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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Rostock
Beschluss verkündet am 29.01.2008
Aktenzeichen: 1 Ws 1/08
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 67 d
StGB § 67 e
StPO § 140 Abs. 2
StPO § 141 Abs. 4
StPO § 142 Abs. 1
StPO § 142 Abs. 1 S. 1
StPO § 142 Abs. 1 S. 3 2. HS
StPO § 464 Abs. 1
StPO § 464 Abs. 2
StPO § 467 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Oberlandesgericht Rostock - 1. Strafsenat - BESCHLUSS

1 Ws 1/08

In der Strafvollstreckungssache

betreffend A. G. U. geb. am ... in L.

zurzeit untergebracht in der Forensisch-Psychiatrischen Klinik der H. GmbH

wegen versuchter Vergewaltigung u. a.

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichtes Rostock auf die Beschwerde des Untergebrachten gegen den Beschluss des Vorsitzenden der 23. Kammer - Große Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts Stralsund vom 22.11.2007, durch den der Antrag des Untergebrachten, ihm seine Verteidigerin für das anstehende Anhörungsverfahren als Pflichtverteidigerin beizuordnen, unter Beiordnung eines anderen - ortsansässigen Pflichtverteidigers zurückgewiesen worden ist, auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft am 29. Januar 2008 beschlossen:

Tenor:

1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

2. Dem Untergebrachten wird die Rechtsanwältin S. aus F. als Pflichtverteidigerin im anstehenden Überprüfungsverfahren nach §§ 67 d, 67 e StGB beigeordnet.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Untergebrachten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

Das zulässige (§ 304 Abs. 1 StPO) Rechtsmittel erweist sich als begründet. Es führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Bestellung der Bevollmächtigten des Untergebrachten als notwendige Verteidigerin für das anstehende Überprüfungsverfahren nach §§ 67 d, 67 e StGB.

I.

Auch im Vollstreckungsverfahren muss in entsprechender Anwendung von § 140 Abs. 2 StPO ein Verteidiger bestellt werden, wenn die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage oder die Unfähigkeit des Verurteilten, seine Rechte sachgemäß wahrzunehmen, das gebieten (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. auch OLG Hamm NStZ-RR 1999, 319; Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl., § 140 Rn. 33 m. w. N.).

Die vorstehenden Voraussetzungen erachtet der Senat mit dem Landgericht und der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 18.12.2007 unzweifelhaft für gegeben. Der bereits lange Jahre in psychiatrischen Krankenhäusern untergebrachte Beschwerdeführer ist nach seinen aktenkundigen geistigen Fähigkeiten nicht in der Lage, ohne rechtskundigen Beistand seine rechtlichen Interessen sachgerecht selbst wahrzunehmen.

II.

Dem Verurteilten war auch entsprechend seinem Antrag seine bisherige Wahlverteidigerin zur notwendigen Verteidigerin zu bestellen.

1.

Über die Bestellung des Pflichtverteidigers entscheidet zwar gem. § 141 Abs. 4 StPO der Vorsitzende des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist. Nach § 142 Abs. 1 S. 1 StPO "wählt" dieser den Verteidiger "aus". Daraus ergibt sich, dass die Bestimmung des Pflichtverteidigers grundsätzlich im Ermessen des Vorsitzenden liegt. Dabei hat er die verfassungs- und einfach-rechtlichen Regelungen zu beachten, insbesondere die öffentlichen Interessen (etwa an einem prozessordnungsgemäßen Verfahrensablauf, aber auch fiskalische Gesichtspunkte) gegenüber den Interessen des Beschuldigten abzuwägen.

a)

Dabei ist das Ermessen des Vorsitzenden durch die mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz 1997 Gesetz gewordene Neufassung des § 142 Abs. 1 StPO unter Beachtung zuvor vom Bundesverfassungsgericht aufgestellter Grundsätze (BVerfGE 9, 36, 38; 39, 238, 239) aber dahin eingeschränkt worden, dass bei der Auswahl des Verteidigers auch dem Interesse des Beschuldigten, von einem Anwalt seines Vertrauens verteidigt zu werden, ausreichend Rechnung getragen werden muss; macht der Beschuldigte daher von seinem Bezeichnungsrecht Gebrauch und benennt er einen Anwalt seines Vertrauens, so ist ihm dieser grundsätzlich als Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn dem nicht wichtige Gründe entgegenstehen (vgl. BVerfGE a. a. O; BVerfG StV 2002, 601, 602; BGH NJW 2001, 237, 238).

§ 142 Abs. 1 S. 1 StPO bestimmt als gesetzlich normiertes Regelbeispiel für einen wichtigen Grund i. S. d. § 142 Abs. 1 S. 3 2. HS StPO, dass der zu bestellende Verteidiger möglichst aus der Zahl der im Gerichtsbezirk niedergelassenen Rechtsanwälte auszuwählen ist. Dem liegt die naheliegende Erwägung zu Grunde, dass die Gerichtsnähe des Verteidigers in der Regel eine wesentliche Voraussetzung für eine sachdienliche Verteidigung sowohl für den Beschuldigten als auch für den Verfahrensablauf ist. Daneben spielen auch fiskalische Überlegungen eine Rolle, wobei hier neben den Interessen der Staatskasse, die für die Vergütung des Pflichtverteidigers zunächst aufzukommen hat, auch diejenigen des Beschuldigten zu berücksichten sind, der im Falle seiner Verurteilung auch grundsätzlich die Kosten der Pflichtverteidigung zu tragen hat (§§ 45, 52 RVG; vgl. grundlegend Senatsbeschluss vom 28.11.2001 - I Ws 468/01 - m. w. N.).

b)

Aus § 142 Abs. 1 S. 1 StPO folgt jedoch nicht, dass der Pflichtverteidiger zwingend in dem jeweiligen Gerichtsbezirk ansässig sein muss und die Bestellung eines auswärtigen Verteidigers schlechthin ausgeschlossen ist. Vielmehr ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung, die dem Beschuldigten - vorliegend dem Untergebrachten - einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung gibt, unter Abwägung aller Umstände zu prüfen, ob ausnahmsweise die Bestellung eines auswärtigen Pflichtverteidigers in Betracht kommt (BGHSt 43, 153, 155 f.). Insbesondere wenn Gerichtsort und Sitz des Rechtsanwalts nicht allzuweit voneinander entfernt sind, hat - trotz damit verbundener Mehrkosten - die Rücksicht auf das Vertrauensverhältnis den Vorrang vor der Ortsnähe (vgl. Meyer-Goßner a. a. O. § 142 Rn. 12 m. w. N.).

c)

Vornehmlich dann, wenn ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, kann das Auswahlermessen des Vorsitzenden eingeschränkt oder sogar auf Null reduziert sein, so dass die Ablehnung der Bestellung des vom Beschuldigten gewünschten (ggf. ortsfernen) Verteidigers ermessensfehlerhaft sein kann (OLG Düsseldorf StV 2000, 412; OLG Stuttgart StV 1989, 521; OLG Koblenz StV 1995, 118, 119).

Ein solches Vertrauensverhältnis kann u. a. dann gegeben sein, wenn der als Pflichtverteidiger gewünschte Rechtsanwalt in dem betreffenden Verfahren bereits zuvor, unter Umständen schon seit längerer Zeit, als Wahlverteidiger für den Beschuldigten tätig war. Die Tatsachen, die ein solches besonderes Vertrauensverhältnis begründen, sind - soweit sie nicht auf der Hand liegen oder sich offensichtlich aus der Akte ergeben - vom Beschuldigten substantiiert und damit nachvollziehbar darzulegen (vgl. Senatsbeschluss a. a. O.).

Je weiter allerdings der Kanzleisitz des Rechtsanwalts vom Gerichtsort entfernt ist (hier nach den Feststellungen des Landgerichts immerhin 755 km), je größer die daraus resultierenden Schwierigkeiten sachgerechter Verteidigungstätigkeit und ordnungsgemäßer Verfahrensdurchführung und je höher naturgemäß auch die daraus folgenden Mehrkosten sind, um so höhere Anforderungen sind an die Substantiierung und die Tiefe des Vertrauensverhältnisses zwischen Verteidiger und Mandant zu stellen.

2.

Die danach notwendige Glaubhaftmachung eines hinreichend vertieften besonders intensiven Vertrauensverhältnisses zwischen Verteidigerin und untergebrachtem Mandanten ist im vorliegenden Beschwerdeverfahren erfolgt. Die über Sachkunde im Bereich der Forensischen Psychiatrie und des Maßregelvollzuges verfügende Verteidigerin vertritt den Untergebrachten seit August 2004 als Wahlverteidigerin und teilweise auch Pflichtverteidigerin. Sie hält - wie im Beschwerdeverfahren glaubhaft gemacht worden ist - seit dieser Zeit regelmäßigen und engen Kontakt brieflicher, telefonischer und persönlicher Art zum Untergebrachten. Sie ist dem Untergebrachten (wenn auch noch zur Zeit seiner Unterbringung in der Klinik N.) bereits zweimal durch die Strafvollstreckungskammer des vormals zuständigen Landgerichts Koblenz zur Pflichtverteidigerin in anstehenden Überprüfungsverfahren hinsichtlich der Fortdauer der Unterbringung beigeordnet worden. Sie ist für den Untergebrachten in Verlegungsangelegenheiten tätig gewesen. Die psychische Erkrankung des Untergebrachten hat sich zeitlebens überwiegend in der Begehung von Sexualdelikten niedergeschlagen, die naturgemäß (auch) im Rahmen des langjährigen Verteidigungsverhältnisses Erörterung gefunden haben dürften, was einerseits für ein mittlerweile gesteigertes Vertrauensverhältnis dieses Untergebrachten zu seiner Verteidigerin streitet, andererseits auch dafür spricht, dass es einem anderen (ortsnäheren) Verteidiger - jedenfalls in der erforderlichen Kürze - eher schwerfallen dürfte, ein entsprechend notwendiges Vertrauensverhältnis zum Untergebrachten zu begründen.

Der Gesichtspunkt der Ortsnähe tritt im Rahmen der Interessenabwägung im vorliegenden Einzelfall gegenüber dem festzustellenden besonderen Vertrauensverhältnis zurück. Auch steht vorliegend die erhebliche Ortsferne einer sachdienlichen Verteidigung bzw. einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf nicht entgegen, da sich die Anwesenheit der Verteidigerin im Überprüfungsverfahren auf den Anhörungstermin beschränken dürfte, der üblicherweise weder kurzfristig terminiert noch unterbrochen oder an einem anderen Tag fortgesetzt werden muss.

Im Ergebnis rückt deshalb der Umstand, dass es sich bei der Verteidigerin nicht nur um eine nicht im Landgerichtsbezirk Stralsund niedergelassene, sondern sogar in erheblicher Entfernung zum Gerichtsort kanzleiansässige Rechtsanwältin handelt, ausnahmsweise in den Hintergrund, so dass die Beiordnung von Rechtsanwältin S-B vor der Bestellung eines anderen Pflichtverteidigers Vorrang hat. Sie war deshalb dem Untergebrachten unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses als notwendige Verteidigerin für das anstehende Unterbringungsüberprüfungsverfahren zu bestellen.

3.

Dem steht auch nicht entgegen, dass Rechtsanwältin S. bislang als Wahlverteidigerin tätig geworden ist, da ihr Antrag vom 24.10.2007, sie als Pflichtverteidigerin zu bestellen, die Erklärung enthält, dass die Wahlverteidigung mit der Beiordnung enden soll (vgl. Meyer-Goßner a. a. O., § 142 Rn. 7).

III.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung (zum Ergebnis vgl. BayObLG; StV 2006, 6 ff. m. w. N.) beruht auf § 464 Abs. 1 und 2 StPO i. V. m. einer entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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