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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Naumburg
Beschluss verkündet am 13.03.2006
Aktenzeichen: 8 Wx 4/06
Rechtsgebiete: PsychKG-LSA, JGG, StPO, StGB


Vorschriften:

PsychKG-LSA § 1
PsychKG-LSA § 13 Abs. 1
PsychKG-LSA § 13 Abs. 2
JGG § 7
StPO § 126a
StGB § 63
StGB § 64
StGB § 67b
Auch gegenüber einer strafrechtlichen Unterbringungsmaßnahme ist die Unterbringung nach einem landesrechtlichen PsychKG nicht subsidiär, wenn sich eine solche Unterbringung für die Heilung und Pflege des Beschuldigten bzw. Betroffenen als günstiger erweist; in diesem Fall ist die strafrechtliche Unterbringung nämlich auszusetzen, weil der mit der Anordnung der strafrechtlichen Unterbringung verfolgte Zweck auch durch die Aussetzung erreichbar ist.

Weicht ein in zweiter Instanz eingeholtes Gutachten in wichtigen Aussagen von den Feststellungen und Bewertungen der ersten Instanz ab, muss das Beschwerdegericht (Landgericht) den Gutachter und den Betroffenen erneut anhören.


OBERLANDESGERICHT NAUMBURG BESCHLUSS

8 Wx 4/06 OLG Naumburg

In dem Unterbringungsverfahren

hat der 8. Zivilsenat - 2. Senat für Familiensachen - des Oberlandesgerichts Naumburg durch die Richter am Oberlandesgericht Wiedenlübbert und Bisping sowie die Richterin am Oberlandesgericht Joost

am 13. März 2006

beschlossen:

Tenor:

Auf die weitere sofortige Beschwerde des Rechtsamtes der Stadt H. wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Halle vom 30. Januar 2006 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Der Beschwerdewert beträgt EUR 3.000.

Gründe:

I.

Der (am 17. Februar 1985 geborene) Betroffene trat mehrfach strafrechtlich in Erscheinung. Am 04. Oktober 2001 wurde er wegen Körperverletzung verurteilt. Am 18. Dezember 2001 sah die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung sexuellen Missbrauchs von Kindern ab. Nachdem der Betroffene Anfang 2002 einen Suizidversuch unternommen hatte, wurde er am 24. Juli 2002 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Jugendstrafe verurteilt. Diese Verurteilung wurde in eine weitere Verurteilung vom 14. April 2004 einbezogen, mit der der Betroffene wegen gefährlicher Körperverletzung gegenüber einem Mitgefangenen schuldig gesprochen worden ist. Am 12. August 2004 teilte der Jugendanstaltsleiter mit, dass der Betroffene nach wie vor durch Anzüglichkeiten und Annäherungsversuche gegenüber minderjährigen Mitgefangenen auffällt und sich seine sexuellen Phantasien während der Haft sogar noch gesteigert haben, da er nun mehr auch an gewalttätiges Vorgehen denkt; außerdem äußere der Betroffene die Befürchtung, dass er gegen seine Phantasien nicht mehr ankommt, weil die Schwelle zwischen Phantasie und Realität immer niedriger wird.

Daraufhin wurde ein Betreuungsverfahren eingeleitet, in dem der Betroffene im März 2005 psychiatrisch begutachtet worden ist. Gegenüber dem Gutachter Dr. G. erklärte er, dass sich seine sexuelle Ausrichtung hauptsächlich auf 10- bis 12-jährige Kinder des eigenen Geschlechts bezieht und in seiner Phantasie oft Gewalt - beispielsweise Strangulieren, Erwürgen und Verbrennen - mitspielt. So stelle er sich vor, einen 10- bis 12-jährigen Jungen in den Wald zu ziehen, zu strangulieren und sich dann an dem toten Körper zu vergehen. Im Ergebnis diagnostizierte der Gutachter zwar Pädophilie mit sadistischen Neigungen und eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, hielt aber eine Betreuung nicht für angezeigt, da der Betroffene noch uneingeschränkt zur Besorgung seiner Angelegenheiten fähig ist (§ 1896 BGB).

Am 18. November 2005 wurde der Betroffene aus der Haft entlassen; seitdem steht er unter Führungsaufsicht (§ 7 JGG).

Am 11. November 2005 hat das Ordnungsamt der Stadt H. einen Antrag auf Unterbringung nach den Bestimmungen des PsychKG-LSA eingereicht. Bei seiner mündlichen Anhörung vor dem Amtsgericht hat Dr. G. am 17. November 2005 - u. a. unter Bezugnahme auf sein früheres Gutachten - ausgeführt, dass der Betroffene freimütig von seinen Phantasien berichtet, nach denen er eine bessere sexuelle Befriedigung durch Gewaltanwendungen gegen Kinder erzielt. Die größte Befriedigung erfahre er bei der Vorstellung, dass er Kinder tötet und sich anschließend an ihren Leichen vergeht. Gegenüber dem Gericht wiederholte der Betroffene seine Angst davor, dass er seine Phantasien in die Tat umsetzt. Ergänzend führte der Gutachter aus, der Betroffene habe ihm berichtet, dass er sich inzwischen auch durch Strangulationen am eigenen Körper sexuell erregt. Im Hinblick darauf sprach der Gutachter explizit von einer "psychischen Erkrankung, von der hier ausgegangen werden muss". Die Erkrankung sei therapierbar, da es möglich sei, dass die Steuerungsfähigkeit des Betroffenen beeinflusst (sc. wiederhergestellt) wird. Dazu sei eine Therapie von wenigstens sechs bis zwölf Monaten notwendig. Eine Therapie "unter offenen Bedingungen" komme schon in Anbetracht des aggressiven Potentials des Betroffenen "keinesfalls" in Betracht. Zwar könne man nicht mit Sicherheit voraussagen, ob der Betroffene seine Phantasien in die Tat umsetzen wird; medizinische Erfahrungen mit "Erkrankten" wie dem Betroffenen hätten aber gezeigt, dass von diesem Personenkreis eine konkrete Gefahr ausgeht. Dem schloss sich das Amtsgericht zwar an, sah sich aber an einer Unterbringung gehindert, weil eine solche Maßnahme nach § 13 Abs. 2 PsychKG-LSA nicht mehr angeordnet werden darf, wenn bereits Maßnahmen nach § 7 JGG angeordnet worden sind.

Die sofortige Beschwerde des Rechtsamtes der Stadt H. wies die 2. Zivilkammer des Landgerichts am 30. Januar 2006 zurück. Dabei stützte sich das Landgericht auf ein von ihm eingeholtes "vorläufiges" schriftliches Gutachten von Dr. G. , das auf einer Exploration vom 09. Dezember 2005 beruht und in dem es heißt, dass eine Psychose, Suchtkrankheit oder eine seelische oder geistige Behinderung nicht vorliegt und die Exploration auch keinen "sicheren" Hinweis auf eine andere krankhafte seelische oder geistige Störung im Sinne von § 1 PsychKG-LSA ergab. Zur Frage der Selbstgefährdung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung äußerte sich das schriftliche Gutachten ebenfalls unsicher und zweifelnd.

II.

Die weitere sofortige Beschwerde der Behörde (§ 29 Abs. 1 S. 3 FGG) ist zulässig (§ 29 Abs. 2, § 70 m, § 70 g Abs. 3 FGG). Das Rechtsmittel ist auch begründet, weil das Landgericht seiner Amtsermittlungspflicht (§ 12 FGG) nicht ausreichend nachgekommen ist:

1. Das Landgericht führt zutreffend aus, dass eine Unterbringung des Betroffenen nicht an der Bestimmung zu § 13 Abs. 2 PsychKG-LSA scheitert. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung darf eine Unterbringung nach dem PsychKG-LSA zwar nicht mehr angeordnet werden, wenn bereits eine Maßnahme nach § 126a StPO, §§ 63, 64 StGB oder § 7 JGG getroffen worden ist (§ 13 Abs. 2 S. 1 PsychKG-LSA); und zu Maßregeln nach § 7 JGG gehören neben der - jugendrichterlichen - Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt auch die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Führungsaufsicht (§ 61 Nr. 1, 2, 4 und 5 StGB). Mit Recht legt das Landgericht den Wortlaut der Bestimmung zu § 13 Abs. 2 PsychKG-LSA aber dahin einschränkend aus, dass nur eine freiheitsentziehende Maßregel nach § 7 JGG - also eine nach dieser Vorschrift verfügte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt -, nicht aber die Entziehung der Fahrerlaubnis oder Führungsaufsicht eine Unterbringung nach dem PsychKG-LSA hindert. Darauf deutet schon der Vergleich mit den anderen strafrechtlichen (Unterbringungs-)Maß-nahmen nach § 126a StPO und §§ 63, 64 StGB hin, denen gegenüber die Unterbringung nach § 13 Abs. 2 PsychKG-LSA subsidiär ist. Im Übrigen ist ein weiterer Gesichtspunkt entscheidend: Auch gegenüber einer strafrechtlichen Unterbringungsmaßnahme (§§ 63, 64 StGB) ist die Unterbringung nach einem landesrechtlichen PsychKG nicht subsidiär, wenn sich eine solche Unterbringung für die Heilung und Pflege des Beschuldigten bzw. Betroffenen als günstiger erweist; in diesem Fall ist die strafrechtliche Unterbringung nämlich auszusetzen, weil der mit der Anordnung der strafrechtlichen Unterbringung verfolgte Zweck auch durch die Aussetzung - die eine Unterbringung nach dem jeweiligen landesrechtlichen PsychKG zur Folge hat - erreichbar ist (§ 67b Abs. 1 StGB; BGHSt 34, 313, 317; ferner Schönke-Schröder-Stree, StGB, 26. Auflage, § 67b Rn 5 m. w. N.). Mit der Aussetzung der strafrechtlichen Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein (§ 67b Abs. 2 StGB). Aus der Vorschrift zu § 67b StGB lässt sich also die zwingende Schlussfolgerung ziehen, dass eine Unterbringung nach einem landesrechtlichen PsychKG lediglich gegenüber einer zu vollstreckenden strafrechtlichen Unterbringungs-maßnahme, nicht aber gegenüber bloßer Führungsaufsicht oder gar einer Entziehung der Fahrerlaubnis subsidiär ist (so auch LK-Hanack, StGB, 11. Auflage, § 63 Rn 113 m. w. N.; ferner im Erg. Reckers, PsychKG-LSA, 2. Auflage, § 13 Anm 8 und BayObLG, FamRZ 2002, 909, 910).

2. Zu Recht weist die Beschwerdeführerin darauf hin, dass das Landgericht ersichtlichen Bedenken gegen die Aussagekraft des von ihm eingeholten "vorläufigen" schriftlichen Gutachtens nicht nachgegangen ist:

a) Das in zweiter Instanz eingeholte schriftliche Gutachten von Dr. G. steht in seinem Ergebnis im Widerspruch zu den mündlichen Äußerungen des Gutachters in erster Instanz. Der Widerspruch geht auf Unsicherheiten bei den Tatsachenfeststellungen zurück, die nach den Ausführungen des Gutachters darauf zurückzuführen sind, dass der Betroffene bei der Exploration vom 09. Dezember 2005 "deutlich weniger kooperativ" als früher und zum Teil sogar "sehr abwehrend und reserviert" gewesen ist. Trotz bekundeter Bereitschaft habe der Betroffene "hinsichtlich bestimmter, zum Teil durchaus wichtiger Punkte" die Auskunft verweigert. Wolle man etwas über die sexuellen Phantasien eines Menschen erfahren, sei man jedoch "vollständig" auf dessen Wahrhaftigkeit und Offenheit angewiesen. Offenheit habe der Betroffene nur noch "rudimentär" gezeigt.

Angesichts dessen war eine Wiederholung der mündlichen Anhörung des Gutachters und des Betroffenen in zweiter Instanz unerlässlich. Nur auf diese Weise konnte sich das Landgericht nämlich selbst einen unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen verschaffen (§ 70c FGG) und dem Gutachter gleichzeitig Gelegenheit geben, den Betroffenen noch einmal zu befragen und dadurch die Aussagekraft seines schriftliches Gutachtens - in der einen oder anderen Richtung - zu erhöhen. Für den Fall, dass dies nicht gelang, kam eine Unterbringung des Betroffenen zum Zwecke einer gründlicheren Nachbegutachtung in Betracht (§ 70e Abs. 2 i. V. m. § 68b Abs. 4 FGG). Zu guter Letzt hätte das Landgericht den Gutachter ausführlich befragen können, ob und inwieweit ein Rückgriff auf seine ergiebigeren früheren Begutachtungen in Betracht zu ziehen ist. Jedenfalls durfte das Landgericht nicht ohne erneute Anhörung zu einem Ergebnis gelangen, das den Tatsachenfeststellungen des Amtsgerichts widersprach (vgl. Keidel/Kuntze/Winkler/Kayser, FGG, 15. Auflage, § 69g Rn 28 f. m. w. N.).

Dem steht - abweichend von der Auffassung des Landgerichts - nicht entgegen, dass die Strafgerichtsbarkeit von einer uneingeschränkten Verantwortlichkeit des Betroffenen ausgegangen ist. Denn nicht nur aus dem Strafurteil vom 14. April 2004, sondern auch aus dem Bericht des Jugendanstaltsleiters und den Explorationen des Gutachters im Betreuungs- sowie im erstinstanzlichen Unterbringungsverfahren geht deutlich hervor, dass sich der Gesundheitszustand des Betroffenen während der Haft dramatisch verschlechtert hat. Die vom Landgericht zitierte Entscheidung des BayObLG (a. a. O., S. 911) ist im vorliegenden Fall mithin nicht ohne Weiteres einschlägig.

b) Im weiteren Verfahren wird das Landgericht auch Folgendes zu beachten haben:

Nach § 13 Abs. 1 PsychKG ist eine Unterbringung anzuordnen, wenn von dem Betroffenen die Gefahr einer krankheitsbedingten Selbstgefährdung (Nr. 1) oder Fremdgefährdung (Nr. 2) ausgeht. Das PsychKG-LSA dient der Unterbringung von Kranken (so die Bezeichnung des Gesetzes; vgl. BayObLG a. a. O., S. 911). Eine Krankheit sieht das Gesetz nicht nur in einer Psychose, Suchtkrankheit oder in einer seelischen oder geistigen Behinderung, sondern auch in einer anderen krankhaften seelischen oder geistigen Störung (§ 1 Nr. 1 PsychKG-LSA). Dafür reicht zwar für sich genommen weder eine pädophile Veranlagung in Kombination mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung noch der Umstand aus, dass der Betroffene zu kriminellen Handlungen neigt. Ausreichend ist es jedoch, wenn die psychische Störung erheblichen Einfluss auf die Willensbildung und Steuerungsfähigkeit des Betroffenen hat, so dass ihr ein die Freiheitsentziehung rechtfertigender Schweregrad zukommt. Letzteres ist der Fall, wenn der Betroffene seine Handlungen nicht mehr uneingeschränkt zu steuern vermag, ihm also eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit attestiert werden muss (BayObLG a. a. O., S. 910). Gerade dies kommt hier in Betracht, da der Betroffene mehrfach die Befürchtung geäußert hat, dass er gegen seine Phantasien nicht mehr ankommt, und der Gutachter aus diesem Grunde eine nachhaltige Behandlung der Steurungsfähigkeit des Betroffenen für notwendig erachtet hat. Bei psychischen Störungen sind die Grenzen zum Krankhaften fließend. Ob die Grenzen überschritten sind, bedarf - nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Belange des Betroffenen - einer besonders strengen und sorgfältigen Prüfung (BVerfG, NJW 1984, 1806).

3. Der Senat ist zu einer solchen Prüfung nicht befugt, da die weitere sofortige Beschwerde ihrem Wesen nach eine reine Rechtsbeschwerde darstellt (§ 27 FGG), so dass die Beurteilung des Tatrichters nur daraufhin überprüft werden kann, ob der Tatrichter einen unbestimmten Rechtsbegriff verkannt hat, von ungenügenden oder verfahrenswidrig zu Stande gekommenen Feststellungen ausgegangen ist oder wesentliche Umstände außer Acht gelassen oder gegen Denkgesetze verstoßen hat (vgl. Keidel/Kuntze/Winkler/Meyer-Holz a. a. O., § 27 Rn 42 ff.).

Ende der Entscheidung

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