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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Beschluss verkündet am 21.06.2001
Aktenzeichen: 1 Ws 239/01
Rechtsgebiete: GVG, StPO


Vorschriften:

GVG § 76 Abs. 1 S. 1
GVG § 76 Abs. 1 S. 2
StPO § 126
StPO § 229 Abs. 2 S. 1
StPO § 237
Leitsatz:

Der Grundsatz des gesetzlichen Richters i. V. m. dem grundrechtlich geschützten Anspruch des Angeklagten auf besondere Beschleunigung des Verfahrens gebietet es, dass die Strafkammer über einen Haftprüfungsantrag des Angeklagten während unterbrochener Hauptverhandlung stets in der für außerhalb der Hauptverhandlung vorgesehenen Besetzung entscheidet.

OLG Naumburg, Bes vom 21.06.2001, 1 Ws 239/01; vorgehend LG Halle, Bes vom 08.05.2001, 28 KLs 2/00


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG BESCHLUSS

1 Ws 239/01 OLG Naumburg 28 KLs 2/00 LG Halle 461 Js 51365/98 StA Halle

In der Strafsache

gegen

...

Verteidiger:

a) ... b) ... c) ...

wegen Vergewaltigung u. a.

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Naumburg

am 21. Juni 2001

durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Hennig, den Richter am Oberlandesgericht Sternberg und den Richter am Landgericht Buß

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der 8. großen Strafkammer des Landgerichts Halle vom 08. Mai 2001,

mit dem das Landgericht den Haftbefehl des Amtsgerichts Hettstedt vom "31.12.1998" - richtig: 30.12.1998 - neu gefasst und die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet hat,

wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die Anklage der Staatsanwaltschaft Halle vom 17.05.1999 (Az.: 461 Js 1328/99) bei der Neufassung entfällt.

Gründe:

Am 30. Dezember 1998 erließ das Amtsgericht Hettstedt gegen den Angeklagten Haftbefehl (Az.: 1 Gs 117/98) wegen dringenden Tatverdachts der Vergewaltigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung sowie Körperverletzung. Der auf die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr gestützte Haftbefehl wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Hettstedt vom 08. Januar 1999 gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt, ohne dass sich der Angeklagte zuvor in dieser Sache in Untersuchungshaft befand. Nach Anklageerhebung aufgrund des dem Haftbefehl zugrundeliegenden Vorwurfes setzte die 3. große Strafkammer des Landgerichts Halle den Haftbefehl mit Beschluss vom 01. Juli 1999 wegen Verstosses gegen die Meldeauflagen aus dem Haftverschonungsbeschluss vom 08. Januar 1999 und wegen Erhebung einer weiteren Anklage der Staatsanwaltschaft mit dem Vorwurf des Verstosses gegen das Waffengesetz in Vollzug. Mit Beschluss vom 19. Juli 1999 verschonte die 3. große Strafkammer des Landgerichts Halle den Angeklagten erneut vom Vollzug der Untersuchungshaft. Dieser Beschluss wurde mit Beschlüssen der zwischenzeitlich zuständig gewordenen 8. großen Strafkammer des Landgerichts Halle vom 15. August 2000 und 18. Januar 2001 jeweils hinsichtlich der erteilten Meldeauflage abgeändert.

Während des - derzeit noch nicht abgeschlossenen - Hauptverfahrens, welches die weiteren Anklagen der Staatsanwaltschaft vom 05. November 1998, 09. August 1999 und 20. September 1999 sowie den Strafbefehl des Amtsgerichts Hettstedt vom 10. Mai 1999 mit den Vorwürfen der Unterschlagung, der sexuellen Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung, der Vergewaltigung, des unerlaubten Umgangs mit gefährlichen Abfällen in Tateinheit mit unerlaubten Betreibens einer Anlage und des Hausfriedensbruchs zum Gegenstand hat, ordnete die 3. große Strafkammer des Landgerichts Halle im Hauptverhandlungstermin am 11. April 2001 den Vollzug des Haftbefehls des Amtsgerichts Hettstedt vom 30. Dezember 1998 an. Seit dem befindet sich der Angeklagte in dieser Sache erneut in Untersuchungshaft.

Auf den durch die Verteidigung schriftlich gestellten Haftprüfungsantrag des Angeklagten hat die Strafkammer im schriftlichen Haftprüfungsverfahren - in der Besetzung mit drei Berufsrichtern - mit Beschluss vom 08. Mai 2001 den Haftbefehl nach Maßgabe der anhängigen Anklagen neu gefasst und die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Angeklagten, der die Strafkammer mit Beschluss vom 29. Mai 2001 nicht abgeholfen hat.

Das Rechtsmittel ist zulässig (§ 304 Abs. 1 StPO), hat jedoch in der Sache keinen durchgreifenden Erfolg.

Die Strafkammer war bei Fassung ihrer Beschlüsse vom 08. und 29. Mai 2001 richtig besetzt. Über den Haftprüfungsantrag des Angeklagten war während der unterbrochenen Hauptverhandlung ohne Beteiligung der Schöffen zu entscheiden. Soweit teilweise die Auffassung vertreten wird, eine Unterbrechung der Hauptverhandlung führe nicht dazu, dass erforderliche Entscheidungen des Gerichts als solche außerhalb der Hauptverhandlung angesehen werden müssten (Dehn NStZ 1197, 607 ff.; Siegert NStZ 1998, 421 ff.; Schlothauer StV 1998, 144 ff.; Kunisch StV 1998, 687 ff.), jedenfalls in Fällen, in denen die Anträge zur Haftfrage in der Hauptverhandlung gestellt wurden (OLG Düsseldorf StV 1984, 159; OLG Köln NStZ 1988, 419 ff.), vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen. Vielmehr gebietet es der Grundsatz des gesetzlichen Richters i. V. m. dem grundrechtlich geschützten Anspruch des Angeklagten auf besondere Beschleunigung des Verfahrens, dass die Strafkammer über einen Haftprüfungsantrag des Angeklagten während unterbrochener Hauptverhandlung stets in der für außerhalb der Hauptverhandlung vorgesehenen Besetzung entscheidet (OLG Hamburg NStZ 1998, 99 f.; OLG Hamm StV 1998, 388 f.; Thür. OLG StV 1999, 101; ebenso bei Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Haftbefehls: OLG Schleswig NStZ 1990, 198 f.; Foth NStZ 1998, 420 f.; Bertram NJW 1998, 2934 ff.; differenzierend Katholnigg JR 1998, 34 ff. u. 170 ff.).

Zuständig für die Entscheidung über den Haftprüfungsantrag des Angeklagten war die 8. große Strafkammer des mit der Sache befassten Landgerichts (§ 126 Abs. 2 S. 1 StPO), die gemäß § 76 Abs. 1 S. 1 GVG zwar grundsätzlich mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt ist. § 76 Abs. 1 S. 2 GVG bestimmt jedoch ausdrücklich, dass bei Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung die Schöffen nicht mitwirken. Soweit die Strafkammer über den Haftprüfungsantrag im schriftlichen Verfahren entsprechend dem Wortlaut und dem Sinn des § 76 Abs. 1 S. 2 GVG außerhalb der Hauptverhandlung entschieden hat, ist dies demgemäß nicht zu beanstanden. Es erscheint zwar generell sachgerecht, den Spruchkörper, der die bisherige Beweisaufnahme durchgeführt hat und zu bewerten haben wird, auch über die Haftvoraussetzungen, insbesondere die Frage des Fortbestehens eines dringenden Tatverdachts, entscheiden zu lassen (BGH NStZ 1997, 606, 607). Das entspricht der grundsätzlichen Regelung des § 126 StPO, wonach für Haftentscheidungen das Gericht zuständig ist, welches aufgrund des gegenwärtigen Verfahrensstandes die Sachlage am besten beurteilen kann. Die Strafkammer hatte dennoch über den Haftprüfungsantrag nicht innerhalb der Hauptverhandlung - mit den beiden Schöffen - zu entscheiden oder etwa die Haftprüfung nach - gesonderter - mündlicher Verhandlung (§ 118 Abs. 1 StPO) durchzuführen. Zutreffend hat die Strafkammer im angefochtenen Beschluss darauf hingewiesen, dass ein Anspruch auf mündliche Verhandlung nicht besteht, wenn - wie hier - die Hauptverhandlung andauert (§ 118 Abs. 4 StPO). Es kann im Hinblick auf die Gefahr der Manipulation auch nicht darauf ankommen, ob ein Haftprüfungsantrag in oder außerhalb der Hauptverhandlung gestellt worden ist (BGH a. a. O.). Maßgebend für die Entscheidung des Senats ist das in Haftsachen geltende besondere Beschleunigungsgebot (ebenso OLG Hamburg, OLG Hamm, Thür. OLG - jew. a. a. O.; s. a. BVerfG NStZ 1998, 418). Denn auch bei einer unterbrochenen Hauptverhandlung - unter den Voraussetzungen des § 229 Abs. 2 S. 1 StPO bis zu 30 Tagen - muss über einen Haftprüfungsantrag eines Angeklagten unverzüglich entschieden werden. Gerade aber derartig lange Unterbrechungszeiträume werden in der Praxis oftmals für Urlaubsreisen oder anderweitige Abwesenheit der Schöffen und auch der Berufsrichter genutzt. Für die Schöffen wäre es unzumutbar, etwa von einem lange geplanten Auslandsaufenthalt zum Gerichtsort zurückzukehren, um in der "Hauptverhandlungsbesetzung" die dringend erforderliche Haftentscheidung zu treffen. Dagegen sind die Berufsrichter der Strafkammer - jedenfalls deren Vertreter nach dem gerichtsinternen Geschäftsverteilungsplan - immer erreichbar. Die Mitwirkungsrechte der Schöffen werden bei der vom Senat vertretenen Auffassung auch nicht in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise beschränkt (BVerfG a. a. O.).

In der Sache kommt der Senat aufgrund erneuter Prüfung in der Hauptsache mit der aus dem Tenor ersichtlichen Maßgabe zum gleichen Ergebnis wie das Landgericht.

Dringender Tatverdacht besteht aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses unter III. (S. 3-9). Im Hinblick darauf, dass die Strafkammer in den Beschlussgründen die Anklage der Staatsanwaltschaft Halle vom 17. Mai 1999 (Az.: 461 Js 1328/99, StA Halle) nicht aufgeführt hat, weil jene Sache lediglich gemäß § 237 StPO mit hiesiger Sache gleichzeitig verhandelt wird, hat der Senat den Tenor des angefochtenen Beschlusses insoweit abgeändert.

Im Ergebnis ebenfalls zutreffend hat die Strafkammer im angegriffenen Beschluss Flucht- und Verdunkelungsgefahr sowie - subsidiär - Wiederholungsgefahr angenommen. Der Senat vermag jedoch hinsichtlich des weiteren gegen den Angeklagten geführten Ermittlungsverfahrens wegen sexueller Nötigung zum Nachteil der Zeugin Stiller (Az.: 461 Js 7401/01, StA Halle) keinen dringenden Tatverdacht anzunehmen, weil hierzu bisher nur die Aussage der Zeugin Stiller und die Beschuldigtenvernehmung des Angeklagten vorliegen. Gleichwohl ist auch der Senat der Auffassung, dass der aufgrund der Vernehmung der Zeugin Stiller bestehende Verdachtsgrad einer erneuten einschlägigen Straftat des Angeklagten als neu hervorgetretener Umstand die Verhaftung des Angeklagten erforderlich machte (§ 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO). Insbesondere wegen der dem Angeklagten zur Last gelegten gravierenden Sexualdelikte hat er bei der hier gebotenen vorläufigen Bewertung unter Berücksichtigung seiner teils einschlägigen Vorstrafen mit einer so hohen Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen, dass für ihn der große Anreiz besteht, sich der weiteren Durchführung des Strafverfahrens und seiner Folge, der zu erwartenden Strafvollstreckung, durch Flucht oder Untertauchen zu entziehen. Ob in dem bei der Strafkammer anhängigen Verfahren noch weitere Anklagevorwürfe zu verhandeln sind, ist für die Senatsentscheidung ohne Belang.

Es ist auch nicht die hinreichende Erwartung begründet, dass der Zweck der Untersuchungshaft durch andere Maßnahmen erreicht werden könnte, welche den Angeklagten weniger belasten würden als der Haftvollzug (§ 116 Abs. 1 StPO).

Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Entscheidung. Die Schriftsätze der Verteidiger vom 06. und vom 07. Juni 2001 haben dem Senat vorgelegen.

Die weitere Untersuchungshaft steht auch nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle der Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 S. 1 StPO).

Diese Entscheidung ist nicht mit weiterer Beschwerde anfechtbar (§ 310 Abs. 2 StPO).



Ende der Entscheidung

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