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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 18.03.2004
Aktenzeichen: 4 U 177/03
Rechtsgebiete: ZPO, StVG, BGB


Vorschriften:

ZPO § 540 Abs. 1
ZPO § 511 Abs. 1
ZPO § 517
ZPO § 519
ZPO § 520
ZPO § 511 Abs. 2 Nr. 1
StVG § 17
StVG § 7 Abs. 1
StVG § 7 Abs. 2
BGB § 291
BGB § 288
Beim Überholen eines auf einer Landstraße langsam fahrenden Feuerwehrfahrzeugs (50-60 km/h) durch einen Pkw kann nicht ohne weitere Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, dass die Betriebsgefahr des massereicheren und breiteren Fahrzeugs gänzlich zurücktritt.
OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

4 U 177/03

verkündet am: 18.03.2004

In dem Rechtsstreit

wegen Schadensersatzes aufgrund eines Verkehrsunfalls

hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg unter Mitwirkung des Richters am Oberlandesgericht Feldmann, der Richterin am Oberlandesgericht Mertens und des Richters am Oberlandesgericht Dr. Strietzel auf die mündliche Verhandlung vom 19. Februar 2004

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 14. November 2003 verkündete Urteil des Einzelrichters der 10. Zivilkammer des Landgerichts Magdeburg dahin abgeändert, dass die Beklagte Ziffer 2 verurteilt wird, an die Klägerin 1.635,64 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 04.07.2003 zu zahlen. Im übrigen bleibt die Klage abgewiesen, die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Gerichtskosten erster Instanz trägt die Klägerin zu 5/6, die Beklagte Ziffer 2 zu 1/6. Von den der Beklagten Ziffer 2 in erster Instanz entstandenen außergerichtlichen Kosten trägt die Klägerin 6/7; die Beklagte Ziffer 2 hat 1/7 der außergerichtlichen erstinstanzlichen Kosten der Klägerin zu tragen. Die der Beklagten Ziffer 1 in beiden Instanzen entstandenen Kosten werden der Klägerin auferlegt.

Die Gerichtskosten zweiter Instanz sind von der Klägerin zu 3/5 und von der Beklagten Ziffer 2 zu 2/5 zu tragen. Die der Beklagten Ziffer 2 im Berufungsrechtszug entstandenen Kosten werden der Klägerin zu 5/8 auferlegt; die Beklagte Ziffer 2 trägt 3/8 der in zweiter Instanz entstandenen Kosten der Klägerin. Im übrigen tragen die Klägerin und die Beklagte Ziffer 2 die ihnen in beiden Instanzen entstandenen Kosten selbst.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beschwer der Parteien übersteigt 20.000,-- EUR nicht.

Der Streitwert für den Berufungsrechtszug wird auf 3.929,62 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Hinsichtlich des Sachverhalts nimmt der Senat auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug, § 540 Abs. 1 ZPO. Die Klägerin macht als Halterin und Eigentümerin eines Pkw Schadensersatzansprüche auf Grund eines Verkehrsunfalls geltend.

Der Sohn der Klägerin befuhr am 30.06.2002 mit deren Pkw VW Golf, amtliches Kennzeichen ... , die Bundesstraße 242 von St. in Richtung H. . Vor ihm fuhr ein weiterer Pkw, der von dem Zeugen S. geführt wurde. Vor diesem Fahrzeug fuhr ein Feuerwehrwagen der Beklagten Ziffer 2. Die Fahrzeuge hielten eine Geschwindigkeit von ca. 50 bis 60 km/h ein. Kurz vor dem Ortseingang H. versuchte der Sohn der Klägerin in einer S-Kurve, die beiden vor ihm befindlichen Fahrzeuge zu überholen. Nachdem er den vorausfahrenden Pkw bereits hinter sich gelassen hatte, kollidierte er mit dem Feuerwehrfahrzeug, wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob nun der Kläger wieder auf die rechte Fahrspur oder das Feuerwehrfahrzeug nach links auf die linke Fahrspur geraten ist. Der Golf der Klägerin wurde bei der Kollision an der Beifahrerseite über die gesamte Länge beschädigt, die Reparaturkosten beliefen sich auf 3.720,10 EUR.

Die Klägerin hat behauptet, zu dem Unfall sei es deshalb gekommen, weil das Feuerwehrfahrzeug in dem Augenblick, als ihr Sohn mit dem Golf schon auf gleicher Höhe gewesen sei, plötzlich nach links ausgeschert und auf die linke Fahrspur geraten sei. Den ihr entstandenen Gesamtschaden hat sie ursprünglich auf 5.631,23 EUR beziffert (Reparaturkosten zuzüglich Mietwagenkosten in Höhe von 719,20 EUR, Sachverständigenkosten über 447,17 EUR sowie 25,56 EUR Auslagenpauschale). Nach teilweiser Klagerücknahme (im Hinblick auf doppelt berechnete Mietwagenkosten) hat sie zuletzt beantragt,

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin 4.912,03 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 24.07.2002 zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte Ziffer 1 hat gemeint, sie sei als Verwaltungsgemeinschaft nicht passivlegitimiert. Eigentümerin und Halterin des Löschfahrzeugs sei allein die Beklagte Ziffer 2. Das Feuerwehrfahrzeug habe sich, was unstreitig ist, nicht im Einsatz, sondern auf einer Einweisungsfahrt befunden. Der Sohn der Klägerin sei bei dem riskanten Überholmanöver mit unangemessen hoher Geschwindigkeit gefahren und habe entweder die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren oder habe den Seitenabstand falsch eingeschätzt. Er sei jedenfalls auf die rechte Fahrbahn gekommen und dort mit dem Löschfahrzeug kollidiert. Dessen Fahrer habe nicht weiter rechts fahren können, da die Straße im Unfallbereich vor einer Brücke verengt gewesen sei; außerdem seien an der rechten Fahrbahnbegrenzung noch Warnbaken aufgestellt gewesen, weil dort Leitplanken gefehlt hätten.

Das Landgericht hat zum Unfallhergang Beweis durch Vernehmung von Zeugen erhoben. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 14.10.2003 Bezug genommen. Sodann hat der Einzelrichter die Klage abgewiesen, weil nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mit hinreichender Sicherheit angenommen werden könne, dass das Fahrzeug der Beklagten nach links über die Mittellinie geraten sei. Ein schuldhaftes Verhalten des Fahrers der Beklagten sei deshalb nicht vorstellbar. Die Betriebsgefahr des Feuerwehrfahrzeugs überwiege auch nicht der des Golfs, da der Sohn der Klägerin im Kurvenbereich einen Überholvorgang vorgenommen habe, der sich nach Aussage zweier Zeugen und unter Berücksichtigung der unstreitigen Umstände als nachvollziehbar riskant erwiesen habe.

Die Klägerin hat gegen diese ihr am 12.11.2003 zugestellte Entscheidung am 10.12.2003 Berufung eingelegt, die sie am 09.01.2004 begründet hat. Das zunächst auch gegen die Beklagte Ziffer 1 eingelegte Rechtsmittel hat sie mit Schriftsatz vom 15.12.2003 wieder zurückgenommen. Die Klägerin greift im Wesentlichen die Beweiswürdigung des Einzelrichters an. Außerdem hält sie das Urteil für eine Überraschungsentscheidung. Der Einzelrichter habe noch nach der Beweisaufnahme den Parteien empfohlen, in Vergleichsverhandlungen einzutreten. Er habe nicht mit den Parteien erörtert, dass eine vollständige Abweisung der Klage in Betracht komme. Schließlich führe eine nach § 17 StVG vorzunehmende Haftungsverteilung zu einer Quote zu Lasten der Beklagten. Keinesfalls aber habe diese den ihr obliegenden Unabwendbarkeitsbeweis erbracht. Hierzu habe das Landgericht auch keine Ausführungen gemacht. Da sie sich selbst eine Betriebsgefahr von 20 % anrechnen lasse, mache sie mit der Berufung nur noch 80 % des ihr entstandenen Schadens geltend.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Beklagte Ziffer 2 zu verurteilen, an die Klägerin 3.929,62 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 24.07.2002 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

II.

1. Die gemäß § 511 Abs. 1 ZPO statthafte Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 517, 519, 520 ZPO; die Berufungssumme ist erreicht, § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

2. Sachlich ist das Rechtsmittel teilweise gerechtfertigt. Der Klägerin steht gegen die Beklagte Ziffer 2 aufgrund des Verkehrsunfalls vom 30.06.2002 ein Schadensersatzanspruch über 1.635,64 EUR zu.

a) Die Beklagte Ziffer 2 war unstreitig Halterin des Feuerwehrfahrzeugs, sodass sie gemäß § 7 Abs. 1 StVG in der bis zum 30.07.2002 geltenden Fassung den der Klägerin entstandenen Schaden zu ersetzen hat. Diese Ersatzpflicht ist nicht nach § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen, weil die Beklagte nicht bewiesen hat, dass der Unfall für sie bzw. den Fahrzeugführer ein unabwendbares Ereignis war.

Soweit das Landgericht eine Haftung der Beklagten wegen schuldhaften Verhaltens mit der Begründung ablehnt, es sei nach der Beweisaufnahme nicht von einem Verschulden des Fahrers überzeugt, so ist dies allerdings nicht zu beanstanden. Zwar haben die Zeugen Kr. und dessen Freundin bekundet, das Feuerwehrfahrzeug sei während des Überholvorgangs auf die linke Fahrspur geraten; demgegenüber haben die Zeugen S. jedoch gemeint, das Feuerwehrfahrzeug sei ganz normal auf der rechten Spur gefahren. Auch wenn Herr S. sich konkret nur an die Vorderräder erinnern konnte, die sich auf der rechten Seite befunden haben sollen, so stellt es keinen Verstoß gegen die freie Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) dar, wenn der Einzelrichter angesichts dieser Aussagen ein Verschulden des Fahrers der Beklagten Ziffer 1 nicht als bewiesen angesehen hat. Denn selbst der Umstand, dass sich die linken Räder des Feuerwehrfahrzeugs offenbar schon im Bereich der Mittellinie befanden (was selbst Fahrer und Beifahrer nicht ausschließen konnten), begründet keinen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot. Es liegen keinerlei Angaben zur Fahrbahnbreite und zur Fahrzeugbreite vor. Auch bleibt unklar, ob an der rechten Fahrbahnbegrenzung Warnbaken aufgestellt waren. Angesichts der Zeugenaussagen dürfte lediglich feststehen, dass die Bundesstraße an der Unfallstelle verhältnismäßig schmal ist (Fahrbahnverengung auf Grund eines Brückenverlaufs; nach der Aussage des Zeugen Kh. konnten sich nur Pkw bequem begegnen, bei einem Lkw und einem Pkw sei es schon schwierig, und zwei Lkw im Gegenverkehr müssten sich verständigen). Hinzu kommt, dass das Rechtsfahrgebot nicht in jedem Fall ein Fahren hart an der rechten Fahrbahnbegrenzung vorschreibt. Das Rechtsfahrgebot ist keine starre Regel; es gewährt dem Kraftfahrer vielmehr einen gewissen Spielraum (BGH VersR 66, 776; 80, 849). Es kommt demnach darauf an, ob der Kraftfahrer nach den gesamten Umständen "vernünftig" weit rechts fährt (BGH VersR 79, 528 m. w. N.). Für die Annahme, dass dies beim Fahrer des Feuerwehrfahrzeugs hier nicht der Fall war, gibt es keine objektiven Anhaltspunkte.

Der Umstand, dass dem Fahrer der Beklagten kein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden kann, führt aber nicht zwangsläufig zu einer alleinigen Haftung der Klägerin und des Fahrers. Denn die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG setzt ein Verschulden gerade nicht voraus.

b) Da der Unfall von beiden Seiten verursacht wurde, hätte sich das Landgericht deshalb mit § 17 StVG auseinandersetzen müssen. Der Hinweis am Ende des Urteils, die Betriebsgefahr des Feuerwehrfahrzeugs überwiege gegenüber der des Pkw Golf nicht, genügt insoweit ersichtlich nicht; denn es hätte, um eine Haftung der Beklagten gänzlich auszuschließen, begründet werden müssen, dass die Betriebsgefahr hier vollständig zurücktritt. Nur dann kann eine Haftung der Beklagten bei der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile vollständig entfallen.

Nach Auffassung des Senats ist ein derart einseitiges Abwägungsergebnis zugunsten der Beklagten nicht zu begründen. Es ist zwar richtig, dass sich das Überholmanöver unmittelbar vor der Brücke angesichts der engen Straßenverhältnisse als nicht ganz risikolos darstellte. Andererseits fuhr das Feuerwehrfahrzeug verhältnismäßig langsam (50 bis 60 km/h), und es ist auch nicht dargetan, dass die offenbar nur leichte S-Kurve unübersichtlich ist. Der Überholvorgang in dieser Situation begründet zwar durchaus eine erhöhte Betriebsgefahr des Pkw. Ein gänzliches Zurücktreten der Betriebsgefahr des ohnehin massereicheren und breiteren Feuerwehrfahrzeugs ist jedoch nicht gerechtfertigt.

Da dem Sohn der Klägerin angesichts des offenen Beweisergebnisses ebenfalls kein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden kann, hält der Senat eine Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten des überholenden Fahrzeugs, also zu Lasten der Klägerin, für gerechtfertigt. Dies bedeutet, dass eine Schadensersatzforderung in Höhe von 1.635,64 EUR begründet ist (1/3 des Gesamtschadens über 4.906,92 EUR, wobei der Senat als Auslagenpauschale lediglich 20,45 EUR angesetzt hat).

In diesem Umfang ist das angefochtene Urteil daher abzuändern. Einen Verzug der Beklagten Ziffer 2 hat die Klägerin nicht dargetan, sodass sie lediglich Prozesszinsen ab Zustellung der Klageschrift beanspruchen kann, §§ 291, 288 BGB.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 1, 269 Abs. 3 Satz 2, 516 Abs. 3 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO. Streitwert und Beschwer sind gemäß §§ 2, 3, 544 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO festgesetzt worden. Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.



Ende der Entscheidung

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