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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht München
Beschluss verkündet am 09.08.2007
Aktenzeichen: 34 Wx 31/07
Rechtsgebiete: BPolG, GVG, VwGO


Vorschriften:

BPolG § 23
BPolG § 39
GVG § 17a Abs. 5
VwGO § 40 Abs. 1 Satz 1
1. Zur Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für die nachträgliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von polizeilichem Gewahrsam (hier: Maßnahme der Bundespolizei).

2. Vorläufiger polizeilicher Gewahrsam, der dazu dient, erst noch eine abschließende Gefahrenprognose treffen zu wollen, ist grundsätzlich unzulässig.


34 Wx 31/07

Beschluss

Der 34. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München hat unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Lorbacher, der Richterin am Oberlandesgericht Paintner und des Richters am Oberlandesgericht Dr. Stoll

am 9. August 2007

in der Freiheitsentziehungssache

wegen nachträglicher Feststellung der Rechtswidrigkeit von Polizeigewahrsam,

auf die sofortige weitere Beschwerde der Betroffenen vom 16.3.2007

beschlossen:

Tenor:

I. Auf die sofortige weitere Beschwerde der Betroffenen werden die Beschlüsse des Landgerichts München I vom 27. Februar 2007 und des Amtsgerichts München vom 4. August 2006 aufgehoben.

II. Auf Antrag der Betroffenen wird festgestellt, dass deren polizeilicher Gewahrsam am Samstag, den 14. Januar 2006, von circa 13.30 Uhr bis 17.15 Uhr von Anfang an dem Grunde nach rechtswidrig war.

III. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Betroffenen die Kosten, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren, zu erstatten.

Gründe:

I.

Die beiden Antragsteller begehren als Betroffene eines (bundes-)polizeilichen Gewahrsams die nachträgliche Feststellung, dass die knapp vierstündige Freiheitsentziehung durch die Bundespolizei am 14.1.2006 von Anfang an rechtswidrig war.

Die Polizeimaßnahme stand im Zusammenhang mit genehmigten Kundgebungen von Rechtsextremisten einerseits und zwei Gruppen des linken Spektrums andererseits am Nachmittag des 14.1.2006 (samstags) in der Münchner Innenstadt, bei deren ungehindertem Aufeinandertreffen auch bei der An- und Abreise Gewalttätigkeiten einzukalkulieren waren. Die Betroffenen wurden gegen 13.25 Uhr im Bereich des südlichen Querbahnsteigs des Münchner Hauptbahnhofs gemeinsam mit zwei weiteren Begleitern einer Personenkontrolle durch die Bundespolizei unterzogen, weil sie den Eindruck erweckten, sie würden die Lage sondieren. Zu diesem Zeitpunkt befand sich eine Gruppe von mindestens 80 Neonazis im mittleren Bereich des Querbahnsteigs beim so genannten Service-Point. Die Personenkontrolle konnte nur unter Hinzuziehung einer zweiten Einsatzgruppe vollzogen werden, weil die Betroffenen und ihre Begleiter Personalien und die Aushändigung von Ausweispapieren zunächst verweigerten und dabei laut und aggressiv wurden. Zur gleichen Zeit bewegte sich eine Gruppe von rund 200 Personen der linken Szene in Höhe des Deutschen Theaters im Laufschritt Richtung Hauptbahnhof. Nach abgeschlossener Identitätsfeststellung, die hinsichtlich beider Betroffener relevante INPOL-Daten erbrachte, ordnete die Einsatzleitung gegen 13.30 Uhr deren Verbringung zur Dienststelle der Bundespolizei im Hauptbahnhof an. Um ein Aufeinandertreffen linker und rechter Gruppierungen zu verhindern, wurde um diese Zeit ferner angeordnet, u.a. die Rolltore am südlichen Bahnhofsausgang herunterzulassen.

Gegen 13.50 Uhr wurden die Betroffenen auf der Dienststelle den dort tätigen Kollegen übergeben, über ihren Verbleib und ihre Rechte belehrt sowie ab 14.20 Uhr befragt, um Erkenntnisse über von ihnen ausgehende polizeilich relevante Gefahren zu gewinnen. Auf die gegen 14.30 Uhr vom polizeilichen Einsatzleiter an sie gerichtete Frage, ob von ihnen Straftaten zu erwarten seien, antworteten die Betroffenen in aggressiver Manier, dass dies die Polizei nichts anginge und man schon sehen werde, was sie machen würden.

Die Betroffenen wurden gegen 14.40 Uhr durchsucht und anschließend in die Gewahrsamsräume verbracht. Um 15.00 Uhr wurde festgestellt, dass im Polizeipräsidium München weitere Unterlagen über die Betroffenen vorhanden waren, die für eine abschließende Gefahrenprognose erheblich sein konnten. Die Sichtung dieser Unterlagen nahm eine Zeit bis etwa 16.30 Uhr in Anspruch. Zu diesem Zeitpunkt ordnete die Polizeibehörde Unterbindungsgewahrsam an und informierte hiervon den anwesenden Verfahrensbevollmächtigten der Betroffenen. Sodann bereitete die Polizei die richterliche Vorführung der Betroffenen vor, stellte dafür die Akten zusammen und nahm Kontakt mit dem diensthabenden Staatsanwalt auf. Nach Beendigung der Demonstrationsveranstaltungen kurz nach 17.00 Uhr wurden beide Betroffene um 17.15 Uhr ohne richterliche Vorführung aus dem Gewahrsam entlassen.

Die Antragsteller haben jeweils am 13.2.2006 beim Amtsgericht beantragt, die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung am Nachmittag des 14.1.2006 von Anfang an dem Grunde nach festzustellen. Das Amtsgericht hat nach Beweisaufnahme mit Beschlüssen vom 4.8.2006 die Feststellungsanträge abgelehnt. Das Landgericht hat die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen sofortigen Beschwerden mit Beschluss vom 27.2.2007 zurückgewiesen. Gegen den landgerichtlichen Beschluss richtet sich die sofortige weitere Beschwerde der Betroffenen.

II.

1. Das Rechtsmittel der Betroffenen gegen die landgerichtliche Beschwerdeentscheidung ist statthaft und auch im Übrigen zulässig (vgl. § 40 Abs. 2 Satz 2 BPolG, § 3 Satz 2 FreihEntzG, §§ 20, 22 Abs. 1, § 29 Abs. 1 und 4 FGG).

Fraglich mag sein, ob für die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit von Freiheitsentziehungsmaßnahmen, die die Bundespolizei auf der Grundlage von § 39 BPolG angeordnet hat und die sich erledigt haben, bevor das Amtsgericht über die Aufrechterhaltung entschieden hatte, der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet ist. Die in Art. 18 Abs. 2 PAG getroffene Klarstellung der Rechtswegfrage erfasst nur die Polizei des Freistaats Bayern (Art. 1 PAG). Im Übrigen dürfte es mangels Sonderregelung im Bundespolizeigesetz (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für die im Raum stehende öffentlich-rechtliche Streitigkeit bei dem Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten bleiben (vgl. Rachor in Lisken/Denninger Handbuch des Polizeirechts 3. Aufl. F Rn. 538; OVG Thüringen DÖV 1999, 879; siehe auch OVG Münster NJW 1990, 3224). Die Frage bedarf jedoch keiner abschließenden Klärung, weil der Senat gemäß § 17a Abs. 5 GVG als Rechtsbeschwerdegericht nicht mehr zu prüfen hat, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist. Eine Bindung ist insoweit eingetreten, weil der ordentliche Rechtsweg weder nach Auffassung des Tatrichters zweifelhaft war noch von einem Beteiligten gerügt wurde (vgl. Zöller/Gummer ZPO 26. Aufl. § 17a GVG Rn. 18; Musielak/Wittschier ZPO 5. Aufl. § 17a GVG Rn. 3 und 19). Dieser gesetzlich angeordneten Bindungswirkung steht weder der Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) noch Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG entgegen, der für Freiheitsentziehungen ein förmliches Gesetz und die Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen verlangt. Denn durch § 17a Abs. 5 GVG wird der tätig gewordene Richter zum gesetzlichen Richter; das durch Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG vorgeschriebene förmliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen ist davon nicht berührt.

Nicht von der Antragstellung umfasst ist die Rechtmäßigkeit von weiteren vor und während der Freiheitsentziehung vorgenommenen Eingriffsmaßnahmen wie etwa der Identitätsfeststellung oder der Durchsuchung der Betroffenen.

Bei beendeten Freiheitsentziehungen besteht nach ständiger Rechtsprechung im Hinblick auf den hohen Wert des Freiheitsrechts (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) regelmäßig, so auch hier, ein fortwährendes Rechtsschutzinteresse an einer Sachentscheidung über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs (siehe nur BVerfG NJW 2002, 3161 m.w.N.).

2. Das Landgericht hat zur Sache ausgeführt:

Die Beschwerde sei nicht begründet. Zwar treffe es zu, dass die Verbringung zur Dienststelle nicht auf die Befugnis zur Identitätsfeststellung gestützt werden könne; denn die Identität sei bereits zuvor an Ort und Stelle geklärt gewesen. Die Rechtmäßigkeit der Eingriffsmaßnahmen, die der förmlichen Anordnung von Gewahrsam vorausgegangen seien, müsse vielmehr an der Befugnisnorm für die Ingewahrsamnahme selbst gemessen werden.

Die Voraussetzungen für einen Polizeigewahrsam gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG hätten zum Zeitpunkt der Anordnung, die Betroffenen zur Dienststelle zu verbringen, vorgelegen. Für die Beurteilung der Gefahrenprognose sei auf die objektive ex-ante-Perspektive eines fähigen, besonnenen und sachkundigen Polizeibeamten abzustellen, der hierbei sämtliche ihm bekannten Gesichtspunkte würdigt. Die Betroffenen hätten sich durch ihr Verhalten in den Verdacht einer Rädelsführerschaft hinsichtlich sich konkret abzeichnender Ausschreitungen zwischen linken und rechten Demonstranten gebracht und die Verdachtsmomente durch ihr aggressives und uneinsichtiges Verhalten bei der Personenkontrolle erhärtet. Zusätzlich hätten polizeiliche Erkenntnisse über Verstöße der Betroffenen gegen das Versammlungsgesetz und über politisch motivierte Sachbeschädigungen bestanden. In der sich zuspitzenden Gefahrenlage im Bereich des Hauptbahnhofs sei die Ingewahrsamnahme gerechtfertigt gewesen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei beachtet worden, was sich daran zeige, dass die Beamten zwischen den sich renitent verhaltenden Betroffenen einerseits und deren beiden Begleitern andererseits unterschieden hätten; bei letzteren habe ein Platzverweis ausgereicht.

Festhaltung auf der Dienststelle sowie Durchsuchung und Verbringung in die Gewahrsamsräume seien durch das weitere Verhalten der Betroffenen gerechtfertigt gewesen, die sich nicht nur durch Worte und Gesten aggressiv gezeigt hätten, sondern auf entsprechende Fragen nicht einmal zu einer verbalen Ankündigung friedfertigen Verhaltens bereit gewesen seien. Auch zu dieser Zeit sei die Entscheidung daher nachvollziehbar, dass die Entlassung unter Erteilung eines Platzverweises als milderes Mittel gegenüber einer Ingewahrsamnahme nicht ausreiche.

Entlassungsreife im Sinn von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BPolG sei im Zeitpunkt der Verbringung in die Gewahrsamsräume nicht schon deshalb gegeben gewesen, weil sich zu diesem Zeitpunkt das Demonstrationsgeschehen vom Zuständigkeitsbereich der Bundespolizei wegbewegt habe. Vielmehr habe sich die Lage zu diesem Zeitpunkt insgesamt so zugespitzt gehabt, dass von der zuständigen Landespolizei zusätzliche Einsatzkräfte der Bundespolizei angefordert worden seien. Dann aber sei zu erwarten gewesen, dass die Betroffenen sich im Fall einer Entlassung ebenfalls zum Geschehensort begeben und sich dort an Tätlichkeiten gegen Personen oder Sachen beteiligen würden. Davon sei der verantwortliche Beamte ersichtlich ausgegangen, als er um 16.30 Uhr die Ingewahrsamnahme der Betroffenen ausdrücklich angeordnet habe.

Grundsätzlich habe nach der Lagebeurteilung auch die Abreisephase der Demon-stranten mit möglichen Tätlichkeiten im Bereich des Hauptbahnhofs in die Abwägung einbezogen werden müssen. Aufgrund der Eskalation in der Mittagszeit sei an erneute Ausschreitungen größerer gewaltbereiter Gruppen zu denken gewesen, bei denen eine Beteiligung der Betroffenen im Raum stand. Zu einer abweichenden Lagebeurteilung sei man erst gekommen, als sich die Kundgebungen der linken Demonstranten ordnungsgemäß um 17.00 Uhr aufgelöst hätten. Die Betroffenen seien sodann unverzüglich entlassen worden.

Eine zögerliche Herbeiführung der richterlichen Entscheidung (§ 40 Abs. 1 BPolG) sei nicht ersichtlich. Zeitgleich hätten auch noch andere Personen befragt werden müssen; aufgrund der Polizeieinsätze sei auf der Dienststelle nur reduziertes Personal vorhanden gewesen, Unterlagen hätten erst vom Polizeipräsidium München beschafft und anschließend auch die Akten für die beabsichtigte richterliche Vorführung zusammengestellt werden müssen.

3. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung durch den Senat (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 2 FGG, §§ 546, 559 Abs. 2 ZPO) im Ergebnis nicht stand. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die polizeiliche Ingewahrsamnahme der beiden Betroffenen in Form des Präventivgewahrsams lagen zu keinem Zeitpunkt vor.

a) Zutreffend leitet die Kammer eine Befugnis zur Verbringung der Betroffenen zur Dienststelle und deren Festhaltung nicht aus den Vorschriften über die Identitätsfeststellung ab (§ 23 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 Satz 4 BPolG; vgl. BVerfG NVwZ 1992, 767). Denn die Identitätsfeststellung war beim Einsetzen dieser Maßnahme bereits abgeschlossen. Auf die allgemeine polizeiliche Befugnisnorm (§ 14 Abs. 1 BPolG) lässt sich das Vorgehen ebenso wenig stützen. Vielmehr beurteilt sich die Rechtmäßigkeit unmittelbar anhand der Tatbestandsvorausetzungen für die spezielle Befugnisnorm; dies ist hier § 39 BPolG. Eine Befugnisnorm zur Entziehung der Freiheit aus Gründen der Gefahrenerforschung hat der Gesetzgeber nicht geschaffen.

Unter Gewahrsam ist ein mit hoheitlicher Gewalt hergestelltes Rechtsverhältnis zu verstehen, kraft dessen einer Person die Freiheit in der Weise entzogen ist, dass sie von der Polizei in einer den polizeilichen Zwecken entsprechenden Weise verwahrt und daran gehindert wird, sich zu entfernen (vgl. nur Honnacker/Beinhofer PAG 18. Aufl. Art. 17 Rn. 2). Abzugrenzen vom Gewahrsam als einer Freiheitsentziehung ist die bloße Freiheitsbeschränkung. Nach Zielrichtung und Intensität des gegenständlichen Eingriffs diente dieser von Anfang an nicht einem anderen Zweck als gerade der polizeilichen Verwahrung, mag auch deren Dauer bei Beginn noch nicht zeitlich absehbar gewesen sein und hätte sich diese damit auch nur ganz kurzfristig gestalten können. Teilweise wird erwogen, der Polizei einen schmalen Zeitkorridor zuzubilligen, in dem sie die Befugnis zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit besäße, um zu prüfen, ob über einen Gefahrenverdacht hinaus (dazu Heesen/Hönle/Peilert BGSG 4. Aufl. § 14 Rn. 28; Denninger in Lisken/Denninger E Rn. 38; siehe auch OVG Münster DVBl 1979, 733) tatsächlich eine konkrete Gefahr besteht und auch sonst die Voraussetzungen einer Ingewahrsamnahme vorliegen. Dieser Zeitraum wäre aber hier nach rund drei Stunden bis zur förmlichen Anordnung gegen 16.30 Uhr erkennbar überschritten gewesen (vgl. Rachor in Lisken/Denninger F Rn. 486/487).

b) Die polizeiliche Verwahrung einer Person zur Verhinderung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung (Präventivgewahrsam) ist ein Eingriff in die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG). Dieses Grundrecht nimmt einen hohen Rang ein; die Freiheit der Person ist ein besonders hohes Rechtsgut (BVerfG NJW 2002, 3161), was sich auch aus seiner verfahrensmäßigen Absicherung in Art. 104 GG erschließt. Die Entziehung der Freiheit muss daher stets durch gewichtige Gründe gerechtfertigt sein. Zu den Belangen des Gemeinwohls, gegenüber denen die Freiheit des Einzelnen unter Umständen zurücktreten muss, gehört der Schutz der Allgemeinheit und Einzelner vor mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten. Die öffentliche Sicherheit und das berechtigte Sicherheitsbedürfnis der Gemeinschaft wären ungenügend geschützt, wenn die Polizei ernstlich zu befürchtende Taten nicht auch durch unmittelbare Einschränkung der persönlichen Freiheit verhindern dürfte. Zum Schutz der öffentlichen Ordnung vor Rechtsbrüchen ist daher die präventiv-polizeiliche Ingewahrsamnahme notwendig und grundsätzlich zulässig (BVerwGE 45, 51/55 f.; BayVerfGH vom 2.8.1990 = VerfGHE 43, 107/128).

c) Für seine Beurteilung geht der Senat davon aus, dass die INPOL-Überprüfung anlässlich der Identitätsfeststellung für beide Betroffene als solche grundsätzlich verwertbare polizeiliche Daten ergab. Insoweit lassen sich die in Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 PAG aufgeführten Prognosehilfen ergänzend für die Auslegung des hier maßgeblichen Tatbestands von § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG mit heranziehen; der Grundtatbestand ist in beiden Vorschriften nämlich der gleiche (vgl. VerfGHE 43, 107/127.). Anzumerken ist allerdings, dass die landgerichtliche Entscheidung insoweit lückenhaft ist, als sie ohne hinreichend genaue Darstellung von "relevanten Daten" spricht, dazu aber entgegen § 12 FGG nichts Näheres ausführt, obwohl dies für die Tragfähigkeit der damit verbundenen Prognose bedeutsam ist und sich die Angaben der beteiligten Polizeibeamten zu Anzahl und Gegenständen der im INPOL vermerkten Erkenntnisse nicht vollständig decken. Die später nach Aktenbeiziehung gewonnenen Erkenntnisse ändern daran nichts, weil die ex-ante-Sicht maßgeblich ist. Letztlich kommt es darauf aber nicht entscheidend an. Auch wenn im Inpol-System "relevante Daten" für die Betroffenen vorliegen, erlauben vage Verdachtsgründe, die für die Annahme des Grundtatbestands, nämlich das unmittelbare Bevorstehen der Tat, nicht ausreichen, keinen Gewahrsam (VerfGHE 43, 107/127).

d) Für die auf Grund von Vortaten zu treffende Gefahrenprognose muss noch hinzutreten, dass nach den konkreten Umständen eine Wiederholung dieser Verhaltensweisen zu erwarten ist (Rachor in Lisken/Denninger Rn. F 513). Derartige Anhaltspunkte bilden insbesondere, aber nicht ausschließlich, das Ankündigen der Tat oder das Auffordern dazu, das Mitführen bestimmter Gegenstände, die zur Tatbegehung auffordern oder zur Tatbegehung bestimmt sind oder erfahrungsgemäß dazu verwendet werden (vgl. Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und b PAG). Ist dies der Fall, so kann typischerweise davon ausgegangen werden, dass eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit mit erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit unmittelbar bevorsteht und damit eine gegenwärtige Gefahr gegeben ist (vgl. BVerwGE 45, 51/57 f.).

(1) Aus dem die Personenkontrolle nach § 23 Abs. 1 Nr. 4 BPolG auslösenden Vorverhalten, nämlich dem gewonnenen Eindruck, die Betroffenen würden die Lage sondieren, vermag der Senat derart hinreichend konkrete zusätzliche Anhaltspunkte für eine Ingewahrsamnahme nicht zu entnehmen. Der Eingriff widerspräche jedenfalls dem Übermaßverbot. Auch die Bundespolizei zog aus dem festgestellten Vorverhalten nicht den Schluss, die Betroffenen in Gewahrsam nehmen zu können, sondern sah allenfalls eine Befugnis, weitere Gefahrenerforschung mit dem Ziel zu betreiben, um sodann über eine Ingewahrsamnahme entscheiden zu können.

(2) Eine davon abweichende Gefahrenprognose erlaubte auch nicht das bei der Identitätsfeststellung gezeigte Verhalten der beiden Betroffenen. Deren verbale Attacken ("Was soll die Scheiß-Kontrolle? Was soll der Scheiß? Warum kontrolliert Ihr nicht die Scheiß-Nazis?") bei Gelegenheit der polizeilichen Eingriffsmaßnahme nach § 23 Abs. 3 BPolG rechtfertigten hier nicht den Schluss auf eine relevante Gefahr, weil die Personenkontrolle nach einigem Hin und Her letztlich doch noch problemlos und in der Sache erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Die Betroffenen waren damit aus der Anonymität herausgehoben. Von einer Gefahrenerhöhung derart, dass der Eintritt eines Schadens nun sofort und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen wäre (BVerwGE 45, 51/58), kann nicht gesprochen werden.

e) Die weitere Festhaltung der Betroffenen in der Dienststelle lässt sich nicht durch eine neue Gefahreneinschätzung aufgrund ihrer gegen 14.20 Uhr durchgeführten Befragung rechtfertigen. Die vom Tatrichter festgestellten Verhaltensweisen wie mangelnde Kooperationsbereitschaft, Verbreiten einer unangenehmen Gesprächsatmosphäre, Offenlassen ihres zukünftigen Verhaltens, unvermitteltes Aufspringen und als aggressiv gedeutete Gestik sind teils wenig konkret, teils ambivalent. Folgerichtig hat auch der verantwortliche Beamte zu diesem Zeitpunkt keine abschließende Gefahrenprognose treffen wollen, sondern auf zusätzliche Erkenntnisse aus den bei einer anderen Dienststelle geführten Verfahrensakten gebaut.

f) Die nach Beiziehung der Akten gegen 16.30 Uhr gewonnenen Zusatzerkenntnisse sind nicht geeignet, die vorangegangene wie die noch anschließende Freiheitsentziehung zu rechtfertigen. Denn es fehlt jedenfalls an tragfähigen zusätzlichen Anhaltspunkten (vgl. oben zu d), dass nach den Umständen eine Wiederholung dieser Verhaltensweisen zu erwarten ist. Ob zu diesem Zeitpunkt infolge des bevorstehenden Abschlusses der Kundgebungen und der Verlagerung noch laufender Aktionen vom Hauptbahnhof weg eine Unmittelbarkeit der unterstellten Gefahr noch zu bejahen war, kann offen bleiben.

4. Die Entscheidung, dass den Betroffenen die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Kosten (Auslagen) zu erstatten sind, beruht auf § 13a Abs. 1 FGG. Der Anwendungsbereich des spezielleren § 16 FreihEntzG ist nicht eröffnet. Es erscheint angesichts des im Raum stehenden hohen Schutzguts (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und der damit verbundenen Schwere des Eingriffs, aber auch im Hinblick auf die nicht einfache Sach- und Rechtslage und die finanzielle Leistungsfähigkeit des Erstattungsgegners, angemessen, eine entsprechende Anordnung zu treffen.

Ende der Entscheidung

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