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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Urteil verkündet am 17.08.2006
Aktenzeichen: 4 UF 10/06
Rechtsgebiete: RegelbetragVO, ZPO, BGB


Vorschriften:

RegelbetragVO § 2
ZPO § 511
ZPO § 517
ZPO § 519
ZPO § 520
BGB § 1601
BGB § 1602
BGB § 1603
BGB § 1603 Abs. 2
BGB § 1603 Abs. 2 Satz 1
BGB § 1612 a
Der Senat hat eine Auskunft des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit zum Mindestlohn im Baugewerbe für ungelernte Arbeitnehmer eingeholt.

Der so ermittelte fiktive Lohn wurde um 150 Euro erhöht, da für den Beklagten eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit besteht und er diesen Betrag durch Austragen von Zeitschriften, Zeitungen oder Prospekten erzielen kann.


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

4 UF 10/06 OLG Naumburg

verkündet am: 17.08.2006

In der Familiensache

wegen Kindesunterhalts

hat der 4. Zivilsenat - Familiensenat - des Oberlandesgerichts Naumburg unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Dr. Zettel, des Richters am Oberlandesgericht Feldmann und der Richterin am Amtsgericht Meier auf die mündliche Verhandlung vom 10. August 2006 für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das am 16. März 2006 verkündete Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Halle-Saalkreis abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ab dem 1. September 2006 einen monatlichen Unterhalt in Höhe von 100 % des Regelbetrages (Ost) gemäß § 2 Regelbetragverordnung der 1. Altersstufe, abzüglich des jeweiligen anteiligen staatlichen Kindergeldes, derzeit 11,00 EUR, ab dem 01.12.2006 100 % des Regelbetrages (Ost) gemäß § 2 Regelbetragverordnung der 2. Altersstufe, abzüglich des jeweiligen anteiligen staatlichen Kindergeldes, derzeit 0,00 EUR, und ab dem 01.12.2012 100 % des Regelbetrages (Ost) gemäß § 2 Regelbetragverordnung der 3. Altersstufe, abzüglich des jeweiligen anteiligen staatlichen Kindergeldes, derzeit 0,00 EUR, zu Händen der gesetzlichen Vertreterin zu zahlen.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Streitwert wird auf 2.124,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Die am 25.12.2000 geborene Klägerin ist die nichteheliche Tochter des Beklagten, sie lebt bei der Mutter und erhält Unterhaltsvorschuss. Der Beklagte ist ledig, 29 Jahre alt (geb. 02.08.1977) und nur mit kurzen Unterbrechungen seit 1999 arbeitslos. Er hat keinen Schulabschluss und keine abgeschlossene Ausbildung. Von 1992 bis 1993 absolvierte er ein berufsvorbereitendes Jahr und begann 1994 bei seinem Onkel eine Lehre als Hoch- und Tiefbauer, die er im zweiten Lehrjahr wegen familiärer Streitigkeiten abbrach. In den Jahren 1997 und 1998 war er als Hilfsarbeiter tätig und verdiente damals ca. 1.000,-- DM. Während seiner Arbeitslosigkeit nahm er an berufsfördernden Maßnahmen des Bildungswerkes H. (2001 bis 2002) und der IHK H. (2005) teil. Derzeit erhält er monatlich 345,-- EUR Hilfe zum Lebensunterhalt.

Die Klägerin meint, der Beklagte müsse sich ein fiktives Einkommen anrechnen lassen und deshalb als leistungsfähig angesehen werden, zumal er angesichts seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheit auch einer Nebenerwerbstätigkeit nachgehen müsse. Im Baugewerbe liege der Mindeststundenlohn bei 8,80 EUR, so dass bei fiktiver Berechnung der Regelunterhalt zu 100 % gezahlt werden könne.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an sie ab dem ersten Monat nach Schluss der letzten mündlichen Verhandlung einen monatlichen Unterhalt in Höhe von 100 % des Regelunterhaltes gemäß § 2 Regelbetragsverordnung der 1. Altersstufe, abzüglich des jeweiligen anteiligen staatlichen Kindergeldes, derzeit 11,00 EUR, ab dem 01.12.2006 100 % des Regelunterhalts gemäß § 2 Regelbetragsverordnung der 2. Altersstufe, abzüglich des jeweiligen anteiligen staatlichen Kindergeldes, derzeit 0,00 EUR, und ab dem 01.12.2012 100 % des Regelunterhalts gemäß § 2 Regelbetragsverordnung der 3. Altersstufe, abzüglich des jeweiligen anteiligen staatlichen Kindergeldes, derzeit 0,00 EUR, zu Händen der gesetzlichen Vertreterin zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat die Auffassung vertreten, er sei nicht leistungsfähig. Aufgrund seiner fehlenden Qualifikation bestehe auf dem Arbeitsmarkt für ihn objektiv keine Möglichkeit, ein Einkommen zu erzielen, das über den Selbstbehalt hinausgehe. Er könne lediglich als Hilfsarbeiter tätig sein und auf diese Weise allenfalls einen Stundenlohn von 4,50 EUR bzw. 5,50 EUR in den alten Bundesländern erzielen. Bei durchschnittlich 200 Arbeitsstunden errechne sich ein Einkommen von 900,-- bzw. 1.100,-- EUR brutto; nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben verblieben dann nur 650,-- bzw. 700,-- EUR.

Das Amtsgericht ist der Argumentation des Beklagten gefolgt, hat ihn trotz gesteigerter Erwerbsobliegenheit als nicht leistungsfähig angesehen und die Klage abgewiesen.

Gegen diese ihr am 24.03.2006 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin am 06.04.2006 Berufung eingelegt, die sie am 04.05.2006 begründet hat. Sie rügt, das Amtsgericht habe es versäumt, den von ihr angebotenen Beweis auf Beiziehung des Bautarifvertrages in der derzeit gültigen Fassung vom 29.07.2005, woraus sich ein Mindestlohn von 8,80 EUR ergebe, zu erheben. Rein spekulativ sei die Annahme, eine Einstellung im Baugewerbe werde allenfalls über eine Arbeitsvermittlungsstelle möglich sein und eine tarifgerechte Bezahlung dann nicht stattfinde. Gleiches gelte für die Ausführungen, gerade im Bereich der Niedriglohntätigkeiten müsse häufig schwere körperliche Arbeit geleistet werden mit einer täglichen Arbeitszeit von mehr als acht Stunden. Das Amtsgericht habe auch nicht berücksichtigt, dass der Beklagte bei seinen Eltern wohne und keine Miete zahle; deshalb müsse der Selbstbehalt um 380,-- EUR gekürzt werden.

Mit Schriftsatz vom 16.05.2006 hat die Klägerin ein Schreiben des Beklagtenvertreters vom 11.05.2006 vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass der Beklagte seit dem 08.05.2006 eine Arbeitsstelle als Hilfsarbeiter in München angenommen habe.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und den Beklagten nach ihren Anträgen in der ersten Instanz zur Zahlung des Regelunterhalts zu verurteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil. Zur Berufstätigkeit räumt er ein, am 08.05.2006 eine Tätigkeit als Sandstrahler angenommen zu haben zu einem Stundenlohn von 11,-- EUR brutto, was einen Monatsnettolohn von 1.244,39 EUR ergab. Dieses Arbeitsverhältnis sei vom Arbeitgeber aber schon nach sieben Wochen während der Probezeit am 04.07.2006 gekündigt worden, weil er - der Beklagte - intellektuell überfordert gewesen sei. Er habe nicht verstanden, was von ihm verlangt worden sei, und wenn er etwas verstanden habe, habe er aufgrund seines fehlenden handwerklichen Verständnisses die Arbeiten nicht ausführen können. Aus diesem Grunde werde er auch künftig allenfalls Hilfsarbeiten vornehmen können, die keinerlei weitere Fähigkeiten voraussetzten. Ein Stundenlohn von 8,80 EUR sei damit keinesfalls zu erzielen. Er habe sich zwischenzeitlich auch weiter beworben. Zum Nachweis für diese Behauptung hat er fünf Bewerbungen aus dem Monat Mai, vier aus dem Monat Juni und drei aus dem Monat Juli 2006 vorgelegt.

Hinsichtlich der Mietaufwendungen behauptet der Beklagte unter Vorlage eines Mietvertrages mit seinem Vater nunmehr, er wohne zwar im Haus seiner Eltern; dort habe er aber eine Wohnung angemietet, für die er einschließlich Nebenkosten 320,-- EUR bezahle.

Schließlich meint er, ihm stehe ein Zurückbehaltungsrecht zu, weil die Mutter der Klägerin den Umgang mit ihm ständig verhindere.

In der mündlichen Verhandlung hat der Senat den Parteien die noch vom Amtsgericht eingeholte Tarifauskunft des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit vom 15.03.2006 bekannt gegeben.

II.

1.

Die gemäß §§ 511, 517, 519, 520 ZPO zulässige Berufung hat auch in der Sache Erfolg. Der Klägerin steht gegen den Beklagten gemäß §§ 1601, 1602, 1603 BGB ein Unterhaltsanspruch in Höhe des geltend gemachten Regelbetrages (100 %) zu.

a) Die Klägerin ist das (minderjährige) Kind des Beklagten und damit ihm gegenüber nach § 1601 BGB unterhaltsberechtigt. Da sie sich als fünfjähriges Kind nicht selbst unterhalten kann, ist sie bedürftig im Sinne von § 1602 BGB, Vermögen hat sie nicht.

b) Auch wenn der Beklagte arbeitslos und damit tatsächlich nicht leistungsfähig i.S.v. § 1603 BGB ist, muss er sich entgegen der Annahme des Amtsgerichts nach § 1603 Abs. 2 BGB als leistungsfähig behandeln lassen, weil er seine fehlende Leistungsfähigkeit nicht schlüssig dargelegt hat. Diese bestimmt sich nämlich, weil er zur Sicherstellung des Mindestunterhalts gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB einer gesteigerten Erwerbsobliegenheit unterliegt, nicht ausschließlich nach seinem tatsächlichen, sondern nach dem in zumutbarer Weise erzielbaren Einkommen.

Die Darlegungs- und Beweislast für eine unter Umständen fehlende Leistungsfähigkeit trifft nach der gesetzlichen Konzeption des § 1603 BGB, der als Ausschluss- bzw. Ausnahmetatbestand zur grundsätzlich bestehenden Unterhaltspflicht nach §§ 1601, 1602 BGB geregelt ist, den Beklagten als Unterhaltsschuldner. Dies gilt uneingeschränkt solange, wie die Unterhaltsforderung - wie hier - nicht über den Regelunterhalt nach der Regelbetrag-VO zu § 1612 a BGB hinausgeht (vgl. BGH, FamRZ 2002, S. 536 ff.). Selbst bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit muss der Unterhaltsverpflichtete alles Zumutbare unternehmen, um durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit seine Leistungsfähigkeit wieder herzustellen. Die unternommenen Anstrengungen müssen im Unterhaltsprozess konkretisiert werden, und zwar durch eine nachprüfbare Aufstellung der Bewerbungen. Der Vortrag des Beklagten genügt diesen Voraussetzungen nicht.

Die von ihm in der Berufungsinstanz vorgelegten Bewerbungsschreiben für den Zeitraum vom 20.05. bis 12.07.2006 lassen schon nicht erkennen, ob es sich um Bewerbungen auf konkret ausgeschriebene Stellenangebote oder um sog. Blindbewerbungen handelt, die bei der Beurteilung der Bewerbungsbemühungen grundsätzlich unberücksichtigt bleiben (vgl. Palandt/Diederichsen, BGB 65. Aufl., 2006, § 1603 Rdnr. 38; Kalthoener/Büttner/Niepmann, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 9. Aufl., 2004, Rdnr. 619, 620). Auch die Anzahl der Bewerbungsschreiben ist unzureichend. Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Beklagte die behaupteten Bewerbungen noch während seiner Berufstätigkeit und nicht während seiner Arbeitslosigkeit aufgegeben hat, so dass die grundsätzlich geforderten 20 bis 30 Bewerbungen im Monat vom Beklagten nicht verlangt werden konnten. Dennoch ist die behauptete Anzahl (im Mai fünf, im Juni vier und im Juli drei Bewerbungen) vorliegend nicht ausreichend. Selbst bei einem achtstündigen Arbeitstag hätte der Beklagte allein am Wochenende ohne weiteres zwei bis drei, im Monat also durchaus acht bis zehn Bewerbungen aufgeben können und müssen.

Abgesehen hiervon hat der Senat angesichts der eigenen Einlassung des Beklagten in der mündlichen Verhandlung erhebliche Zweifel, ob es sich bei den vorgelegten Schreiben tatsächlich um echte Bewerbungen gehandelt hat; denn auf entsprechende Frage des Senats war dem Beklagten nicht einmal sogleich bewusst, dass er sich - wie es die Daten auf den Bewerbungsschreiben ausweisen - bereits wenige Tage nach der Aufnahme seiner Tätigkeit bei der Firma F. am 08.05.2006 schon wieder anderweitig beworben haben will.

Schließlich ist in keiner Weise dargetan, ob und in welchem Umfang er sich nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses um eine Arbeitsstelle beworben hat. Angesichts der bestehenden gesteigerten Erwerbsobliegenheit genügte es nicht, sich arbeitslos zu melden und sich auf die Vermittlungsbemühungen durch das Arbeitsamt zu beschränken; der Unterhaltsschuldner muss vielmehr selbständig Arbeitsuche betreiben, sich dementsprechend auf Stellengesuche bewerben und ggf. sogar selbst eigene Stellenanzeigen schalten.

c) Der fiktive Lohn ist mit mindestens 1.000,-- EUR anzunehmen. Hierfür spricht zum einen die Auskunft des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit vom 15.03.2006 gegenüber dem Familiengericht, wonach der Mindestlohn im Baugewerbe für ungelernte Arbeitnehmer 8,80 EUR beträgt (Bl. 107), zum anderen aber auch der Umstand, dass der Beklagte im Mai 2006 - wenn auch nur für kurze Zeit - tatsächlich eine Tätigkeit mit einem Stundenlohn von 11,-- EUR gefunden hat. Der Senat geht davon aus, dass der Beklagte deshalb einen Stundenlohn von 8,80 EUR auf dem Arbeitsmarkt durchaus erzielen kann, zumal er gehalten ist, sich auch überregional zu bewerben. Die schon nach wenigen Wochen ausgesprochene Kündigung der Fa. F. belegt gerade nicht, dass der Beklagte mit der (einfachen) Arbeit überfordert war; denn auf die Frage des Senats nach dem Grund für die Kündigung hat der Beklagte zunächst spontan erklärt, es habe keinen gegeben, ihm sei grundlos während einer Erkrankung, die er nicht näher erläutern wollte, gekündigt worden. Demgegenüber ist der Vortrag, der Beklagte sei wegen seiner fehlenden Qualifikation mit der Tätigkeit (Stemm- und Sandstrahlarbeiten) überfordert gewesen, widersprüchlich und unsubstantiiert; einer Vernehmung des früheren Arbeitgebers bedurfte es daher nicht.

d) Darüber hinaus ist das (fiktive) Einkommen noch um mindesten 150,-- EUR zu erhöhen, da dem Beklagten angesichts seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheit eine Nebentätigkeit wie z. B. Austragen von Zeitungen, Zeitschriften, Werbeprospekten zuzumuten ist, aus welcher erfahrungsgemäß monatlich zumindest 150,-- bis 200,-- Euro netto erzielt werden könnten.

Somit ist von einem (fiktiven) Einkommen in Höhe von mindestens 1.150,-- EUR auszugehen.

e) Unter Berücksichtigung des notwendigen Selbstbehalts von 820,-- EUR verbleiben somit mindesten 330,-- EUR, die zur Leistung des Regelbetrages ausreichen. Ein Zurückbehaltungsrecht steht dem Beklagten nicht zu.

2.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO. Der Streitwert ist gemäß § 42 Abs. 1 Satz 2 GKG festgesetzt worden. Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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