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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 25.03.2002
Aktenzeichen: 1 U 111/01
Rechtsgebiete: EGZPO, ZPO


Vorschriften:

EGZPO § 26 Nr. 7
EGZPO § 26 Nr. 8
ZPO § 543
ZPO § 711 S. 1
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 544 Abs. 1 S. 1
ZPO § 543 Abs. 2 n.F.
ZPO § 540 Abs. 1 Nr. 1 n.F.
1. Die Leitlinien der AMWF haben unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Fundierung derzeit lediglich Informationscharakter für die Ärzte selbst. Einer weiter gehenden Bedeutung, etwa als verbindlicher Handlungsanleitung für praktizierende Ärzte, steht zumindest derzeit die anhaltende Diskussion um ihre Legitimität als auch um ihre unterschiedliche Qualität (siehe Bemühungen um ihre schrittweise Implementierung nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin) und Aktualität (angesichts des teilweise rasanten Fortschritts in der medizinischen Wissenschaft und Praxis) entgegen.

2. Forensisch betrachtet sind die Leitlinien der AMWF wegen ihres abstrakten Regelungsgehalts grundsätzlich auch nicht geeignet, ein auf den individuellen Behandlungsfall gerichtetes Sachverständigengutachten zu ersetzen (Bestätigung des Urteils des Senats vom 19.12.2001, 1 U 46/01).


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 111/01 Oberlandesgericht Naumburg

verkündet am: 25.03.2002

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Zink und die Richter am Oberlandesgericht Geib und Wiedemann auf die mündliche Verhandlung vom

25. März 2002

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 14. August 2001 verkündete Urteil des Landgerichts Magdeburg, Az.: 9 O 1074/00, wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch die Beklagte wegen deren außergerichtlicher Auslagen durch Sicherheitsleistung in Höhe von 5.500 EUR abzuwenden, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer der Klägerin übersteigt 20.000 EUR.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 70.000 DM wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung.

Bei der Klägerin wurde am 17. Mai 1996 ein 2 cm breiter und 4 cm hoher Tumor im Kleinhirn-Brückenwinkel operativ entfernt. Die Operation führte - ohne ärztliches Verschulden - zu einer komplexen linksseitigen Parese (d.h. einer unvollständigen Lähmung) mit Folgeerscheinungen, die im Einzelnen zwischen den Parteien streitig sind. Die Klägerin behauptet, dass die Beklagte, eine Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, bei der sich die Klägerin seit November 1993 wegen linksseitiger Schmerzen im Gesicht in ambulanter Behandlung befunden hatte, diesen Tumor zu spät erkannt habe. Die Beklagte hätte bereits im Mai 1994 Veranlassung gehabt, eine Einweisung in eine stationäre Behandlung vorzunehmen bzw. zumindest eine Magnetresonanztomographie (künftig: MRT) zu veranlassen, die - was zwischen den Parteien des Rechtsstreits unstreitig ist - zu einem frühzeitigeren Entdecken des Tumors geführt hätte. Die Klägerin behauptet weiter, dass eine bereits im Mai 1994 durchzuführende Operation nicht zu den Komplikationen geführt hätte, die die Operation im Mai 1996 zur Folge hatte.

Wegen der Einzelheiten nimmt der Senat auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO n.F..

Das Landgericht hat die Klage mit seinem auf die mündliche Verhandlung vom 31. Juli 2001 ergangenen und am 14. August 2001 verkündeten Urteil abgewiesen. Zur Begründung hat sich das Gericht im Wesentlichen darauf gestützt, dass im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme, insbesondere durch Verwertung eines vorgerichtlichen Gutachtens im Urkundsbeweis, durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens sowie durch Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen, des damaligen Chefarztes der Neurochirurgischen Klinik der Medizinischen Hochschule H. und heutigen Leiters der INI-Klinik H. , Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. M. S. , von der Klägerin nicht bewiesen worden sei, dass die Beklagte überhaupt einen Behandlungsfehler begangen habe. Vielmehr habe sie im Mai 1994 zur differentialdiagnostischen Überprüfung ihrer Diagnose "atypische Trigeminus-Neuralgie" eine Überweisung an einen Facharzt für Radiologie vorgenommen; auf dessen - im Wesentlichen befundfreie - Diagnose habe sie vertrauen dürfen.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihren Klageanspruch in voller Höhe weiter. Wegen der Einzelheiten des Berufungsvorbringens wird auf den Inhalt der Schriftsätze vom 24. Oktober 2001 und vom 19. März 2002 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig; insbesondere wurde sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

1. Das Landgericht hat in seinem angefochtenen Urteil zutreffend festgestellt, dass die Beklagte im Rahmen der neurologischen Behandlung der Klägerin nicht gegen den fachärztlichen Standard verstoßen hat, insbesondere auch nicht im Frühjahr 1994. Dieses Beweisergebnis hat die Klägerin mit ihrem Berufungsvorbringen nicht entkräftet.

1.1. Der gerichtliche Sachverständige hat ausgeführt, dass die Wahl der geeigneten bildgebenden Diagnostik allein dem - von der Beklagten um Mitwirkung ersuchten - Facharzt für Radiologie, Dr. med. W. , oblag. Dieser hatte - ausgehend von dem in der Überweisung angegebenen Untersuchungszweck - eigenverantwortlich zu entscheiden, welche Untersuchungsmethode er zur Verifizierung bzw. Falsifizierung der von ihm begehrten Ausschlussdiagnose anwendet.

1.2. Dem steht der Inhalt der von der Klägerin zitierten Leitlinie "Trigeminus-Neuralgie" der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vom 14. Januar 1997 im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AMWF) nicht entgegen.

1.2.1. Insoweit ist zunächst anzumerken, dass die Leitlinien der AMWF unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Fundierung derzeit lediglich Informationscharakter für die Ärzte selbst haben und haben sollen. Einer weiter gehenden Bedeutung, etwa als verbindlicher Handlungsanleitung für praktizierende Ärzte, steht zumindest derzeit die anhaltende Diskussion um ihre Legitimität als auch um ihre unterschiedliche Qualität (siehe Bemühungen um ihre schrittweise Implementierung nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin) und Aktualität (angesichts des teilweise rasanten Fortschritts in der medizinischen Wissenschaft und Praxis) entgegen (vgl. Urteil des Senats vom 19. Dezember 2001, 1 U 46/01).

1.2.2. Forensisch betrachtet sind die Leitlinien der AMWF wegen ihres abstrakten Regelungsgehalts grundsätzlich auch nicht geeignet, ein auf den individuellen Behandlungsfall gerichtetes Sachverständigengutachten zu ersetzen (Bestätigung des Urteils des Senats vom 19.12.200, 1 U 46/01). Dies zeigt sich hier augenfällig, denn hinsichtlich der von der Klägerin aufgestellten Behauptung, dass im Jahre 1994 bei den bei ihr gegebenen Voraussetzungen eine Untersuchung mittels MRT neurologischer Facharztstandard gewesen sei, ist die Leitlinie - erwartungsgemäß - unergiebig. Darin heißt es lediglich:

"Untersuchungen: ... notwendig: ... CCT / ggf. MRT von Schädel und Felsenbein, ggf. radiologische Nativ-Diagnostik ... Im Einzelfall erforderlich: Ausschluss Multipler Sklerose (..., MRT) ..."

Die Hervorhebungen (durch den Senat) zeigen, dass sich Art und Umfang der gerätegestützten Befunderhebung im Einzelfall unterscheiden können; nachvollziehbar ist jedenfalls eine Differenzierung je nach dem Ergebnis der klinischen Untersuchung sowie der Anamnese.

1.2.3. Im vorliegenden Fall schließlich scheitert eine Berufung der Klägerin auf die o.g. Leitlinie weiter daran, dass diese im Jahre 1994 noch nicht vorlag. Das Programm der AMWF begann nach Kenntnis des Senats erst im Jahre 1995.

1.3. Selbst wenn die Beklagte, ihrer eigenen Auffassung Ausdruck verleihend oder dem von der Klägerin behaupteten Wunsche folgend, eine bestimmte Untersuchungsmethode (CT oder MRT) vorgeschlagen hätte, änderte dies nichts daran, dass für die Einhaltung des radiologischen fachärztlichen Standards ausschließlich der Radiologe Verantwortung trägt. Etwas Anderes könnte hier nur dann gelten, wenn die Beklagte sich diese Entscheidung über die anzuwendende Untersuchungsmethode selbst angemaßt und den Radiologen ohne Information über den Zweck der begehrten Aufnahme lediglich zur Fertigung der Aufnahme (ohne Auswertung) eingeschaltet hätte. Dafür liegen hier jedoch keine Anhaltspunkte vor; vielmehr ergibt sich im Gegenteil bereits aus dem Schreiben des o.g. Radiologen vom 11. Mai 1994, dass er den Zweck seiner Untersuchungen und die vorläufige Diagnose der Beklagten kannte.

1.4. Die Beklagte durfte, wie der gerichtliche Sachverständige und - ihm folgend - das erstinstanzliche Gericht zutreffend ausgeführt haben, die - fehlerhafte - Diagnose des Radiologen, wonach kein Anhaltspunkt für ein Tumorgeschehen im Kleinhirnbereich bestand, als zutreffend hinnehmen. Insbesondere liegt kein Behandlungsfehler darin, dass die Beklagte nicht erkannt hat, dass die vom o.g. Radiologen angewandte Untersuchungsmethode (CT) in der hier erfolgten Handhabung (ohne Kontrastmittel und mit relativ weit auseinander liegenden Bildschnitten) nicht geeignet war, einen Tumor im Kleinhirnbereich zuverlässig auszuschließen. Ob etwas Anderes gelten könnte, wenn die Methode generell ungeeignet gewesen wäre, kann daher hier dahin stehen.

1.5. Mangels solcher für die Beklagte im Jahre 1994 erkennbarer Anhaltspunkte für ein Tumorgeschehen kam eine Einweisung der Klägerin zur stationären Behandlung aus neurologischer Sicht nicht in Betracht.

2. Darüber hinaus ist anzumerken, dass die Klage selbst dann, wenn das Verhalten der Beklagten als fehlerhaft zu bewerten gewesen wäre, unbegründet wäre. Denn die Klägerin hat nach dem Ergebnis der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme auch nicht nachgewiesen, dass eine frühzeitigere Operation nicht zu den gleichen Folgeerscheinungen, wie die Operation vom 17. Mai 1996, geführt hätte. Insoweit reicht es - entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht aus, dass ein Wachstum des Tumors in der Zeit von 1994 bis 1996 nicht auszuschließen ist; es bedarf des positiven Nachweises eines solchen Wachstums und der Verstärkung der Umwachsung des Nervus facialis (d.h. des Hirnnervs). Dieser ist, wie sich aus den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen unmissverständlich ergibt (vgl. Gutachten S. 9 f., GA Bd. I Bl. 106 f.), heute nicht mehr zu führen.

3. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

4. Die weiteren Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 26 Nrn. 7 und 8 EGZPO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 sowie 543, 544 Abs. 1 S. 1 ZPO n.F.. Da die mündliche Verhandlung im Berufungsverfahren nach dem 01. Januar 2002 erfolgte, richtet sich die Zulässigkeit von Rechtsmitteln gegen diese Entscheidung nach der nunmehr geltenden Fassung der ZPO, was bereits bei Abfassung des Berufungsurteils zu berücksichtigen war.

Die Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO n.F. war nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.

Ende der Entscheidung

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