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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Rostock
Urteil verkündet am 24.03.2004
Aktenzeichen: 6 U 124/02
Rechtsgebiete: ZPO, GKG


Vorschriften:

ZPO § 160 Abs. 3 Nr. 6
ZPO § 160 Abs. 3 Nr. 7
ZPO § 313
ZPO § 310
ZPO § 310 Abs. 1
ZPO § 310 Abs. 2
ZPO § 311 Abs. 1 Satz 1
ZPO § 315 Abs. 1
ZPO § 315 Abs. 1 Satz 1
ZPO § 317
ZPO § 517
ZPO § 538 Abs. 2 Nr. 1
ZPO § 538 Abs. 2 Ziff. 1
ZPO § 548
GKG § 8
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Oberlandesgericht Rostock IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

6 U 124/02

Laut Protokoll verkündet am: 24.03.2004

In dem Rechtsstreit

hat der 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Rostock durch

den Richter am Oberlandesgericht Dr. ter Veen, den Richter am Oberlandesgericht Hanenkamp die Richterin am Landgericht Ewert

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 04.02.2004

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Stralsund vom 09.01.2002, Az.: 6 O 578/99, aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen.

II. Gerichtskosten für das Rechtsmittelverfahren werden nicht erhoben.

Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen eines Brandes in seinem Wohnhaus auf Versicherungsleistung in Anspruch.

Die Beklagte hat die Zahlung der Versicherungsleistung verweigert, weil der Kläger Obliegenheiten verletzt habe. Diesbezüglich streiten die Parteien darüber, ob das Wohnhaus zum Zeitpunkt des Brandes unbewohnt war. Die Beklagte hat behauptet, der Versicherungsvertreter habe sich geweigert, in die Verhandlungsniederschrift aufzunehmen, dass das Haus bewohnt gewesen sei. Die von ihm im Prozess eingereichte und diesbetreffend veränderte Verhandlungsniederschrift habe er nur zur eigenen Verwendung geändert.

Das Landgericht hat Beweis erhoben über diese Fragen.

In der mündlichen Verhandlung vom 09.01.2002 hat es zunächst Zeugenbeweis erhoben und nach Abschluss der Beweisaufnahme und Erörterung des Beweisergebnisses bestimmt, dass eine Entscheidung am Ende der Sitzung ergehe.

Bei Wiederaufruf der Sache, zu der niemand erschienen war, hat das Landgericht ein Urteil verkündet, wonach es die Klage abgewiesen hat. Das diesbetreffende Verhandlungsprotokoll ist vom Vorsitzenden unterschrieben worden (vgl. Sitzungsprotokoll vom 09.01.2002, Bl. 10-11 = GA 178-179). Ausweislich des Vermerks GA 181 RS d.A. vom 14.06.2002 ergibt sich, dass ein Urteil zur Unterschrift vorgelegt werden sollte.

In der Akte befindet sich weder ein schriftlich niedergelegter und unterzeichneter Urteilstenor, der in der mündlichen Verhandlung vom 09.01.2002 verkündet worden sein könnte, noch ein unterschriebenes Urteil mit Tatbestand und Entscheidungsgründen.

Der Beklagte hat am 08.07.2002 gegen das am 09.01.2002 verkündete und bisher nicht zugestellte Urteil Berufung eingelegt.

Zur Begründung hat er zunächst ausgeführt, die Entscheidung beruhe auf einer Rechtsverletzung. Es liege ein Verstoß gegen §§ 313, 317 ZPO vor, weil das Urteil weder zugestellt worden sei, noch ein Urteil mit Tatbestand und Entscheidungsgründen überhaupt vorliege. Zugleich sei damit auch von einem Verstoß gegen das Gebot rechtlichen Gehörs und das Gebot des fairen Verfahrens auszugehen. Dem Berufungskläger sei es nicht möglich, seine begründeten Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils vorzutragen. Die Nichtzustellung eines Urteils mit Tatbestand und Entscheidungsgründen, mithin dessen gänzliches Fehlen, stelle nicht nur eine Rechtsverletzung dar, sondern einen wesentlichen Mangel, an dem das Verfahren des ersten Rechtszuges leide. Es sei auch nicht möglich, aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme im Berufungsrechtszug ein neues Urteil zu sprechen, sondern die Beweisaufnahme müsse wiederholt werden. Damit liege ein Fall des § 538 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO vor, was eine Zurückverweisung der Sache an das Gericht des ersten Rechtszuges nahelege.

Der Kläger beantragt,

die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Stralsund,

sowie hilfsweise,

unter Abänderung des bisher nicht zugestellten Urteils des Landgerichts Stralsund vom 09.01.2002 (Az.: 6 O 578/99) die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 25.135,71 EUR zzgl. 4 % Zinsen seit dem 15.11.1998 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie meint, der Rechtsstreit sei nicht an das Landgericht zurückzuverweisen. Das Berufungsgericht könne die durchgeführte Beweisaufnahme verwerten und über den Rechtsstreit entscheiden.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Parteischriftsätze nebst Anlagen sowie auf den Akteninhalt im übrigen ausdrücklich Bezug genommen.

II.

Die gegen das genannte "Urteil" form- und fristgerecht eingereichte und rechtzeitig begründetete Berufung ist zulässig.

1.

Das Urteil ist nicht nur - wie der Kläger zutreffend hervorhebt - verfahrensfehlerhaft ergangen. Es liegt sogar vielmehr überhaupt noch kein formal ordnungsgemäßes Urteil vor. Denn das ausweislich des Verhandlungsprotokolls vom 09.01.2002 verkündete Urteil stellt ein sogenanntes Scheinurteil dar.

a)

Soll ein Urteil aufgrund streitiger mündlicher Verhandlung - so wie offenkundig im vorliegenden Fall - in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wird, verkündet werden (§ 310 Abs. 1 S. 1 1. Alt. ZPO), so hat diese Verkündung - wie auch geschehen - am Schluss der mündlichen Verhandlung zu erfolgen (§ 136 Abs. 4 ZPO; vgl. auch Zöller/Vollkommer, 24. Aufl., § 310 ZPO Rn. 2).

Da die Verkündung durch Verlesung der Urteilsformel zu erfolgen hat (§ 311 Abs. 2 ZPO), muss zumindest diese Formel bei der Verkündung schriftlich vorliegen (vgl. BGH, NJW 1999, 794; Zöller/Vollkommer, a.a.O.). Die Verkündung setzt - auch bei Verstoss gegen §§ 310 Abs. 1 und Abs. 2, 315 Abs. 1 ZPO (Unterschrift der an der Entscheidung mitwirkenden Richter) die 5-Monats-Frist der §§ 517 ZPO (zur Berufungseinlegung) in Lauf, wenn sie beweiskräftig protokolliert ist (§§ 165, 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO; vgl. BGH, NJW 1989, 1156 [1157]; 1999, 143f.; 1999, 794).

Daraus folgt im Umkehrschluss, ein Urteil ist i.S.v. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO als "nicht mit Gründen versehen" anzusehen, wenn eine schriftliche Begründung 5 Monate nach der Urteilsverkündung noch nicht vorliegt (vgl. GmS-OGB, NJW 1993, 2603). Denn einerseits müssen die Parteien zumindest in der 5-Monats-Frist der §§ 517, 548 ZPO Klarheit darüber haben, ob und mit welchen Gründen sie gegen das (noch nicht begründete) Urteil ein Rechtsmittel einlegen sollen (vgl. GmS-OGB, NJW 1993, 2603 [2604] BGH, NJW 1987, 2446; 91, 1547; MDR 2001, 1184; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 315 ZPO Rn. 6). Andererseits dient die genannte 5-Monats-Frist auch der Sicherung der Beurkundungsfunktion, die ihrerseits voraussetzt, dass das Urteil auf dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung und gleichermaßen auf dem Beratungsergebnis beruht. Dies wiederum bedingt, dass die Erinnerung des Richters noch hinlänglich verlässlich ist. Es entspricht jedoch allgemeiner Lebenserfahrung, das mit fortschreitender Zeit das Erinnerungsvermögen zunehmend verblasst. So kann etwa davon ausgegangen werden, dass nach einer Frist von über fünf Monaten das Beratungsergebnis - aufbauend auf dem vorhandenen Fachwissen - eher rekonstruiert, denn reproduziert wird. Deshalb ist mit der Rechtsmeinung der Gemeinsamen Senate der obersten Gerichtshöfe des Bundes und des Bundesgerichtshofs - in st. Rspr. - die 5-Monats-Frist als eine absolute Frist zu verstehen, bis zu deren Ablauf "aus Gründen der Rechtssicherheit" sowie "zur Vermeidung von Fehlerinnerung" das vollständige Urteil vorliegen muss (vgl. insoweit GmS-OGB, NJW 1993, 2603 [2605]; BGH, NJW 1987, 2446; 1991, 1547ff.; NJW-RR 201, 1642-1643; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 315 ZPO Rn. 6).

b)

Vorliegend steht nach dem Akteninhalt fest, dass durch das Landgericht in dem zur Entscheidung anstehenden Rechtsstreit ein Nicht-Urteil "gesprochen" worden ist.

aa)

Entscheidend ist in dem hier zu beurteilenden Fall bereits, dass die ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 09.01.2002 "verkündete" Urteilsformel bei der Verkündung nicht schriftlich vorgelegen hat. Dies jedoch ist nach §§ 310, 311 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorausgesetzt (vgl. BGH, NJW 1985, 1782 = MDR 1985, 396; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 311 ZPO Rn. 2 und § 310 ZPO Rn. 2 jeweils m.w.N.), denn "Verlesen" (§ 310 Abs. 1 Satz 1 ZPO) werden kann nur Etwas, was schriftlich vorliegt, und ein Ausnahmefall, in dem auf die Abfassung der schriftlichen Urteilsformel verzichtet werden kann (§ 311 Abs. 2 Satz 3 ZPO), ist bei dem hier gegenständlichen Sachverhalt nicht gegeben.

Zwar ist in dem aufgeführten Verhandlungsprotokoll der beabsichtigte Urteilstenor niedergelegt und das Protokoll durch den Vorsitzenden der Kammer auch gezeichnet worden. Dies reicht jedoch auch bei einem sogen. "Stuhlurteil", um das es sich vorliegend handelt, nicht aus, um ein Urteil i.S.v. §§ 310 Abs. 1, 311 Abs. 2, 315 Abs. 1 Satz 1 ZPO als wirksam verkündet anzusehen. Hier ist - womit § 160 Abs. 3 Nr. 6 u. 7 ZPO Genüge getan wurde - die Entscheidungsformel wörtlich in das Protokoll aufgenommen worden (vgl. insoweit Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 311 Rn. 3). Es fehlt jedoch an der schriftlichen Niederlegung der Urteilsformel, die dann ggf. - statt der Verlesung - auch hätte in Bezug genommen werden können, wenn - so wie hier - von den Parteien zur Verkündung niemand erschienen ist (§ 311 Abs. 2 Satz 2 ZPO).

bb)

Hinzu kommt weiter, dass eine Unterzeichnung des Urteilstenors im Protokoll durch die erkennenden Richter (vgl. dazu Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 311 ZPO Rn. 4 i.V.m. § 309 ZPO Rn. 2 u. § 310 ZPO Rn. 2) ebensowenig erfolgt ist. Die Unterzeichnung (des Protokolls) durch den Vorsitzenden allein vermag insofern nicht zu gereichen, denn es handelte sich bei der zu treffenden Entscheidung um eine solche eines Kollegialorgans (vgl. §§ 309, 315 Abs. 1 S. 1 ZPO).

Im vorliegenden Fall ist also die bereits wiederholt abgegebene Empfehlung, ein Stuhlurteil bereits vor Verkündung (hand-)schriftlich abzusetzen, von allen Richtern unterschreiben zu lassen und es sodann als Anlage zu Protokoll zu nehmen (vgl. hier nur Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 315 ZPO Rn. 6), durch das Landgericht gröblich missachtet worden.

cc)

Schließlich tritt hinzu, dass auch in der genannten 5-Monats-Frist ein Urteil - mit Gründen - schriftlich nicht zu der Akte gebracht worden ist. Zum Zeitpunkt der durch den Vorsitzenden der Kammer in den Akten niedergelegten Verfügung "Urteil zur Unterschrift vorlegen", nämlich am 14.06.2002 (vgl. GA 181 RS), war die Frist der §§ 517, 548 ZPO aufgrund der am Schluss der mündlichen Verhandlung vom 09.01.2002 verkündeten Entscheidung bereits abgelaufen.

Es entspricht aber einem mittlerweile für alle Prozessarten anerkannten Grundsatz, dass ein bei Verkündung noch nicht vollständig abfasstes Urteil - wie es regelmäßig ein Stuhlurteil darstellt - "nicht mit Gründen versehen" ist, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Dies gilt unabhängig davon, ob die Urteilsformel verkündet worden ist oder nicht (vgl. hier nur nochmals BGH, NJW-RR 2001, 1642-1643 = BGHReport 2001, 748-750 m.w.N.).

c)

Bei einem nicht verkündeten und nicht (innerhalb der Frist von 5 Monaten) abgesetzten Urteil handelt es sich um ein rechtlich nicht existentes sogen. Scheinurteil (vgl. OLG Frankfurt, NJW-RR 1995, 511), in Wahrheit nur um einen "Urteilsentwurf", der auch nicht Gegenstand einer die Berufungsfrist des § 517 ZPO in Lauf setzenden wirksamen Zustellung sein kann (vgl. BGH, NJW 1995, 404; 1996, 1969 [1970]; OLG Saarbrücken, OLG-Report 2001, 301f. jeweils m.w.N.).

d)

Gleichwohl ist gegen ein solches Nichturteil die Einlegung des bei wirksamer Verkündung und Absetzung der Entscheidung statthaften Rechtsmittels, hier also der Berufung, zulässig, um den äußeren Anschein einer wirksamen gerichtlichen Entscheidung zu beseitigen (vgl. BGH, NJW 1964, 248; VersR 1984, 1192; NJW 1995, 404; 1996, 1969; OLG Frankfurt/M., NJW-RR 1995, 511f.; Zöller/Gummer/Heßler, a.a.O., Vor § 511 ZPO Rn. 36 jeweils m.w.N.).

2.

Auf die danach statthafte Berufung gegen das nicht wirksam verkündete und nicht abgesetzte Urteil des Landgerichts ist dieses aufzuheben und der Rechtsstreit an das erstinstanzliche Gericht zwecks Beendigung des noch nicht abgeschlossenen Verfahrens zurückzuweisen (vgl. BGH, NJW 1995, 404; OLG Frankfurt/M., NJW-RR 1995, 511 [512]; OLG Saarbrücken, OLG-Report 2001, 301 [302] jeweils m.w.N. auch auf die Lit.).

Eines Eingehens auf die mit der Berufung des Klägers weiter vorgetragenen Angriffe gegen das erstinstanzliche Verfahren bedarf es vor diesem Ergebnis nicht.

II.

1.

Gem. § 8 GKG werden Gerichtskosten nicht erhoben, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären. Ein solcher Fall liegt hier vor, denn die Angelegenheit kann im Berufungsverfahren durch den Senat nicht gefördert werden. Vielmehr dient dieses allein dazu, die unrichtige Behandlung der Sache wieder zu beseitigen (vgl. BGH, NJW 1987, 2446-2447; NJW 1995, 404).

2.

Eine Anordnung der Vollstreckbarkeit hat zu unterbleiben, da die Entscheidung keinen vollstreckungsfähigen Inhalt hat (so ebenso OLG Frankfurt/M., NJW-RR 1995, 511 [512]).

Ende der Entscheidung

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