Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Nürnberg
Urteil verkündet am 14.11.2001
Aktenzeichen: 4 U 2450/01
Rechtsgebiete: HPflG


Vorschriften:

HPflG § 1 Abs. 1
HPflG § 1 Abs. 4
1. Die bloße Anwesenheit eines erwachsenen Fußgängers auf einem unmittelbar neben den Bahngleisen verlaufenden Trampelpfad verpflichtet den Lokomotivführer nicht zur Abgabe eines Warnsignals.

2. Die Gefährdungshaftung des Bahnbetriebsunternehmers nach § 1 Abs. 1 HPflG tritt hinter dem Verschulden eines Fußgängers, der - ohne auf die Bahn zu achten - verbotswidrig die Gleise betritt, vollständig zurück.


Oberlandesgericht Nürnberg IM NAMEN DES VOLKES ENDURTEIL

4 U 2450/01

In Sachen

hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Behrschmidt und die Richter am Oberlandesgericht Braun und Redel aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24. Oktober 2001

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Endurteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 5. Juni 2001 wird zurückgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Entscheidung beschwert die Klägerin mit 55.225,00 DM.

Beschluß:

Der Gebührenstreitwert des Berufungsverfahrens wird auf

69.406.70 DM

festgesetzt.

Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. In der Sache hat das Rechtsmittel aber keinen Erfolg.

Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat die Klage zu Recht mit der Begründung abgewiesen, das nach § 4 HPflG zu berücksichtigende Mitverschulden des Getöteten, der trotz eines Warnsignals die Bahngleise betreten habe, wiege so schwer, daß eine Haftung der Beklagten ausscheide.

Die hiergegen von der Klägerin vorgebrachten Argumente überzeugen den Senat nicht davon, daß auf Seiten der Beklagten ein für den Unfall ursächlich gewordenes Fehlverhalten vorgelegen hat, das deren (Mit-) Haftung nach §§ 1 Abs. 1, 4 HPflG bzw. § 823 Abs. 1 BGB rechtfertigen könnte.

Im einzelnen gilt folgendes:

1. a) Die Voraussetzungen einer Haftung der Beklagten zu 1) für den streitgegenständlichen Schaden nach § 1 Abs. 1 HPflG sind grundsätzlich gegeben. Ein Haftungsausschluß nach § 1 Abs. 2 Satz 1 HPflG kommt nicht in Betracht, da ein Fall höherer Gewalt nicht vorliegt. Ein solcher würde im streitgegenständlichen Zusammenhang voraussetzen, daß durch die Handlung eines Dritten auf den Betrieb der Bahn in so außergewöhnlicher Weise eingewirkt worden wäre, daß das Unternehmen mit dem Schadenseintritt nicht zu rechnen brauchte (Greger, Zivilrechtliche Haftung im Straßenverkehr, 3. Aufl., § 1 HPflG, Rdn. 36 m.w.N.). Es fehlt hier schon an der Außergewöhnlichkeit der Einwirkung. Zusammenstöße zwischen Fußgängern und Schienenbahnen treten leider an Übergängen wie dem hier zu beurteilenden immer wieder auf (OLG Köln, NZV 1997, 477/478; OLG Naumburg, VersR 1999, 628/629).

b) Die Mitwirkung eines ganz erheblichen Verschuldens des Getöteten bei der Entstehung des Schadens steht fest. Dieser hat alle Bedenken mißachtet, die sich einem normalen Erwachsenen zwangsläufig aufdrängen müssen, wenn er die Bahngleise an einer Stelle überqueren will, die hierfür nicht nur nicht vorgesehen ist, sondern an der das Betreten der Gleise durch ein gut lesbares Schild ausdrücklich verboten ist. Er hat daher äußerst leichtfertig gehandelt, zumal er auch das durch den Lokomotivführer (=Beklagter zu 2) abgegebene Warnsignal ignoriert hat.

Er hat somit den Unfall durch seinen bewußten Verstoß gegen § 25 Abs. 5 StVO und § 62 Abs. 2 EBO schuldhaft herbeigeführt.

2. Eine Haftung des Beklagten zu 2) kommt dagegen schon dem Grunde nach nicht in Betracht, da gegen ihn ausschließlich verschuldensabhängige Schadensersatzansprüche nach § 823 Abs. 1 oder Abs. 2 BGB i.V.m. Schutzgesetzen denkbar sind - eine dem § 18 StVG entsprechende Norm enthält das HPflG nicht - und ihn ein Verschulden an dem Unfall nicht trifft.

a) Entgegen der Auffassung der Klägerin war der Beklagte zu 2) nämlich nicht verpflichtet, sofort ein Warnsignal abzugeben, als er des später Getöteten erstmals ansichtig wurde. Die bloße Anwesenheit eines erwachsenen Fußgängers auf einem neben dem Gleis verlaufenden Trampelpfad reicht hierfür nicht aus. Denn niemand kann damit rechnen, daß dieser so unvorsichtig sein wird, ohne sich sorgfältig umzusehen, die Gleise zu betreten. Auch wenn der Getötete mit dem Rücken zum Beklagten zu 2) auf dem besagten Trampelpfad unterwegs" war, gilt nichts anderes. Der Lokomotivführer durfte darauf vertrauen, daß sich der Getötete umdrehen würde, bevor er die Gleisanlage betritt. Dies gilt auch dann, wenn der benutzte Weg nur 0,50 m bis 1 m vom Gleis entfernt ist.

Eine Rechtspflicht des Lokomotivführers, ein Warnsignal zu betätigen, kann erst dann angenommen werden, wenn der Fußgänger erkennbar unaufmerksam ist, etwa weil er in ein Gespräch vertieft ist, oder wenn er wegen eines schwankenden Ganges erkennbar nicht mehr in der Lage ist, den üblichen Sorgfaltsanforderungen zu genügen, oder wenn es sich bei den Fußgängern um Kinder handelt. Solche Besonderheiten waren vor dem streitgegenständlichen Unfall aber unstreitig nicht gegeben.

b) Ein Verschulden des Beklagten zu 2) ergibt sich auch nicht daraus, daß der getötete Fußgänger sich auf einem verbotenen Weg bewegte und nach den Angaben des Beklagten zu 2) damit zu rechnen war, daß er den ebenfalls verbotenen Überweg über die Gleise benutzen werde, um zu seinem Kleingarten zu gelangen. Denn Personen, die sich bewußt über Betretungsverbote an Eisenbahnanlagen hinwegsetzen, sind sich normalerweise der damit verbundenen Gefahr bewußt und achten im eigenen Interesse darauf, daß sie nicht von einem herannahenden Zug erfaßt werden.

Bei ihnen ist nach Überzeugung des Senats eher weniger mit einem plötzlichen unvorsichtigen Betreten der Gleise zu rechnen als bei Fußgängern, die sich auf einem offiziell zugelassenen Weg bewegen. Denn letztere haben eher Anlaß, auf irgendwelche Verkehrssicherungsmaßnahmen Dritter zu vertrauen. Wer sich in verbotenem Gelände bewegt, weiß, daß er allein für seine Sicherheit verantwortlich ist.

3. Ist danach davon auszugehen, daß sowohl die Beklagte zu 1) wie der Rechtsvorgänger der Klägerin für den Unfall haftungsrechtlich verantwortlich sind, so hängt im Verhältnis der Beteiligten zueinander die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht bzw. verschuldet worden ist.

a) Fällt zu Lasten des Bahnbetriebsunternehmers nur die allgemeine Betriebgefahr, die sich aus der Schienengebundenheit, dem längeren Bremsweg und der größeren Aufprallwucht einer Eisenbahn ergibt (Greger, a.a.O., § 4 HPflG, Rdn. 3), ins Gewicht, so tritt diese gegenüber dem erheblichen Verschulden eines Fußgängers, der - ohne auf die Bahn zu achten - verbotswidrig die Gleise betreten hat, regelmäßig vollständig zurück (BGH VersR 1963, 874; Filthaut, HPflG, 4. Aufl., § 4, Rdn. 44 m.w.N.). So liegt es hier. Wie bereits ausgeführt, kann nicht festgestellt werden, daß den Lokomotivführer, den Beklagten zu 2), ein Verschulden trifft.

b) Ein die Betriebsgefahr erhöhendes Verschulden der verantwortlichen Mitarbeiter der Beklagten zu 1) kann auch nicht darin gesehen werden, daß diese nichts gegen die Benutzung des Trampelpfades und des Überwegs zu der Kleingartenanlage unternommen haben.

Mit ihrer gegenteiligen Auffassung überspannt die Klägerin die Anforderungen der Verkehrssicherungspflicht.

Die allgemeine Rechtspflicht, im Verkehr Rücksicht auf die Gefährdung anderer zu nehmen, beruht auf dem Gedanken, daß jeder, der Gefahrenquellen schafft, die notwendigen Vorkehrungen zum Schütze Dritter zu treffen hat. Da eine Verkehrssicherung, die jeden Unfall ausschließt, nicht erreichbar ist, muß nicht für alle denkbaren entfernten Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Vielmehr sind nur diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die nach den Sicherheitserwartungen des jeweiligen Verkehrs im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren geeignet sind, Gefahren von Dritten tunlichst abzuwenden, die bei bestimmungsgemäßem oder nicht ganz fernliegendem bestimmungswidrigen Gebrauch drohen. Keine Verkehrssicherungspflicht besteht grundsätzlich gegenüber Personen, die sich unbefugt in einen Gefahrenbereich begeben (Palandt/Thomas, 60. Aufl., § 823 BGB, Rdn. 58 m.w.N.).

Danach hatte die Beklagte zu 1) jedenfalls keine Verpflichtung, ihre Gleisanlagen gegenüber dem unbefugten Verkehr auf dem Trampelpfad zu sichern. Denn dessen Benutzer waren dazu selbst in der Lage. Die Bahnanlagen sind für jeden Passanten so auffällig, die dort drohenden Gefahren sind so allgemein bekannt, daß jeder diesen Gefahren durch entsprechend angepaßtes Verhalten selbst zu begegnen vermag.

Es ist unter diesen Umständen der Beklagten zu 1) nicht zuzumuten, durch Aufstellen weiterer Schilder, durch Anbringen von Absperrketten, Schlängelgittern oder ähnlichen Vorrichtungen den Versuch zu unternehmen, Unfälle wie den streitgegenständlichen zu verhindern.

4.

a) Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

b) Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

c) Gemäß §§ 546 Abs. 2, 9 ZPO war der Wert der Beschwer festzusetzen.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 546 Abs. 1 Satz 2 ZPO sind nicht gegeben, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes oder des gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht. Der Bundesgerichtshof hat im Gegenteil durch Beschluß vom 2. November 1993 - VI ZR 139/93 - die Revision gegen ein Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 31. März 1993 - 1 U 152/92 - nicht angenommen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung habe. Das Oberlandesgericht Stuttgart hatte in seinem Urteil die Rechtslage genauso beurteilt wie der erkennende Senat.



Ende der Entscheidung

Zurück