre es der Bahn möglich und zumutbar gewesen, die üblichen - hier mit Holzbohlen versehenen - schienengleichen Bahnübergänge mit Warnvorrichtungen oder Hindernissen zu versehen, wie sie im Straßen- und Trambahnverkehr vielfach üblich sind, beispielsweise: akustische oder Lichtzeichen vor einfahrendem Zug; ggfls. lichtschrankengesteuerte Halbschranken; einfache Kettenabsperrungen, Drehkreuze o.Ä. Des Weiteren hätte die Möglichkeit bestanden, die Gleisanlage so einzurichten und den Fahrbetrieb so zu organisieren, dass einfahrende Züge vor dem jeweiligen Übergangsbereich zum Halten kommen - eine senatsbekannt von der Bahn insbesondere auf kleineren Bahnhöfen gewählte Betriebsform. Mit den genannten technischen oder organisatorischen Mitteln ließe sich - bei allen Einwänden gegen die eine oder andere Maßnahme - der Schutz der Reisenden erheblich verbessern. Insbesondere unvorsichtige oder - wie Berufspendler oder sonstige Dauerkunden - gewohnheitsmäßig handelnde Bahnfahrer würden dann mehr oder weniger gezwungen, vor dem Betreten der Gleise auf einfahrende Züge zu achten.

Wenn die Bahn von den nur beispielhaft aufgezeigten Möglichkeiten keinen Gebrauch machte, war sie zumindest verpflichtet, organisatorisch dafür Sorge zu tragen, dass ihre Bediensteten die vorhandenen Einrichtungen zum Schutz der Bahnkunden optimal nutzten. Dies ist, wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat, im vorliegenden Fall nicht geschehen.

2. Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Memmingen (AZ. 20 Js 1546/99 - Aktenordner in der Anlage), insbesondere zahlreichen Zeugenvernehmungen, die im Einverständnis der Parteien im vorliegenden Rechtsstreit verwertet werden, waren die Lautsprecherdurchsagen weder inhaltlich noch, was die Lautstärke und Verständlichkeit im Bahnhofsbereich betrifft, ausreichend.

Angesichts der Besonderheit, dass der Zug nach Memmingen normalerweise auf Gleis 2 einfuhr, war damit zu rechnen, dass nach und nach im Bahnhof eintreffende Reisende wie üblich das Gleis 1 überquerten, um auf den Bahnsteig B zu gelangen. Dies konnten vor allem solche Reisenden sein, die erst nach einer ersten Durchsage über die Einfahrt im Bahnhof eingetroffen waren oder solche, welche die Ansage, weil üblicherweise für Gleis 2 geltend, nicht beachteten bzw. überhörten. Für solche Bahnkunden bestand ersichtlich beim Überschreiten des Gleises 1 eine erhöhte Gefahrenlage, wenn sich ein Zug dem Bahnhof näherte.

Unter diesen Umständen musste seitens der Bahn dafür gesorgt werden, dass auch bei der Lautsprecherdurchsage auf die besondere Gefahrenlage hingewiesen wurde. Dafür reichte entgegen der Auffassung der Beklagten der bloße Hinweis auf eine Gleisänderung nicht aus. Es konnte und musste deutlich und aussagekräftig, etwa mit den Worten gewarnt werden: "Achtung, Achtung - der Zug ... fährt heute ausnahmsweise statt auf Gleis 2 auf Gleis 1 ein ...". Eine solche Durchsage konnte ab einem bestimmten Zeitpunkt vor Einfahrt des Zuges mit einem Hinweis verbunden werden, dass das Betreten der Gleise untersagt wurde.

Selbstverständlich musste die Durchsage akustisch im Bahnhofsbereich auch einwandfrei zu hören sein. Dies setzte eine (nach den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zum Unfallzeitpunkt vorhandene) technisch einwandfreie Übertragungsanlage voraus. Wichtig war aber weiterhin, dass der mit der Durchsage betraute Bahnbedienstete so laut und deutlich sprach, dass seine Worte für die Bahnkunden unter Berücksichtigung des auf Bahnhöfen herrschenden Lärmpegels zu verstehen waren. Denn die beste Lautsprecheranlage nützt dem Reisenden nichts, wenn der Sprecher undeutlich, zu schnell oder zu leise spricht. Senatsbekannt werden aus diesem Grund Lautsprecherdurchsagen bei der Bahn deshalb häufig nicht verstanden bzw. gehen unter. Zumindest bei Warnhinweisen bestand insoweit eine besondere Sorgfaltspflicht der Bahn zum Schütze der Reisenden.

Nach den Zeugenaussagen waren die Durchsagen "leise" bzw. "zu leise" (Zeugin Bl. 44 f. der Beiakten; Bl. 47 f.; Bl. 67 f., Bl. 71 f.) und "undeutlich" bzw. "von schlechter Qualität" (Bl. 74 f.; Bl. 111 f.). Lediglich der Zeuge (Bl. 57 f.) will die Durchsage über eine Gleisänderung gut gehört haben, wusste aber nichts von einer 2. Ansage, konnte letztere auch überhört haben. Der Zeuge (aaO.) glaubte, die Durchsage sei von einer Frau erfolgt. Der Reisendensicherer, der Zeuge Bl. 79 f., hatte - wohl wegen der Funkverbindung - auf die Durchsagen überhaupt nicht geachtet.

Unter diesen Umständen sieht auch der Senat die Durchsagen bewiesenermaßen als unzureichend an mit der Folge, dass eine objektive Pflichtverletzung der Bahnbediensteten anzunehmen ist. Daran ändert nichts der Umstand, dass nach dem Unfallbericht des Bundesgrenzschutzamts Stuttgart die Lautsprecher funktionierten, wovon auch der Senat ausgeht, und dass die Probeansagen "deutlich und gut zu verstehen waren."

Der Senat ist davon überzeugt und es entspricht der Lebenserfahrung, dass die Klägerin und die sie begleitende Freundin das Gleis 1 unmittelbar vor Einfahrt des herannahenden Zuges nicht betreten hätten, wäre die Gleisänderung durch wiederholte warnende und ausreichend gut verständliche Durchsagen bekanntgegeben worden.

3. Der Beklagten ist, zumindest was die Lautsprecherdurchsagen betrifft, ein Organisationsverschulden ihrer Organe (§ 31 BGB) anzulasten. Die Beklagte hat nach einem Hinweis des Senats im Termin zur mündlichen Verhandlung, worin er im Wesentlichen die ihr vorwerfbare Verkehrspflichtverletzung zu sehen gedenkt, zu diesem Punkt substantiiert nichts Entlastendes vorgetragen. Der Senat geht deshalb davon aus, dass für Gefahrensituationen, wie sie bei schienengleichem Übergang zum üblicherweise angefahrenen Hauptgleis und ausnahmsweiser Einfahrt eines Zuges auf einem Nebengleis entstehen können, inhaltliche Vorgaben an die Lautsprecherdurchsagen fehlen. Auch im übrigen fehlt es an substantiiertem Sachvortrag und ist nicht ersichtlich, ob seitens der Bahn dafür Sorge getragen wird, dass Durchsagen von Mitarbeitern über (unterstellt) technisch einwandfreie Lautsprecheranlagen für die Reisenden ausreichend verständlich sind. Letzteres müsste, da die akustische Information der Reisenden vor allem bei Gefahrenlagen von größter Wichtigkeit sein kann, von Zeit zu Zeit intern überprüft werden.

Abgesehen davon haftet die Beklagte jedenfalls für ihre Bediensteten als Verrichtungsgehilfen gemäß §§ 823 Abs. 1 und Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 223, 230 StGB; § 831 BGB. Denn Letztere haben bei der Vorbereitung der im konkreten Fall besonders gefahrenträchtigen Einfahrt eines Personenzuges objektiv Verkehrssicherungspflichten verletzt und rechtswidrig gehandelt. Ein Entlastungsbeweis hinsichtlich des die Beklagte treffenden Auswahl- und Überwachungverschuldens insoweit ist nicht in ausreichender Weise angetreten. Was insbesondere den Inhalt der Lautsprecherdurchsagen in Gefahrensituationen betrifft, fehlt es an substantiiertem Sachvortrag, in welcher Weise die Beklagte ihre Bediensteten anweist und überwacht.

4. Der Senat folgt den Ausführungen des Landgerichts zum Mitverschulden der Klägerin und zur Haftungsabwägung unter III. und IV. der Entscheidungsgründe. Ergänzend wird ausgeführt:

Das Eigenverschulden der Klägerin beim unvorsichtigen Betreten der Gleisanlage erscheint im Hinblick darauf gemildert, dass sie gewohnheitsmäßig handelte und, weil sie der aus den genannten Gründen unzureichenden Lautsprecherdurchsage offensichtlich keine oder nicht ausreichend Beachtung schenkte. An dieser Beurteilung ändert sich nichts durch den Umstand, dass auf Gleis 2 ein unbeleuchteter Zug abgestellt war. Letzteres ergibt sich aus der Aussage des Fahrdienstleiters, des Zeugen (aaO. Bl. 14 f.). Ein Personenzug hat wegen seines langen Bremsweges eine hohe Betriebsgefahr. Im konkreten Fall war diese Betriebsgefahr wegen des schienengleichen Übergangs, der Gleisänderung und der mangelhaften Lautsprecherdurchsage noch besonders erhöht. Deshalb ist der Mithaftungsanteil der Beklagten von derart hohem Gewicht, dass ein Zurücktreten der Betriebsgefahr ausscheidet.

5. Die ausführliche Begründung des Landgerichts zur Bemessung des Schmerzensgeldes ist ebenfalls zutreffend. Die Auswirkungen des Vorfußverlustes mögen sich durch angepasstes Verhalten der Klägerin künftig in Grenzen halten. Das ändert nichts daran, dass die Verletzung in vielerlei Hinsicht eine schwere Lebensbeeinträchtigung für die noch sehr junge Frau darstellt. Zu einer Herabsetzung des im ersten Rechtszug unter Berücksichtigung des Mithaftungsanteils festgesetzten, durchaus angemessenen Schmerzensgeldes besteht in dieser Hinsicht keinerlei Anlass.

6. Es verbleibt auch bei dem zuerkannten Zinsanspruch mit einem > Zinssatz von 4 %. Der Schadensersatzanspruch der Klägerin wurde vor dem für § 288 BGB n.F. maßgeblichen Stichtag (1.5.00) fällig.

B.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1, § 100 Abs. 1 ZPO.

Die vorläufige Vollstreckbarkeit und der Vollstreckungsschutz richten sich nach § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Beschwer wird nach §§ 3, 546 Abs. 2 a.F. ZPO festgesetzt.

Für eine Zulassung der Revision besteht kein Anlass, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO n.F. nicht erfüllt sind.

Ende der Entscheidung

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