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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Beschluss verkündet am 13.10.2006
Aktenzeichen: 1 Verg 7/06
Rechtsgebiete: GWB, VOB/A


Vorschriften:

GWB § 113 Abs. 1
VOB/A § 26 Nr. 1
1. Für die Wahrung der Entscheidungsfrist des § 113 Abs. 1 GWB ist es ausreichend, wenn die Entscheidung der Vergabekammer vor Fristablauf vollständig abgesetzt und zur Geschäftsstelle gelangt ist. Hierfür ist nicht erforderlich, dass auch die Bekanntgabe der Entscheidung gegenüber allen Verfahrensbeteiligten innerhalb der Entscheidungsfrist bereits bewirkt ist.

2. Die Anordnung der Fortsetzung der Ausschreibung mit dem Ziel einer Zuschlagserteilung kommt nicht nur bei irrtümlicher Aufhebung der Ausschreibung in Betracht, sondern auch dann, wenn der öffentliche Auftraggeber seine Absicht, die ausgeschriebene Leistung von Dritten zu beschaffen, unverändert aufrecht erhält und ihm tatsächlich kein sachlicher Grund, insbesondere kein Grund i.S.v. § 26 Nr. 1 VOB/A, für die Aufhebung zur Seite steht bzw. wenn die Aufhebung selbst im Falle des Vorliegens eines sachlichen Grundes nicht verhältnismäßig ist.

3. Eine unvollständige Dokumentation des Wertungsprozesses sowie der Grundlagen für die Entscheidung zur Aufhebung einer Ausschreibung kann zu Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr zugunsten des Bieters führen, der geltend macht, dass die Aufhebungsgründe vorgeschoben oder manipuliert sind.

4. Zur Feststellung der Unverhältnismäßigkeit der Aufhebung einer Ausschreibung wegen der Besorgnis von Preiserhöhungen aufgrund verzögerter Auftragsvergabe.


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG Beschluss

1 Verg 7/06 OLG Naumburg

verkündet am: 13. Oktober 2006

In dem Vergabenachprüfungsverfahren (Beschwerdeverfahren)

betreffend die u.a. im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 24. März 2005 ausgeschriebene Vergabe des Bauauftrages "Bundesautobahn A ... Neubau (Erd- und Deckenbau) der Bundesautobahn auf 5,9 km Länge und Neubau des Bauwerks BW ... einschließlich Blendschutzwand",

hat der Vergabesenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch die Richter am Oberlandesgericht Wiedemann und Grimm und den Richter am Amtsgericht Dr. Giesen auf die mündliche Verhandlung vom

4. September 2006

beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss der 2. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt des Landes Sachsen-Anhalt vom 23. Mai 2006, 2 VK LVwA 17/06, wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Antragsgegnerin statt der Wiederholung der Wertung unter Berücksichtigung der Rechtsansichten der Nachprüfungsinstanzen aufgegeben wird, den Zuschlag in diesem Vergabeverfahren bis zum 14. November 2006 zu erteilen auf das Hauptangebot der Antragstellerin zu 1).

Für den Fall der Nichterfüllung dieser Anweisung wird der Antragsgegnerin die Verhängung eines Zwangsgeldes bis zu einer Höhe von 500.000 EUR angedroht.

Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Auslagen beider Antragstellerinnen zu tragen.

Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 436.000 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Antragsgegnerin, vertreten durch eine Beteiligungsgesellschaft privaten Rechts zur Planung, Bauvorbereitung und Baudurchführung für die Bundesfernstraßenprojekte Deutsche Einheit, deren Gesellschafter zu 50 % der Bund und zu je 10 % die Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind, schrieb Mitte März 2005 den oben genannten Bauauftrag EU-weit im Offenen Verfahren auf der Grundlage der Verdingungsordnung für Bauleistungen (VOB) - Ausgabe 2002 - zur Vergabe aus. Der geschätzte Auftragswert netto liegt etwa bei mehr als 7,5 Mio. EUR.

In der Bekanntmachung der Ausschreibung ist als Ausführungszeitraum die Zeit vom 10. August 2005 bis zum 31. August 2007 angegeben (Ziffer II.3.). Der Zuschlag soll auf das wirtschaftlich günstigste Angebot erteilt werden aufgrund der in den Verdingungsunterlagen genannten Kriterien (Ziffer IV.2.). Die Verdingungsunterlagen enthalten unter Ziffer 9 der Aufforderung zur Angebotsabgabe vom 7. April 2005 als maßgebende Kriterien für die Angebotswertung nachfolgende Aufzählung: "Preis, Betriebs- und Folgekosten, technischer Wert, Gestaltung" sowie besondere Anforderungen an Nebenangebote und Preisnachlässe.

Bis zum Ablauf der Angebotsfrist gaben sechs Unternehmen insgesamt sechs Haupt- und vier Nebenangebote ab. Ausweislich des Submissionsprotokolls vom 27. April 2005 reichte die Antragstellerin zu 1) das preislich zweitgünstigste Hauptangebot i.H.v. 8.899.207,28 EUR und die Antragstellerin zu 2) das viertgünstigste Hauptangebot i.H.v. 9.449.685,02 EUR ein.

Die Antragsgegnerin schloss die Angebote der preislich erstplatzierten und der drittplatzierten Bieterin jeweils wegen unzulässiger Preisverlagerungen in der ersten Wertungsstufe aus. Sie beabsichtigte zunächst, auch die Angebote der Antragstellerin zu 1) wegen angeblicher unzulässiger Preisverlagerungen nach §§ 25 Nr. 1 Abs. 1 lit. b) i.V.m. 21 Nr. 1 Abs. 1 VOB/A von der weiteren Wertung auszuschließen. Später stützte sie ihre Ausschlussentscheidung vor allem auf eine unzureichende Mitwirkung an der Aufklärung der Preiskalkulation. Die Antragsgegnerin beabsichtigte weiter, den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin zu 2) zu erteilen.

Hiergegen wandte sich die Antragstellerin zu 1) mit einer - erfolglosen - Rüge und mit einem - letztlich erfolgreichen - Nachprüfungsverfahren. Der erkennende Senat verpflichtete die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 22. September 2005, 1 Verg 8/05 (= VergabeR 2005, 789), die Wertung der Angebote unter Einbeziehung des Hauptangebots der Antragstellerin zu 1) sowie unter Berücksichtigung der Rechtsauffassungen des Senats zu wiederholen. Er stellte fest, dass ein Ausschluss des Angebots der Antragstellerin zu 1) jedenfalls weder in der ersten noch in der dritten Wertungsstufe gerechtfertigt sei und dass im Rahmen der engeren Auswahl der vierten Wertungsstufe ggf. Preisrisiken einzelner Leistungspositionen zu prüfen und ggf. zu bewerten seien.

Die Antragsgegnerin wiederholte die Prüfung und Wertung der Angebote von insgesamt drei Bietern, darunter denjenigen der beiden Antragstellerinnen. Sie kam ausweislich ihrer Vergabevermerke vom 4. und vom 6. Januar 2006 zu dem Ergebnis, dass zwar das Nebenangebot der Antragstellerin nicht berücksichtigungsfähig sei, dass aber u.a. die Hauptangebote der Antragstellerin zu 1) und der Antragstellerin zu 2) zuschlagfähig seien. Das Hauptangebot der Antragstellerin zu 1) erschien ihr auch unter Berücksichtigung etwaiger Mengenänderung sowie der Preisrisiken in einzelnen Leistungspositionen als das wirtschaftlichste. Die Antragsgegnerin führte jedoch weiter aus, dass das Preisrisiko der verzögerten Auftragsvergabe nicht quantitativ zu bewerten sei.

Parallel prüfte die Antragsgegnerin die Möglichkeit einer Aufhebung der Ausschreibung. Im Rahmen dieser Prüfung erhielt sie am 4. Oktober 2005 von einem Ingenieurbüro, welches zur Bauüberwachung im Baugebiet eingesetzt war, die Information, dass ganz überwiegend keine Abweichungen vom Leistungsverzeichnis in den Mengengerüsten zu erwarten seien. Sie hörte die beiden Antragstellerinnen und eine dritte Bieterin zu den Auswirkungen der möglichen Änderungen der Mengengerüste und Bauzeiten an. Beide Antragstellerinnen und auch die dritte Bieterin erklärten sich fristgerecht zu den Anfragen.

Mit Schreiben vom 3. März 2006 (Freitag), vorab per Fax jeweils gegen 16:45 Uhr, teilte die Antragsgegnerin beiden Antragstellerinnen jeweils mit, dass sie die Ausschreibung im Hinblick auf "Veränderung der technologischen und zeitlichen Situation" aufhebe. Beide Antragstellerinnen rügten die Aufhebung als vergaberechtswidrig, die Antragstellerin zu 1) am 7. März 2006 und die Antragstellerin zu 2) am 9. März 2006. Die Antragsgegnerin half den Rügen jeweils nicht ab.

Die Antragstellerinnen zu 1) und zu 2) haben bei der 2. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt die Nachprüfung der Aufhebung mit dem Ziel beantragt, dass die Antragsgegnerin verpflichtet werden möge, das Vergabeverfahren fortzuführen. Die ursprünglich getrennt geführten Verfahren 2 VK LVwA LSA 11/06 (Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zu 1)) und 2 VK LVwA LSA 14/06 (Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zu 2)) sind unter dem Geschäftszeichen 2 VK LVwA LSA 17/06 verbunden worden. Der Vorsitzende der Vergabekammer hat im Hinblick auf die rechtlichen Schwierigkeiten beider Verfahren die Entscheidungsfrist mit Verfügung vom 21. April 2006 bis zum 24. Mai 2006 verlängert.

Nach mündlicher Verhandlung hat die Vergabekammer den Nachprüfungsanträgen der Antragstellerinnen zu 1) und zu 2) durch Beschluss vom 23. Mai 2006 jeweils stattgegeben und der Antragsgegnerin aufgegeben, die Aufhebung rückgängig zu machen und das Vergabeverfahren unter Berücksichtigung der Rechtsansichten der Vergabekammer fortzuführen.

Gegen diesen, ihr am 29. Juni 2006 zugestellten Beschluss hat die Antragsgegnerin mit einem am 12. Juni 2006 beim Oberlandesgericht Naumburg eingegangenen Schriftsatz sofortige Beschwerde erhoben. Sie begehrt die Abänderung der Entscheidung der Vergabekammer und die Zurückweisung der Nachprüfungsanträge der Antragstellerinnen als unbegründet.

Am 3. Juli 2006 sandte die Antragsgegnerin die Bekanntmachung der Vergabe eines Bauauftrags mit identischer Bezeichnung im Offenen Verfahren an das Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften; die Bekanntmachung wurde im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 13. Juli 2006 (S-131) veröffentlicht. Die Angebotsfrist für diese Ausschreibung (künftig: zweites Vergabeverfahren) endete ursprünglich am 11. August 2006, 12:00 Uhr, und wurde auf Anordnungen des Senats inzwischen bis zum 17. Oktober 2006, 12:00 Uhr, verlängert.

Die Antragsgegnerin meint, dass die Nachprüfungsanträge beider Antragstellerinnen bereits kraft der gesetzlichen Fiktion nach §§ 116 Abs. 2 i.V.m. 113 Abs. 1 GWB als abgelehnt gelten; diese Entscheidung sei mangels Anfechtung durch die Antragstellerin bestandskräftig.

Die Antragsgegnerin vertritt in der Sache die Auffassung, dass ihre Entscheidung zur Aufhebung der Ausschreibung die Antragstellerinnen nicht in ihren subjektiven Rechten verletze. Es lägen ein Aufhebungsgrund i.S.v. § 26 Nr. 1 lit. c) VOB/A vor, der sich aus dem Zusammentreffen einer voraussichtlichen Erhöhung der Mengen bei der Leistungsposition 06.03.0160 "Boden aus Seitenentnahme lösen, fördern und profilgerecht im Mittelstreifen und Bankett einbauen" sowie insbesondere des Umstandes ergibt, dass die Bauausführung mindestens um ein Jahr verzögert ist. Aus der Verzögerung der Auftragserteilung ergäben sich z.T. konkrete Preisrisiken hinsichtlich der von der Antragstellerin kalkulierten Verwertungserlöse im Rahmen der Leistungsposition 06.03.0030 "Oberboden abtragen und der Verwertung nach Wahl des AN zuführen". Im Übrigen bestünden nach allgemeinen Erfahrungen Preisrisiken aus einer verzögerten Auftragserteilung, und zwar auch dann, wenn zusätzliche Kosten einer beschleunigten Bauausführung noch unberücksichtigt blieben.

Die Aufhebung diene nicht missbräuchlich dazu, einem bestimmten Bieter den Auftrag zu verschaffen; im Rahmen der Neuausschreibung hätten alle Bieter die gleiche Chance auf den Zuschlag.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss der 2. Vergabekammer beim Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt vom 23. Mai 2006, 2 VK LVwA 17/06, aufzuheben und die Nachprüfungsanträge der Antragstellerinnen zu 1) und zu 2) jeweils zurückzuweisen.

Die Antragstellerinnen zu 1) und zu 2) beantragen jeweils,

die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin zurückzuweisen,

die Antragstellerin zu 1) darüber hinaus hilfsweise,

festzustellen, dass sie durch die Aufhebung der Ausschreibung in ihren subjektiven Rechten nach § 97 Abs. 7 GWB verletzt ist.

Sie verteidigen im Wesentlichen die angefochtene Entscheidung und vertiefen z.T. erheblich ihre rechtlichen Ausführungen und die Darstellung der einschlägigen Rechtsprechung.

Der Senat hat am 4. September 2006 einen Termin der mündlichen Verhandlung durchgeführt. In diesem Termin wurde von Amts wegen der Verlauf des Vergabeverfahrens ab dem 22. September 2005 durch Vernehmung von Zeugen aufgeklärt. Wegen des Inhalts der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokokoll vom selben Tage Bezug genommen (vgl. GA Bd. II Bl. 92 f.).

II.

Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig; sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Die Vergabekammer hat auf die zulässigen und begründeten Nachprüfungsanträge der Antragstellerinnen zu 1) und zu 2) zu Recht die Rückgängigmachung der Aufhebung der Ausschreibung und die Fortsetzung des ursprünglichen Vergabeverfahrens angeordnet, denn die Antragsgegnerin hat nach wie vor die Absicht, die ausgeschriebenen Leistungen von Dritten zu beschaffen, und die für die Aufhebung angegebenen Gründe vermögen eine Aufhebung sachlich nicht zu rechtfertigen.

1. Das Rechtsmittel der Antragsgegnerin hat nicht etwa aus formalen Gründen Erfolg. Insbesondere gelten die Nachprüfungsanträge der Antragstellerinnen zu 1) und zu 2) nicht als abgelehnt nach § 116 Abs. 2 GWB. Die Vergabekammer hat mit ihrer angefochtenen Entscheidung die Entscheidungsfrist des § 113 Abs. 1 GWB gewahrt.

1.1. In der Literatur ist es z.T. umstritten, ob die Auslegung des § 116 Abs. 2 GWB im Vergaberecht autonom erfolgt (vgl. z.Bsp. Jaeger in: Byok/ Jaeger, GWB, 2. Aufl. 2005, § 116, Rn. 1122 f. m.w.N.) oder ob die Vorschriften des jeweiligen Landesverwaltungsverfahrensgesetzes subsidiär Anwendung finden.

Nach der erstgenannten Auffassung genügt für eine Wahrung der Entscheidungsfrist des § 113 Abs. 1 GWB das vollständige Absetzen der Entscheidung, d.h. mit den erforderlichen Unterschriften, und deren Verkündung oder deren sonstige Bekanntgabe oder sogar allein die aktenkundige Zuleitung des Beschlusses zur Geschäftsstelle. Nach anderer Ansicht, wie sie hier auch die Antragsgegnerin vertritt, ist eine wirksame Entscheidung erforderlich, die nach den allgemeinen Grundsätzen zur Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes einer Bekanntgabe an den Adressaten der Regelung bedarf.

1.2. Der Senat folgt der erst genannten Ansicht.

Für die Auffassung der Antragsgegnerin spricht zwar auf den ersten Blick, dass sie aus Sicht der Beteiligten des Nachprüfungsverfahrens ein höheres Maß an Rechtssicherheit zu gewähren scheint; dieser Schein ist aber trügerisch. Denn es ist nicht ohne Weiteres davon auszugehen, dass alle Beteiligten eines Nachprüfungsverfahrens von einer in diesem Verfahren ergangenen Entscheidung zum selben Zeitpunkt Kenntnis erlangen. Mit anderen Worten: Aus der Bekanntgabe einer Entscheidung der Vergabekammer ihm selbst gegenüber kann ein Beteiligter nicht auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Entscheidung gegenüber anderen Beteiligten schließen. Um diesen in Erfahrung zu bringen, bedürfte es der Nachforschung bei der Vergabekammer und eines Zuwartens, bis die Vergabekammer verifiziert hat, wann die Entscheidung jeweils den einzelnen Verfahrensbeteiligten tatsächlich bekanntgegeben worden ist. Gerade dann, wenn an einem Nachprüfungsverfahren mehr als nur zwei Personen beteiligt sind, wenn gar Bietergemeinschaften ohne einheitlichen Empfangsbevollmächtigten oder ausländische Unternehmen Verfahrensbeteiligte sind, kann ein Abstellen auf die Bekanntgabe erhebliche Unsicherheiten in sich bergen.

Demgegenüber spricht für eine autonome Auslegung der Vorschrift des § 116 Abs. 2 GWB schon der Wortlaut der Norm. Dort ist allein von "der Entscheidung", nicht von ihrer Bekanntgabe bzw. von ihrer Wirksamkeit die Rede. Auch in historischer und teleologischer Hinsicht liegt diese Auslegung nahe. Denn die Fristsetzung des § 113 Abs. 1 GWB ist vom Gesetzgeber sehr ehrgeizig gewählt, d.h. sie ist angesichts des häufig umfangreichen Prozess-stoffes und der z.T. schwierigen Rechtsfragen außerordentlich kurz bemessen, um die öffentliche Beschaffung nicht über Gebühr zu behindern. Angesichts dieser Prämisse und der angeordneten Unabwendbarkeit der Rechtsfolge einer Fristversäumnis kann die Einhaltung der Frist nicht mit zusätzlichen Unsicherheiten, wie oben angeführt, aber auch mit der Unsicherheit eines manipulierten Empfangsbekenntnisses, zusätzlich belastet werden. Für eine sichere und schnelle Feststellung des Umstandes, ob die Entscheidungsfrist gewahrt ist, ist das Abstellen auf das aktenkundige Absetzen der Entscheidung nicht nur ausreichend, sondern sogar besser geeignet als das Abstellen auf deren Bekanntgabe.

1.3. Der Senat befindet sich damit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Vergabesenate (vgl. Saarländisches OLG, Beschluss v. 29. April 2003, 5 Verg 4/02 - VergabeR 2003, 429, 430; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 5. Oktober 2001, Verg 18/01 "ADV-Büro 2000" - VergabeR 2002, 89, 92 f.; OLG Frankfurt, Beschluss v. 25. September 2000, 11 Verg 2/99 "Aramidgewebe").

1.4. Nach diesen Maßstäben ist die Entscheidungsfrist hier gewahrt. Der Vorsitzende der Vergabekammer hat die Entscheidungsfrist im vorliegenden Nachprüfungsverfahren mit Verfügung vom 21. April 2006 wirksam bis zum 24. Mai 2006 verlängert. Die Verlängerung der Entscheidungsfrist wird von der Antragsgegnerin auch nicht angegriffen. Der Beschluss der Vergabekammer in der Hauptsache ist am 23. Mai 2006 von allen drei Mitwirkenden unterschrieben worden. Er ist am selben Tage zur Geschäftsstelle gelangt. Ausweislich eines Aktenvermerks von diesem Tage sind die Postsendungen der Beschlussausfertigung am 23. Mai 2006 gegen Empfangsbekenntnis versandt worden.

2. Die Vergabekammer ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass die Nachprüfungsanträge der Antragstellerinnen zu 1) und zu 2) jeweils zulässig sind.

2.1. Die Nachprüfungsanträge sind trotz des Abschlusses des Vergabeverfahrens durch die Aufhebung zulässig. Die Aufhebung der Ausschreibung wirkt - anders als die Zuschlagserteilung - nicht als absolute Zäsur. Vielmehr kann ein Bieter auch dann, wenn ein öffentlicher Auftraggeber die Ausschreibung für einen öffentlichen Auftrag bereits aufgehoben hat, noch in zulässiger Weise die Vergabekammer anrufen und geltend machen, durch die Nichtbeachtung der die Aufhebung der Ausschreibung betreffenden Vergabevorschrift in seinen subjektiven Rechten nach § 97 Abs. 7 GWB verletzt zu sein (vgl. EuGH, Urteil v. 18. Juni 2002, C-92/00 "Hospital Ingenieure Krankenhaustechnik Planungs GmbH (HI) ./. Stadt Wien" - VergabeR 2002, 361 = ZfBR 2002, 604; BGH, Beschluss v. 18. Februar 2003, X ZB 43/02 - BGHZ 154, 32 = VergabeR 2003, 313 = ZfBR 2003, 401). Die vergaberechtswidrige Aufhebung der Ausschreibung kann grundsätzlich rückgängig gemacht werden. Die Zulässigkeit der Nachprüfungsanträge richtet sich nach den allgemeinen Kriterien.

2.2. Beide Antragstellerinnen sind jeweils antragsbefugt i.S.v. § 107 Abs. 2 GWB, denn ihre Angebote waren bis zur Aufhebung der Ausschreibung in der engeren Wahl für die Zuschlagserteilung. Durch die von ihnen als vergaberechtswidrig gerügte Aufhebung sind ihre Zuschlagschancen im vorliegenden Verfahren jeweils entfallen.

2.3. Beide Antragstellerinnen haben im Hinblick auf die Rüge der vergaberechtswidrigen Aufhebung der Ausschreibung ihrer Rügeobliegenheit nach § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB genügt. Zwischen der Erlangung der Kenntnis von der Aufhebung und den angeblichen Aufhebungsgründen und der Rüge der Antragstellerin zu 1) lagen zwei Werktage; bei der Antragstellerin zu 2) vier Werktage; die Rügen erfolgten mithin jeweils unverzüglich.

3. Die Nachprüfungsanträge beider Antragstellerinnen sind begründet.

3.1. Allerdings folgt der Senat der Auffassung der Antragsgegnerin, dass allein der Umstand, dass ein öffentlicher Auftraggeber ein Vergabeverfahren einleitet, grundsätzlich nicht dazu führt, dass er verpflichtet wäre, in diesem Vergabeverfahren auch den Zuschlag auf eines der Angebote zwingend zu erteilen. Diese Rechtsauffassung ist - soweit ersichtlich - unbestritten; sie wird im Übrigen auch von der Vergabekammer geteilt.

Privatrechtlich ist ein Kontrahierungszwang die absolute Ausnahme. Auch vergaberechtlich gilt nicht etwa, dass ein Vergabeverfahren nur mit Zuschlag abgeschlossen werden dürfe, wenn die Voraussetzungen des § 26 Nr. 1 VOB/A (einschließlich des ungeschriebenen, durch die Rechtsprechung in Schadenersatzprozessen entwickelten zusätzlichen Tatbestandsmerkmals - vgl. nur BGH, Urteile v. 8. September 1998, X ZR 48/97 und X ZR 99/96 - BGHZ 139, 259 und 280 = NJW 1998, 3636 und 3640 = ZVgR 1998, 578 und 565) nicht erfüllt sind (vgl. nur EuGH, Urteil v. 16. September 1999, C-27/98 "Metalmeccanica Fracasso SpA u.a." - NZBau 2000, 153 sowie Urteil v. 16. Oktober 2003, C-244/02; BGH, a.a.O. sowie Urteil v. 12. Juni 2001, X ZR 150/99 - NZBau 2001, 637 = NJW 2001, 3698; Urteil v. 5. November 2002, X ZR 232/00 "Ziegelverblendung" - VergabeR 2003, 163 = NZBau 2002, 168). Ein öffentlicher Auftraggeber darf eine Ausschreibung grundsätzlich auch dann aufheben, wenn ihm ein Grund zur Aufhebung i.S.v. § 26 Nr. 1 VOB/A fehlt, er aber einen sachlichen Grund hat, der die Aufhebung der Ausschreibung als ultima ratio erscheinen lässt, z. Bsp. bei Wegfall des Beschaffungsbedarfes.

Die Zulässigkeit eines Kontrahierungszwangs kann sich jedoch aus spezialgesetzlichen Regelungen, insbesondere aus dem Kartellrecht, ergeben. Im GWB-Vergaberecht resultiert die Zulässigkeit des Kontrahierungszwangs in Ausnahmefällen aus dem dort geltenden Willkürverbot bzw. dem Diskriminierungsverbot sowie aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. OLG Naumburg, Beschluss v. 13. Mai 2003, 1 Verg 2/03 "Thermische Abfallbehandlung II" - VergabeR 2003, 586 <m. tw. krit. Anm. Reidt 592 ff.>; Hanseat. OLG Bremen, Beschluss v. 7. Januar 2003, Verg 2/02 "Kunstfelsenlandschaft" - VergabeR 2003, 175; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 26. Januar 2005, VII-Verg 45/05 - VergabeR 2005, 374 = NZBau 2005, 354; OLG München, Beschluss v. 17. Februar 2005, Verg 27/04, und Beschluss v. 12. Juli 2005, Verg 8/05 "Endgeräte" - VergabeR 2005, 802; vgl. auch Scharen, NZBau 2003, 585, 590; Kaelble ZfBR 2003, 657, so auch Dicks in der von der Antragsgegnerin eingereichten Seminarunterlage, S. 38). Die Anordnung der Fortsetzung der Ausschreibung mit dem Ziel einer Zuschlagserteilung kommt nicht nur bei irrtümlicher Aufhebung der Ausschreibung in Betracht, wie die Antragsgegnerin meint, sondern auch dann, wenn der öffentliche Auftraggeber seine Absicht, die ausgeschriebene Leistung von Dritten zu beschaffen, unverändert aufrecht erhält und ihm tatsächlich kein sachlicher Grund, insbesondere natürlich kein Grund i.S.v. § 26 Nr. 1 VOB/A, für die Aufhebung zur Seite steht bzw. wenn die Aufhebung selbst im Falle des Vorliegens eines sachlichen Grundes nicht verhältnismäßig ist. Die vorliegende Fallgestaltung kommt einer "irrtümlichen" Aufhebung der Ausschreibung nahe.

3.2. Es ist hier unzweifelhaft, dass die Antragsgegnerin ihre Beschaffungsabsicht nicht aufgegeben hat. Der Bau der Bundesautobahn BAB A ... zwischen L. und G. soll abgeschlossen werden, und zwar auch hinsichtlich des hier gegenständlichen Bauabschnitts in Sachsen-Anhalt. Die erneute Ausschreibung desselben Bauauftrages macht die fortbestehende Beschaffungsabsicht evident.

3.3. Der Senat ist im Ergebnis der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass die möglichen Vermehrungen der Mengen in der Leistungsposition 06.03.0160 für die Entscheidung der Antragsgegnerin zur Aufhebung der Ausschreibung keine Bedeutung hatten. Die Mengenänderungen waren weder grundlegend noch führten sie zu einer unverhältnismäßigen Verteuerung des Auftrags. Denn gerade im Angebot der Antragstellerin zu 1) wies diese Position einen niedrigen Einheitspreis aus. Im Rahmen einer Neuausschreibung war eher eine noch stärkere Verteuerung des Auftrags wegen der festgestellten Mehrmengen zu besorgen. Auch die hierzu vernommenen Zeugen haben übereinstimmend angegeben, dass für die Entscheidung zur Aufhebung der Ausschreibung die vorgenannten Mengenänderungen unerheblich waren.

3.4. Der von der Antragsgegnerin angeführte Umstand der erheblichen Verzögerung der Auftragsvergabe rechtfertigt hier eine Aufhebung nicht. Die Entscheidung über die Aufhebung einer Ausschreibung ist zwar eine Ermessensentscheidung. Im Rahmen der Ermessensausübung ist selbstverständlich anzuerkennen, dass die Vergabestelle ein legitimes Interesse an belastbaren Preisangaben bei Vertragsschluss hat. Es muss aber objektiv nachvollziehbar sein, ob die Voraussetzungen für die Ausübung des Ermessens überhaupt vorliegen und - falls ja - in welchem Umfange. Hieran fehlt es teilweise.

3.4.1. Der Antragsgegnerin ist weder in der Vergabedokumentation noch im Verlaufe des Nachprüfungsverfahrens, letzteres auch unter Berücksichtigung des Vorbringens im Schriftsatz vom 15. September 2006, gelungen, die von ihr geäußerte Besorgnis einer durch Neuausschreibung vermeidbaren Verteuerung des Auftrags in einer erheblichen Größenordnung tatsächlich zu untersetzen.

a) Der Vergabevermerk enthält zwar - anders als in dem Parallelverfahren 1 Verg 6/06 - eine auf das konkrete Angebot der Antragstellerin zu 1) bezogene Prüfung der Preisrisiken, die aus der Bauzeitverschiebung resultieren könnten. Diese Preisrisiken, insbesondere in Leistungsposition 06.03.0030, quantifiziert die Antragsgegnerin mit maximal 240.000 EUR netto. Für die Prognose, wie wahrscheinlich der Eintritt des "worst case"-Szenarios ist, steht der Antragsgegnerin ein Beurteilungsspielraum zu, der nur eingeschränkt der Nachprüfung unterliegt. Deshalb ist hier nur anzumerken, dass der Senat die Besorgnis der Antragsgegnerin in diesem Umfange nicht teilt, weil die Verwertung des Oberbodens durch Verbringung auf die angrenzenden landwirtschaftlichen Flächen der Agrarunternehmen B. e.G. auch zukünftig noch möglich erscheint. Die Antragstellerin hat in ihrer Anhörung auch ausdrücklich bestätigt, dass sie jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Anhörung noch keine Besorgnis hegt, dass ihr diese Verwertungsmöglichkeit im Falle der Auftragserteilung nicht mehr zur Verfügung stehe. Maßgeblich ist aber, dass selbst dann, wenn diese Verteuerung einträte, sie wohl unvermeidbar wäre. Denn alle anderen Bieter haben in der ursprünglichen Ausschreibung höhere Einheitspreise in dieser Position angeboten, so dass auch im Falle einer Neuausschreibung nichts Anderes zu erwarten wäre. An der Bieterreihenfolge der vorliegenden Ausschreibung ändert das festgestellte Preisrisiko nichts.

b) Die weiter gehende Risikobetrachtung stützt sich ausschließlich auf einen pauschalen Hinweis auf allgemeine Erfahrungen. Auf wessen konkrete Erfahrungen sich diese Risikobetrachtung bezieht, ist aber offen geblieben.

Im Ergebnis seiner Beweisaufnahme hat der Senat festgestellt, dass mit Ausnahme des Bereichsleiters W. keiner der mit dieser Ausschreibung befassten Mitarbeiter der Antragsgegnerin unmittelbare eigene Erfahrungen mit Verteuerungen der Aufträge allein durch die verzögerte Auftragserteilung im zweistelligen Prozentbereich auch nur behauptet hat. Ein konkretes Beispiel vermochte niemand zu benennen. Insoweit ist im Übrigen auch darauf zu verweisen, dass allein der Umstand, dass ein Bieter einen solchen "Nachtrag" gefordert hat, allenfalls Beleg für das Risiko von Nachforderungen im Allgemeinen darstellt.

Auf mehrfachen Vorhalt haben alle Zeugen auch eingeräumt, dass es bei vorangegangenen Ausschreibungen auch trotz erheblicher Verzögerungen der Auftragsvergabe noch nie zu einer Aufhebung der Ausschreibung aus diesem Grunde gekommen sei. Der vorliegende Fall sei der "Pilot"-Fall. Der Zeuge H. hat ergänzend angegeben, dies sei der erste Fall, in dem seit der Entscheidung des Thüringer OLG vom 21. März 2005, 8 U 318/04 "Talsperre Leibis-Lichte" (u.a. NZBau 2005, 341 = BauR 2005, 1161) die Rechtsabteilung rechtzeitig vor der Zuschlagserteilung Kenntnis von einer erheblichen Verzögerung der Auftragsvergabe erlangt habe. Auch wenn der Senat Zweifel hegt, ob diese Einschätzung für die Antragsgegnerin insgesamt zutreffend ist, weil die TED-Auswertung durch den Senat eine Reihe von Auftragsvergaben der Antragsgegnerin nach März 2005 trotz erheblicher Verzögerung der Zuschlagserteilung gegenüber der ursprünglichen Zuschlagsfrist zu Tage gefördert hat, so hätte doch gerade diese besondere Situation erfordert, dass das tatsächliche Preisrisiko konkret geprüft und in irgendeiner Weise hätte quantifiziert werden müssen.

c) Soweit die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 15. September 2006 nunmehr versucht hat, zumindest die allgemeinen Erfahrungen zu untersetzen, ist die Aufstellung letztlich nicht aussagekräftig. Denn allein der Umstand, dass bei der Ausführung eines verzögert erteilten Auftrages Nachträge durchgesetzt worden seien, sagt wenig darüber aus, worin die Nachträge ihren Grund hatten. Dies kann aber auch dahinstehen. Der Senat geht ebenfalls davon aus, dass ein allgemeines Risiko der Verteuerung des Bauauftrags durch die Verzögerung existiert. Dies allein genügt nicht.

d) Entscheidend ist, ob es in der konkreten Ausschreibung ein konkretes, bereits fassbares Preisrisiko gibt und - falls ja - in welcher Größenordnung es besteht. Das Ausmaß des Preisrisikos durch die verzögerte Auftragsvergabe ist im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit einer Aufhebungsentscheidung gegenüber anderen Handlungsalternativen zumindest nachvollziehbar zu schätzen.

e) Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass sich ein sachlicher Grund zur Aufhebung nicht allein daraus ergibt, dass die Bindefristen der Angebote der engeren Wahl abgelaufen sind, wenn die betroffenen Bieter, wie hier, weiter zum Vertragsschluss bereit sind (vgl. nur OLG Frankfurt, Beschluss v. 5. August 2003, 11 Verg 1/02 - VergabeR 2003, 726 <dort aber fehlende Bereitschaft des Zuschlagsaspiranten>; OLG Rostock, Beschluss v. 8. März 2006, 17 Verg 16/05). Auch der Umstand, dass die in den Verdingungsunterlagen vorgesehenen Ausführungsfristen nicht mehr einzuhalten sind, bietet für sich allein genommen keine Rechtfertigung für eine Aufhebung der Ausschreibung (so ausdrücklich BayObLG, Beschluss v. 15. Juli 2002, Verg 15/02 - NZBau 2002, 689; für beides auch Thüringer OLG, Urteil v. 22. März 2005, 8 U 318/04 - NZBau 2005, 341 = BauR 2005, 1161).

3.4.2. Die Entscheidung für eine Aufhebung erfordert darüber hinaus die Einbeziehung der gegen eine Aufhebung sprechenden Umstände in die Abwägung. Auch hieran fehlt es im vorliegenden Falle.

So wäre zu prüfen gewesen, ob sich das Preisrisiko der verzögerten Auftragsvergabe im laufenden Vergabeverfahren überhaupt unterscheidet vom Risiko erhöhter Preise im Falle einer Neuausschreibung. Denn soweit die Risiken der Preiserhöhung auf einen allgemeinen Anstieg von Materialkosten bzw. von Lohnkosten zurückzuführen sind, wäre eine Verteuerung, ggf. in etwas geringerem Umfange, auch bei einer Neuausschreibung zu erwarten. Solche Preis steigernden Komponenten wären auch in die Angebotskalkulation der Bieter der neuen Ausschreibung eingeflossen. Für eine Aufhebungsentscheidung relevant könnten danach lediglich diejenigen Preisrisiken sein, die nicht wettbewerbsneutral, sondern bieter- oder angebotsspezifisch sind.

Weiter ist für die Abwägung auch nicht unbeachtlich, dass das Vergabeverfahren weit fortgeschritten ist, so dass das Vertrauen der Antragstellerinnen in dessen Abschluss durch Zuschlagserteilung und damit in die Amortisierungschancen im Hinblick auf ihre Aufwendungen zur Angebotserstellung und Angebotsaufklärung Vorrang vor etwaigen Unsicherheiten der Antragsgegnerin verdient (vgl. BGH, Urteil v. 8. September 1998, X ZR 48/97 - BGHZ 139, 259 = NJW 1998, 3636; BayObLG, Beschluss v. 15. Juli 2002, Verg 15/02 - NZBau 2002, 689).

Schließlich war hier in Betracht zu ziehen, dass im Falle einer Aufhebung der Ausschreibung selbst bei Vorliegen eines sachlichen Grundes, der aber jedenfalls nicht die Voraussetzungen des § 26 Nr. 1 lit. b) oder c) VOB/A erfüllt, das Risiko von Schadenersatzforderungen besteht.

3.4.3. Die Aufhebung der Ausschreibung durch die Antragsgegnerin ist hier aber auch deshalb nicht verhältnismäßig, weil die Verzögerungen der Auftragsvergabe ganz überwiegend in den Verantwortungsbereich der Antragsgegnerin fallen.

Unabhängig von einem Verschulden hat die Antragsgegnerin zumindest die Ursache gesetzt für das erste Nachprüfungsverfahren im Zeitraum von Juni bis September 2005, indem sie objektiv vergaberechtswidrige und die Antragstellerin zu 1) in ihren subjektiven Rechten nach § 97 Abs. 7 GWB verletztende Entscheidungen im Vergabeverfahren getroffen hat.

Für die Entscheidung zur Aufhebung hat die Antragsgegnerin in diesem Umfange nicht nachvollziehbare sechs Monate benötigt.

Das zweite Nachprüfungsverfahren seit Ende März 2006 hat die Antragsgegnerin vor allem durch ihr Verhalten in dem Parallelverfahren provoziert, welches dem Senat unter dem Geschäftszeichen 1 Verg 6/06 zur Nachprüfung vorlag.

Sähe man die Aufhebung einer Ausschreibung allein mit der Begründung als gerechtfertigt an, dass sich eine von der Vergabestelle selbst verursachte Verzögerung der Auftragserteilung eingestellt hat, dann hätte es die Vergabestelle in der Hand, auch willkürlich jede Ausschreibung beenden zu können, indem sie nur überhaupt gar keine Entscheidung trifft oder eine Entscheidung zumindest lange hinauszögert. Diese Vorgänge sind bei objektiver Betrachtung jedoch nur als eine unausgesprochene faktische bzw. ggf. konkludente Aufhebung anzusehen; sie wären dann nur das Resultat der Erwägungen der Vergabestelle, nicht zugleich ein sachlicher Grund, der dieses Resultat ohne Weiteres auch gerechtfertigt erscheinen ließe.

4. Der Senat folgt der Vergabekammer darin, dass zur Beseitigung der Rechtsverletzungen zu Lasten beider Antragstellerinnen die Anordnung der Rückgängigmachung der Aufhebung und der Fortführung des Vergabeverfahrens durch Wiederholung der Wertung geeignet und auch geboten ist. Die Ergänzung des Entscheidungsausspruches der Vergabekammer ist erforderlich, um eine unverfälschte Berücksichtigung der Rechtsansichten der Vergabenachprüfungsinstanzen zu gewährleisten. Sie ist auch möglich, weil sich die Antragsgegnerin hinsichtlich der Bewertung der Wirtschaftlichkeit der Angebote bereits festgelegt und von einer Zuschlagserteilung nur im Hinblick auf den vermeintlich vorliegenden Aufhebungsgrund abgesehen hat.

4.1. Verstößt die Aufhebung einer Ausschreibung, wie hier, gegen vergaberechtliche Grundsätze und verletzt die subjektiven Rechte von Bietern nach § 97 Abs. 7 GWB, und besteht die Beschaffungsabsicht des öffentlichen Auftraggebers nach wie vor, so ist im Nachprüfungsverfahren die Aufhebung der Ausschreibung rückgängig zu machen. Die Nachprüfungsinstanzen sind im Rahmen des § 114 Abs. 1 Satz 1 und 2 GWB zur "Aufhebung der Aufhebung" befugt. Das Vergabeverfahren ist grundsätzlich ab dem Verfahrensstand fortzuführen, der vor der Aufhebung der Ausschreibung erreicht war, es sei denn, die Beseitigung weiterer Rechtsverletzungen erfordert eine teilweise Wiederholung von Verfahrensabschnitten. Letzteres ist hier nicht der Fall.

4.2. Die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den stattgebenden Beschluss der Vergabekammer hatte unter der Maßgabe einer Konkretisierung der Verhaltensanforderungen im Rahmen der Fortführung des Vergabeverfahrens zu erfolgen.

Die Anweisung zur erneuten Durchführung der Wertung der Wirtschaftlichkeit der in der engeren Wahl befindlichen Angebote der Antragstellerin zu 1) und der Antragstellerin zu 2) ist bereits mit Beschluss des Senats vom 22. September 2005 ausgesprochen worden. Sie hat bei der Antragsgegnerin offensichtlich zu Unsicherheiten bei der Ermittlung der Handlungsanforderungen geführt. Solche Irritationen sind für die Zukunft auszuschließen. Angesichts des weit fortgeschrittenen Standes des Vergabeverfahrens verbleibt der Antragsgegnerin nur noch die Entscheidung, den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin zu 1) zu erteilen, welches nach ihrer eigenen Einschätzung auch unter Berücksichtigung etwaiger Preisrisiken das wirtschaftlichste ist.

4.3. Eine derart weit gehende Konkretisierung der künftigen Handlungsanforderungen war hier ausnahmsweise auch möglich.

Nachdem der Senat die Frage geprüft und - ablehnend - beantwortet hat, ob die Antragsgegnerin die vorliegende Ausschreibung durch Aufhebung abschließen kann, verbleibt lediglich die Möglichkeit der Zuschlagserteilung. Die Entscheidung in der vierten Wertungsstufe hat die Antragsgegnerin bereits getroffen. Sie möchte den Auftrag auch vergeben.

Der Senat kann in einer solchen Konstellation ausnahmsweise die Erteilung des Zuschlages auf ein konkretes Angebot anweisen (vgl. BayObLG, Beschluss v. 5. November 2002, Verg 22/02 "Video-Überwachungsnetz" - VergabeR 2003, 186; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 13. April 2005, VII-Verg 10/05 "Unterbringung von Asylbewerbern", sowie Beschluss v. 13. Juli 2005, VII-Verg 19/05 "Postzustellungen" <in letzterer abgelehnt>).

4.4. Der Senat erachtet es im Interesse eines nunmehr raschen Abschlusses des Vergabeverfahrens für sachdienlich, die Folgen einer weiteren Verzögerung der Abschlussentscheidung unmissverständlich aufzuzeigen.

Nach § 71 Abs. 1 VwVollstrG LSA i.V.m. §§ 54 Abs. 1 Nr. 2, 56 Abs. 1 SOG LSA kann die Vornahme einer unvertretbaren Handlung durch die Festsetzung von Zwangsgeld vollstreckt werden. Bei der Feststetzung ist nach § 56 Abs. 2 SOG LSA eine Zahlungsfrist zu setzen. Die Höhe des Zwangsgeldes liegt im Ermessen der Vollstreckungsbehörde. Im vorliegenden Fall kommt wegen der Bedeutung der Sache und im Hinblick auf die übrigen fiskalischen Erwägungen der Antragsgegnerin ein Zwangsgeld im oberen Bereich des zulässigen Rahmens in Betracht. Die Festsetzung ist nach § 59 Abs. 1 SOG LSA vorab anzudrohen, was mit der vorliegenden Entscheidung bereits vorsorglich geschehen ist.

5. Die Entscheidung über die Kostentragung im Beschwerdeverfahren beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Festsetzung des Gegenstandswertes des gerichtlichen Beschwerdeverfahrens beruht auf § 50 Abs. 2 GKG. Der Senat legt dabei die geprüfte Angebotssumme des Hauptangebotes der Antragstellerin zu 1) zugrunde.

Ende der Entscheidung

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