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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Rostock
Beschluss verkündet am 28.04.2004
Aktenzeichen: I Ws 184/04
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 119 Abs. 3
StPO § 119 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Oberlandesgericht Rostock - 1. Strafsenat - Beschluss

I Ws 179/04 I Ws 184/04

In der Strafsache

wegen räuberischer Erpressung

hier: Erteilung einer Besuchserlaubnis

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichtes Rostock durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Dally, den Richter am Oberlandesgericht Röck sowie den Richter am Landgericht Kaffke

auf die Beschwerden des Angeklagten und der Zeugin M. L. gegen die Beschlüsse des Vorsitzenden der II. Kleinen Strafkammer des Landgerichts Neubrandenburg vom 19.03.2004 und 26.03.2004

auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft

am 28. April 2004 beschlossen:

Tenor:

1. Die angefochtenen Beschlüsse werden aufgehoben.

2. Frau M. L. , geb. am 1982 in N. , wohnhaft R. -Straße , N. , erhält die Erlaubnis, den Angeklagten M. K. in der Justizvollzugsanstalt Neubrandenburg an einem der von der Anstalt festgesetzten Besuchstage während der Besuchszeit zu sprechen, wobei der Besuch durch einen Beamten optisch und akustisch zu überwachen ist.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die den Beschwerdeführern insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

I.

Der Angeklagte befindet sich derzeit aufgrund eines auf den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gestützten Haftbefehls in Untersuchungshaft in der JVA Neubrandenburg. Das Amtsgericht Neubrandenburg - 10 Ls 105/03 - verurteilte ihn am 30.01.2004 wegen räuberischer Erpressung in drei Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren acht Monaten. Der Angeklagte hat gegen dieses Urteil rechtzeitig Berufung mit dem Ziel des Freispruchs eingelegt. Die Berufungshauptverhandlung soll am 18.05.2004 stattfinden.

Die Zeugin L. war jedenfalls in der Vergangenheit die Lebensgefährtin des Angeklagten, bezeichnete sich jedoch im erstinstanzlichen Verfahren - in Übereinstimmung mit dem Angeklagten - als "seine Ex-" oder "damalige Freundin". Inzwischen gibt der Angeklagte an, mit ihr verlobt zu sein. Die Zeugin ist in vorliegender Sache zunächst ebenfalls als Beschuldigte vernommen worden, das Verfahren gegen sie ist offenbar noch nicht abgeschlossen. In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht wurde sie als Zeugin vernommen. Im schriftlichen Urteil wird ihre Aussage allerdings weder wiedergegeben noch gewürdigt. Für die Berufungsverhandlung ist sie erneut als Zeugin benannt.

Mit Schreiben vom 17.03.2004 beantragte der Angeklagte beim Vorsitzenden der Berufungskammer, der Zeugin L. eine Besuchserlaubnis zu erteilen. Auch die Zeugin selbst, die sich insoweit von dem Verteidiger des Angeklagten als Verfahrens-bevollmächtigten vertreten lässt, stellte mit Anwaltsschriftsatz vom 22.04.2004 einen gleichlautenden Antrag. Beide wiesen dabei darauf hin, dass der Zeugin bereits früher Besuchserlaubnisse erteilt worden seien.

Diese Anträge lehnte der Kammervorsitzende mit den jetzt angefochtenen Beschlüssen vom 19.03.2004 - bezüglich des Antrags des Angeklagten - und 26.03.2004 - bezüglich des Antrags der Zeugin - jeweils mit der Begründung ab, Frau L. komme als Zeugin für das Berufungsverfahren in Betracht und es bestehe der begründete Verdacht, dass der Angeklagte die Zeugin beeinflusse. Insoweit bestehe "Verdunkelungsgefahr für die erneut durchzuführende Hauptverhandlung". Der Anspruch des Angeklagten auf Aufrechterhaltung seiner sozialen Bindungen habe daher gegenüber dem hoheitlichen Strafverfolgungsanspruch zurückzutreten. Hiergegen haben der Angeklagte und die Zeugin jeweils durch Schriftsatz ihres Verteidigers bzw. Verfahrensbevollmächtigten Beschwerde eingelegt, denen der Vorsitzende nicht abgeholfen hat.

II.

Die Rechtsmittel sind zulässig (§ 304 Abs. 1, Abs. 2 StPO) und haben auch in der Sache Erfolg, da die Versagung der Besuchserlaubnis nicht durch § 119 Abs. 3 StPO gerechtfertigt ist.

1.

Nach dieser Vorschrift dürfen dem Verhafteten - der mangels rechtskräftiger Verurteilung noch als unschuldig gilt, Art. 6 Abs. 2 MRK - nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt erfordert. Dabei bedarf es immer einer Abwägung aller Umstände des Einzelfalls. Beschränkungen sind nur zu-lässig, wenn sie erforderlich sind, um eine reale Gefahr für die in § 119 Abs. 3, Abs. 4 StPO genannten öffentlichen Interessen abzuwehren, und dieses Ziel nicht mit weniger ein-greifenden Maßnahmen erreicht werden kann (BVerfGE 35, 5, 10; 42, 234, 236; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 119 Rdnrn. 9, 11; KK-Boujong, StPO, 5. Aufl., § 119 Rdnr. 10, jeweils m.w.N.). Es müssen konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Haftzwecks oder der Anstaltsordnung vorliegen, der Umstand allein, dass ein möglicher Missbrauch eines Freiheitsrechts nicht völlig auszuschließen ist, reicht nicht aus (BVerfG a.a.O.; OLG Hamm StV 1998, 35; KK-Boujong a.a.O.).

2.

Nach diesen Grundsätzen ist eine Versagung der Besuchserlaubnis hier nicht begründet.

a)

Eine Gefährdung des Haftzwecks der Vermeidung einer Flucht des Angeklagten durch den beabsichtigten Besuch ist nicht ersichtlich und wird auch von den angefochtenen Beschlüssen nicht angenommen. Gleiches gilt für eine mögliche Störung der Ordnung der Vollzugsanstalt.

Allerdings sollen im Rahmen der nach § 119 Abs. 3 StPO zu treffenden Beschränkungen auch solche Haftgründe zu berücksichtigen sein, auf die der der Untersuchungshaft zugrunde liegende Haftbefehl nicht gestützt ist, sofern nur konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Beschränkungen nach Maßgabe dieses Haftgrundes erforderlich und zumutbar sind (OLG Hamm a.a.O. mit abl. Anm. Paeffgen; Meyer-Goßner a.a.O. Rdnr. 12; KK-Boujong a.a.O. Rdnr. 12 m.w.N.). Damit wäre vorliegend auch eine mögliche Verdunkelungsgefahr zu prüfen. Diese ist aber ebenfalls nicht im erforderlichen Ausmaß gegeben.

Zwar kommt die Beschwerdeführerin als Zeugin auch in der Berufungshauptverhandlung in Betracht. Es ist auch nicht auszuschließen, dass sie dort - wie bereits vor dem Amtsgericht - eine Aussage trifft, die den Angeklagten entlasten soll. Damit besteht auch die grundsätzliche Besorgnis, dass der Angeklagte versucht sein könnte, bei einem Treffen vor der Hauptverhandlung auf die Zeugin und ihr Aussageverhalten Einfluss zu nehmen, zumal nunmehr - wieder - eine enge persönliche Beziehung zwischen ihnen bestehen soll.

Gleichwohl ergeben sich, worauf die Generalstaatsanwaltschaft mit Recht hingewiesen hat, weder aus den dem Senat vorliegenden Duplikatakten noch aus den Begründungen der angefochtenen Entscheidungen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass eine reale Gefahr für eine Einflussnahme des Angeklagten auf die Zeugin besteht, die so groß ist, dass sie die völlige Versagung des Besuchsrechtes rechtfertigen könnte. Die bisherigen Angaben der Zeugin vor dem Amtsgericht hatten für dessen Urteil offenbar keine entscheidende Bedeutung. Dies gilt auch, soweit sie in Übereinstimmung mit dem Angeklagten ausgesagt hat, dieser habe sie am Abend des 2003 - Tat Nr. 4 des amtsgerichtlichen Urteils - gegen 21.15 Uhr von der Arbeit abgeholt. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts, die sich insoweit auch auf entsprechende Unterlagen der Bank stützen, war die betreffende Tat mit der Abhebung des Geldes am Geldautomaten aber bereits um 20.11 Uhr beendet. Die Möglichkeit denkbarer Verdunkelungshandlungen oder -versuche ist daher so gering, dass sie die angeordneten Beschränkungen nach § 119 Abs. 3 StPO nicht tragen kann.

b)

Darüber hinaus sind mildere Mittel gegeben, um der nicht völlig ausschließbaren Gefahr der unlauteren Einflussnahme des Angeklagten auf die Zeugin zu begegnen. So können Besuche des Untersuchungsgefangenen nach Nr. 27 Abs. 1 UVollzO überwacht werden. Nach einer vom Senat eingeholten Auskunft der JVA Neubrandenburg werden Besuche dort regelmäßig dergestalt durchgeführt, dass in einem Besuchsraum maximal vier Gefangene, die getrennt an Tischen sitzen, jeweils einen bis maximal drei Besucher empfangen können, wobei die Überwachung von einem bis zwei Beamten, die sich im selben Raum aufhalten, vorgenommen wird. Bereits damit ist gewährleistet, dass bei unerlaubten Handlungen eingegriffen und der Besuch notfalls abgebrochen werden kann.

Zudem besteht in der JVA Neubrandenburg die Möglichkeit, in einem kleineren Raum sog. Einzelbesuche durchzuführen, bei denen der Gefangene mit lediglich einem Besucher zusammentrifft und ebenfalls eine Überwachung durch einen Beamten stattfindet. In diesen Fällen erscheinen Verdunkelungshandlungen nahezu ausgeschlossen. Nach Aktenlage wird eine solche zusätzliche Sicherungsmaßnahme jedoch vorliegend nicht erforderlich sein. Zwar stellt die Besuchsüberwachung generell einen erheblichen Eingriff in den persönlichen, durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Lebensbereich sowohl des Angeklagten als auch des Besuchers dar. Es müssen daher - wie bei allen grundrechtseinschränkenden Anordnungen nach § 119 Abs. 3 StPO - konkrete Anhaltspunkte für einen Missbrauch, der eine Gefährdung von Haftzweck oder Ordnung der Anstalt mit sich brächte, vorliegen (BVerfG NStZ 1994, 52 und NStZ 1996, 613). Diese sind hier jedoch - jedenfalls in einem Umfang, der die Anordnung der Besuchsüberwachung rechtfertigt - schon deshalb gegeben, weil die Beschwerdeführerin als Entlastungszeugin in der demnächst anstehenden Berufungshauptverhandlung gegen den Angeklagten aussagen und sie ihm jetzt wieder nahe stehen soll. Die Befürchtung, dass - auch seitens der Zeugin - Versuche unternommen werden könnten, Absprachen im Hinblick auf den Prozess zu treffen, ist daher nicht von der Hand zu weisen.

Schließlich steht auch der Umstand, dass der Angeklagte und die Beschwerdeführerin nunmehr verlobt sein wollen, der angeordneten Besuchsüberwachung nicht entgegen. So bestehen nach Aktenlage durchaus Zweifel, ob die Beziehung dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterfällt: anlässlich seiner Vorführung vor den Haftrichter am 2003 hatte der Angeklagte noch erklärt, die Beziehung zu Frau L. sei "endgültig beendet", er habe jetzt eine neue, "16 oder 17 Jahre alte" Freundin - der sogleich eine Dauer-Besuchserlaubnis erteilt wurde. In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht gaben beide Beschwerdeführer dann auch übereinstimmend an, Frau L. sei die "Ex-Freundin" des Angeklagten. Damit ist zwar eine Versöhnung und auch Verlobung - auch während der Untersuchungshaft - nicht ausgeschlossen, ein von beiden Seiten ernst gemeintes Ehe- versprechen erscheint gleichwohl fraglich. Aber selbst wenn ein echtes Verlöbnis oder eine Lebensgemeinschaft bestehen sollten, wäre die Anordnung der Besuchsüberwachung zumutbar. Der Angeklagte befindet sich - nachdem der ursprüngliche Haftbefehl des Amtsgerichts Neubrandenburg vom 05.09.2003 durch Beschluss der Beschwerdekammer des Landgerichts Neubrandenburg vom 28.10.2003 aufgehoben worden war - aufgrund des Haftbefehls des Senates - I Ws 526/03 - vom 01.12.2003 seit dem 08.12.2003 wieder in Untersuchungshaft. Er ist am 30.01.2004 - nicht rechtskräftig - verurteilt worden, die Berufungshauptverhandlung ist auf den 18.05.2004 angesetzt. Nach einer Entscheidung der zweiten Instanz wird ggfs. erneut zu prüfen sein, ob Gründe für eine Versagung einer Besuchserlaubnis oder für eine weitere Anordnung der Besuchsüberwachung bestehen. Bis dahin kann den Beschwerdeführern aber in jedem Fall zugemutet werden, dass ein Besuch der Zeugin bei dem Angeklagten optisch und akustisch überwacht wird.

3.

Die angefochtenen Beschlüsse waren daher aufzuheben und die begehrte Besuchserlaubnis in dem tenorierten Umfang zu erteilen. Das entspricht dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft.

III.

Da die Beschwerden erfolgreich waren, ergibt sich die Kostenentscheidung aus § 467 Abs. 1 StPO analog.

Ende der Entscheidung

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