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Gericht: Oberlandesgericht Nürnberg
Beschluss verkündet am 04.10.2007
Aktenzeichen: 2 St OLG Ss 161/07
Rechtsgebiete: MRK


Vorschriften:

MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
1. Eine rechtstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Sinne eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ist regelmäßig lediglich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Nur in außergewöhnlichen Einzelfällen, in denen eine angemessene Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen einer Sachentscheidung bei umfassender Gesamtwürdigung nicht mehr in Betracht kommt, kann ein Verfahrenshindernis anzunehmen sein (ständige Rechtsprechung).

2. Will der Revisionsführer wegen eines behaupteten Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses geltend machen, so muss dazu eine den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügende Verfahrensrüge erhoben werden, es sei denn, das Vorliegen des Verstoßes ist in ausreichendem Maße schon dem Urteil des Tatgerichts zu entnehmen.

3. Eine überlange Verfahrensdauer von nahezu sechs Jahren rechtfertigt auch unter Berücksichtigung der durch rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen verursachten besonderen Belastungen des Angeklagten und des festgestellten Schuldumfangs die Annahme eines Verfahrenshindernisses (noch) nicht; die gebotene Kompensation wird durch die angemessene Berücksichtigung im Rahmen der Rechtsfolgenbemessung ausreichend bewirkt.


Oberlandesgericht Nürnberg BESCHLUSS

2 St OLG Ss 161/07 (Int. Az: 89/07)

Der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg hat unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht ... sowie des Richterin am Oberlandesgericht ... und des Richters am Oberlandesgericht ...

in dem Strafverfahren

gegen

...

wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.

am 4. Oktober 2007

einstimmig beschlossen:

Tenor:

I. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ansbach vom 10. Mai 2007 wird als unbegründet verworfen.

II. Der Revisionsführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht - Jugend Schöffengericht - ... hat den Angeklagten am 12.10.2005 schuldig gesprochen des sexuellen Missbrauchs von Kindern in neun Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, in zwei Fällen darüber hinaus in Tateinheit mit sexueller Nötigung und ihn im Übrigen freigesprochen. Es hat unter Auflösung der im Urteil des Landgerichts ... vom 10.2.2004, Az: JK I Kls 652 Js 33653/2003 gebildeten Gesamtstrafe und unter Einbeziehung der dort verhängten Strafen den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren 6 Monaten verurteilt.

Das Landgericht ... hat auf die Berufung des Angeklagten das Urteil des Amtsgerichts ... vom 12.10.2005 im Rechtsfolgenausspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte verurteilt wird zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Die weitergehende Berufung des Angeklagten und die Berufung der Staatsanwaltschaft, die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt worden war, hat es als unbegründet verworfen.

Mit seiner Revision beanstandet der Revisionsführer das Verfahren und rügt die Verletzung materiellen Rechts, wobei eine Revisionsbegründung sowohl durch die Verteidigerin des Angeklagten als auch durch den Angeklagten selbst zu Protokoll der Geschäftsstelle erfolgte.

II.

Die Revision ist zulässig (§§ 333, 341 Abs. 1, 344, 345 StPO), aber unbegründet.

A. Verfahrensrügen:

1. Der Angeklagte und seine Verteidigerin beanstanden, das Landgericht habe die Verletzung des Beschleunigungsgebotes nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK nur bei der Strafzumessung und dort nicht ausreichend berücksichtigt.

Es kann dahinstehen, ob die erhobene Verfahrensrüge den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entspricht. Ein Revisionsführer, der das Vorliegen einer Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK verletzenden Verfahrensverzögerung geltend machen will, muss grundsätzlich eine Verfahrensrüge erheben (vgl. BGHSt 49, 342). Entsprechendes gilt auch, wenn der Revisionsführer wie hier rügt, dass das Urteil zwar vom Vorliegen einer Verfahrensverzögerung ausgegangen ist, aber Art, Ausmaß und Umstände dieser Verzögerung unzureichend festgestellt hat (vgl. BGH NStZ 1999, 95). Dies gilt auch, soweit wegen außergewöhnlich langer Verzögerung ein Verfahrenshindernis geltend gemacht wird (vgl. hierzu Meyer-Goßner StPO 50.Aufl. Art. 6 MRK Rn. 9c).

Die Verfahrensrüge ist jedenfalls unbegründet.

Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die lange Verfahrensdauer kein Verfahrenshindernis darstellt und keine Verfahrenseinstellung rechtfertigt. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung und der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ist regelmäßig bei der Strafzumessung zu berücksichtigen (Meyer-Goßner a.a.O. Art. 6 MRK Rn. 9). Nur in außergewöhnlichen Einzelfällen, in denen eine angemessene Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen einer Sachentscheidung bei umfassender Gesamtwürdigung nicht mehr in Betracht kommt, kann ein Verfahrenshindernis vorliegen (vgl. BGH St 46, 159; BVerfG NJW 1984, 967; NJW 1992, 2472, NJW 1993, 3254).

Das Landgericht hat die von ihm festgestellte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung ausreichend berücksichtigt. Wegen der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung hat es anstelle der (ansonsten als angemessen erachteten) Einzelfreiheitsstrafen von jeweils 10 Monaten in den Fällen 1 und 5, Einzelfreiheitsstrafen von 6 Monaten und anstelle der Einzelfreiheitsstrafen von je 5 Monaten in den Fällen 2 - 4, 6 - 8 und 9 Einzelfreiheitsstrafen von jeweils 2 Monaten und anstatt der Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten eine Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten verhängt und diese zur Bewährung ausgesetzt, wobei es bei der Strafaussetzung zur Bewährung erneut die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei der Frage, ob die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung der Strafe gebietet, berücksichtigt hat.

Dadurch hat das Landgericht den durch die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung geschehenen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK - unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundesgerichtshofs - bei der Strafzumessung ausreichend gewürdigt und im Ergebnis kompensiert (vgl. BVerfG NJW 1993, 3254; StV 2003, 383; BGH NStZ 2002, 589; NStZ 2003, 601).

Zu berücksichtigen sind dabei zunächst jene Verfahrensverlängerungen, die durch Verzögerung der Justizorgane verursacht worden sind, sodann die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes, sowie das Ausmaß der mit dem andauernden verfahrensverbundenen Belastung des Angeklagten. Verfahrensverzögerungen, die der Angeklagte selbst, sei es auch durch zulässiges Prozessverhalten verursacht hat, sind in der Regel nicht geeignet, die Feststellung einer seiner Rechte verletzenden überlangen Verfahrensdauer zu begründen (vgl. BVerfG NJW 1993, 3254, StV 2003, 383).

Im vorliegenden Fall hat das Landgericht zwar die Verfahrensverzögerungen, die durch Justizorgane verursacht worden sind, nicht explizit festgestellt - folgt man dem Vortrag der Verteidigung, so ergibt sich, dass keinesfalls die gesamte Verfahrensdauer auf eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zurückzuführen ist - die Ausführungen des Landgerichts sind jedoch dahingehend zu verstehen, dass die gesamte Verfahrensdauer, beginnend mit der Kenntniserlangung von den strafrechtlichen Vorwürfen, die frühestens dadurch erfolgte, dass das Studienheim am 13.5.2001 an den Angeklagten herantrat (BU S. 6), bis zum Urteil am 10.5.2007 auf eine rechtsstaatswidrige Verfahrenverzögerung zurückzuführen ist. Umfang und Schwierigkeiten des Verfahrensgegenstandes ergeben sich daraus, dass - wie aus dem Urteil ersichtlich - Gutachten zur Glaubhaftigkeit der Angaben der drei minderjährigen Tatopfer erholt werden mussten und im Hinblick auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten. Auch die mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastungen des Angeklagten wurden durch das Landgericht festgestellt, nämlich die durch die Verfahrensverzögerung bedingte "Ungewissheit über sein weiteres Schicksal", sowie die ab 12.12.2004 mögliche und nicht erfolgte "Aussetzung des Vollzuges des letzten Strafdrittels der mit Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 10.2.2004 (Az: JK I KLs 652 Js 33653/2003) verhängten Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung", von der das Landgericht zugunsten des Angeklagten ausgegangen ist (BU S. 29). Das Landgericht hat die tatsächlichen Grundlagen für diese Einschätzung zwar nicht mitgeteilt. Dies ist jedoch unschädlich, da dieser Umstand nur zugunsten des Angeklagten gewertet wurde.

Ein Absehen von Strafe nach § 60 StGB musste das Landgericht in diesem Zusammenhang nicht erörtern, da dies im Hinblick auf die festgestellten Straftaten unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Verletzung des Beschleunigungsgebotes auf den Angeklagten nicht in Betracht kam. Insbesondere hat der Angeklagte im vorliegenden Verfahren weder Untersuchungshaft verbüßt, noch durch die lange Verfahrensdauer Gesundheitsschäden davongetragen (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 230)

2.

Soweit der Angeklagte und seine Verteidigerin vortragen, der Hilfsantrag auf Neubegutachtung der kindlichen Zeugen auf deren Glaubhaftigkeit durch Prof. Dr. ... sei fehlerhaft behandelt worden, liegt eine unzulässige Verfahrensrüge vor.

Da der Vorwurf mangelnder Sachkunde durch die Verteidigerin insbesondere auf den Inhalt der vorläufigen Gutachten der gehörten Sachverständigen gestützt wird, hätte hier der Inhalt dieser Gutachten mitgeteilt werden müssen (vgl. BGH StV 1996, 529; NStZ 2001, 45).

3. Soweit der Angeklagte darüber hinaus die weitere rechtsfehlerhafte Behandlung eines Hilfsbeweisantrages rügt, ist die Rüge zumindest unbegründet, da das Gericht davon ausgegangen ist, dass aufgrund des vom Sachverständigen Dr. Dr. ... in der Hauptverhandlung erstatteten Gutachtens bereits erwiesen ist, dass der Angeklagte keine auffällige sexuelle Präferenz hat, die gegen eine günstige Sozialprognose spricht.

B. Sachrüge:

Insoweit wird in vollem Umfang auf die zutreffende Stellungnahme der General Staatsanwaltschaft Nürnberg vom 20.8.2007 sowohl zur Revisionsbegründung des Angeklagten als auch der Verteidigerin Bezug genommen.

III.

Die Revision ist daher als unbegründet zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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