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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Beschluss verkündet am 26.11.2001
Aktenzeichen: 11 W 23/01
Rechtsgebiete: EMRK, EGBGB, PrStHG


Vorschriften:

EMRK Art. 5
EGBGB Art. 77
PrStHG § 7
Art. 5 Abs. 5 EMRK gewährt dem Betroffenen einen unmittelbaren Anspruch, der an eine rechtswidrige Freiheitsentziehung anknüpft.
11 W 23/2001

Beschluss

In dem Rechtsstreit

hat der 11. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts am 26. November 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht , den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss der 12. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 30. November 1999 wird insoweit zurückgewiesen, als der Antragsteller Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage gegen die Antragsgegnerin zu 1) begehrt.

Soweit der Antragsteller Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage gegen den Antragsgegner zu 2) begehrt, wird der genannte Beschluss der 12. Zivilkammer des Landgerichts Kiel aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch des Antragstellers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats an das Landgericht zurückverwiesen.

Gründe:

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist die Beschwerde des Antragstellers insgesamt gem. § 127 ZPO statthaft. Der Antragsteller hat das Recht auf Beschwerde nicht verwirkt.

Die Beschwerde gegen eine Prozesskostenhilfe ganz oder teilweise verweigernde Entscheidung ist nicht fristgebunden. Dennoch kann auch in einem solchen Fall das Recht zur Beschwerde ausnahmsweise verwirkt werden. In entsprechender Anwendung von § 242 BGB ist nämlich auch im Prozessrecht anerkannt, dass Rechtsmissbrauch nicht geschützt ist. Deshalb kann der Gesichtspunkt der Verwirkung auch bei der Prozesskostenhilfebeschwerde durchgreifen (OLG Koblenz, MDR 1997, 498; OLG Bamberg, FamRZ 1996, 618 f.; Zöller/Philippi, ZPO, 22. Aufl. 2001, § 127 Rnr. 32; Baumbauch/Hartmann, ZPO, 59. Aufl. 2001, § 127 Rnr. 66 und Musielak/Fischer, ZPO, 2. Auf. 2000, § 127 Rnr. 17).

Im vorliegenden Fall kann Verwirkung aber noch nicht festgestellt werden. Es ist bereits zweifelhaft, ob überhaupt der bloße Zeitablauf ausreichend ist, um das Beschwerderecht zu verwirken. Nach 1 1/2 Jahren erscheint dies dem Senat jedenfalls nicht der Fall, wenn nicht weitere Umstände vorliegen, die die verspätete Rechtsverfolgung als rechtsmissbräuchlich erscheinen lassen. Solche Umstände fehlen aber im vorliegenden Fall gänzlich.

Die Beschwerde des Antragstellers kann keinen Erfolg haben, soweit er seinen Schmerzensgeldanspruch gegen die Antragsgegner zu 1) und 2) auf die §§ 839, 847 BGB i. V. m. Art. 34 GG stützt. Insoweit greift nämlich der Haftungsausschluss aus Art. 77 EGBGB i. V. m. § 7 des Preußischen Gesetzes über die Haftung des Staates und anderer Verbände für Amtspflichtverletzungen von Beamten bei Ausübung der öffentlichen Gewalt vom 1. August 1909 (GS. S.691) durch. Die diesbezüglichen Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss des Landgerichts sind nicht zu beanstanden. Insbesondere ist die fragliche Vorschrift auch verfassungsgemäß. Der Senat verweist diesbezüglich auf sein Urteil vom 25. März 1999 - 11 U 94/97 (veröffentlicht in SchlHA 1999, 260 f.) - und die dort zitierte Rechtsprechung und Literatur. Hinreichende Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung (§ 114 ZPO) fehlen deshalb insoweit.

Weitere Anspruchsgrundlagen, die dem Antragsteller mit Erfolg für sein Begehren gegen die Antragsgegnerin zu 1) zur Seite stehen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere kann aus Art. 5 Abs. 5 EMRK (und entsprechend aus Art. 9 Abs. 5 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte - IPBPR -) kein Anspruch gegen die Antragsgegnerin zu 1) hergeleitet werden. Danach hat nämlich derjenige Hoheitsträger Schadensersatz zu leisten, dessen Hoheitsgewalt bei der rechtswidrigen Freiheitsentziehung ausgeübt worden ist (Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. 1996, Art. 5 EMRK, Rnr. 135 m. w. N.; vgl. auch BGHZ 45, 54). Im vorliegenden Fall ist der Zedent des Antragstellers aber nicht in Ausübung von Hoheitsgewalt der Antragsgegnerin zu 1) inhaftiert worden. Diese hat vielmehr nur einen Antrag bei dem Amtsgericht Kiel gestellt, gegen den Zedenten Abschiebehaft zu verhängen. Diese Abschiebehaft ist tatsächlich vom Amtsgericht Kiel, also einem Hoheitsträger des Antragsgegners zu 2) verhängt worden. Das Amtsgericht Kiel war aber örtlich nicht zuständig, so dass der Beschluss unter einer Gesetzesverletzung zu Stande gekommen ist und die Inhaftierung nicht rechtmäßig iSv Art. 5 Abs. 1 EMRK war (Beschluß der 3. Zivilkammer des LG Kiel vom 5. Juni 1998 - 3 T 306/98 -, bestätigt durch Beschluß des 2. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 15. Juni 1998 - 2 W 108/98 - rkr.).

Der Antragsteller könnte aber gegen den Antragsgegner zu 2) aus abgetretenem Recht einen Anspruch aus den genannten Vorschriften der EMRK und des IPBPR haben. Das Landgericht hätte Prozesskostenhilfe nicht unter Hinweis darauf ablehnen dürfen, dass nach seiner Auffassung der Haftungsausschluss aus Art. 77 EGBGB i. V. mit § 7 PrStHG auf den Anspruch aus der EMRK entsprechend anzuwenden ist. Insoweit liegt nämlich eine zweifelhafte Rechtsfrage vor, bei der im Prozesskostenhilfeverfahren Erfolgsaussichten im Sinne von § 114 ZPO nicht verneint werden dürfen, wenn es sich um eine schwierige entscheidungserhebliche und ungeklärte Rechtsfrage handelt, bei der es angebracht ist, dass die höhere Instanz sich mit ihr befasst (Bundesverfassungsgericht NJW 1991, 413; BGH MDR 1998, 302; Zöller/Philippi, a. a. O., § 114 Rnr. 21).

Ob der genannte Haftungsausschluss durchgreift, ist für Art. 5 Abs. 5 EMRK nicht geklärt. Das Landgericht Stade hat (in NVwZ-Beilage I 4/1999, 39) die entsprechende Anwendung dieses Haftungsausschlusses auf den Anspruch aus Art 5 Abs. 5 EMRK verneint. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass die Frage in Rechtsprechung und Literatur unmittelbar bereits behandelt worden ist. Insbesondere kann man dazu aus der Entscheidung des BGH in NJW 1981, 518 f. entgegen der Ansicht des Antragsgegners zu 2) nichts entnehmen. Diese Entscheidung behandelt keinen Schadensersatzanspruch wegen rechtswidriger Inhaftierung, sondern einen Amtshaftungsanspruch wegen eines Vermögensschadens, der durch eine Ausweisung entstanden war. Auch hier stand dem Amtshaftungsanspruch ein entsprechender landesrechtlicher Ausschlusstatbestand - kein Schadensersatz aus Amtshaftung für einen Ausländer bei fehlender Gegenseitigkeit - gestützt auf Art. 77 EGBGB entgegen. Der Bundesgerichtshof führt dort aus, dass dieser Haftungsausschluss nicht gegen das Grundgesetz verstößt und auch nicht gegen die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Damit ist aber nicht die Frage beantwortet, ob für den Fall, dass die genannten beiden Rechtsquellen unmittelbar einen Schadensersatzanspruch begründen, ein Ausschluss in entsprechender Anwendung derartiger landesrechtlicher Bestimmungen zum Amtshaftungsrecht möglich ist.

Der Senat hat daran bei vorläufiger summarischer Prüfung einige Zweifel. Es ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass Art. 5 Abs. 5 EMRK dem Betroffenen einen unmittelbaren Anspruch gewährt, der an eine rechtswidrige Freiheitsentziehung anknüpft, jedoch kein Verschulden voraussetzt. Es handelt sich nicht um einen Amtshaftungs- sondern um einen Staatshaftungsanspruch, der einem Anspruch aus Gefährdungshaftung nach bundesdeutschem Recht ähnelt (BGHZ 45, 58, 65 f.). Der Bundesgerichtshof hat allerdings auch anerkannt, dass dieser besondere Anspruch aus Gefährdungshaftung in der Nähe des deutschen Deliktsrechts steht und deshalb durch Bestimmungen des Deliktsrechts ergänzt werden kann. Vor diesem Hintergrund hat er insbesondere die entsprechende Anwendung der Verjährungsregelung des § 852 BGB bejaht (BGHZ 45, 58, 71 ff.). § 7 des Preußischen Gesetzes über die Haftung des Staates und anderer Verbände für Amtspflichtverletzungen von Beamten bei Ausübung öffentlicher Gewalt vom 01. August 1909 i. V. mit Art. 77 EGBGB ist nun aber keine allgemeine Regel des deutschen Deliktsrechts, sondern ein ausnahmsweise geltender Ausschluß des Amtshaftungsanspruchs, also der mittelbaren Staatshaftung, die an eine schuldhafte Amtspflichtverletzung von Beamten anknüpft. Die genannte Ausnahmenorm schließt diese mittelbare Staatshaftung für den Angehörigen eines ausländischen Staates aus, wenn die sogenannte Gegenseitigkeit nicht verbürgt ist. In einem solchen Fall verbleibt dem geschädigten ausländischen Staatsangehörigen allerdings immer noch der Anspruch gegen den Beamten selbst. Sollte man diese Ausnahmenorm des Amtshaftungsrechtes aber übertragen wollen auf den unmittelbaren und verschuldensunabhängigen Staatshaftungsanspruch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK, dann würde das für die betroffenen Ausländer von Staaten, mit denen die Gegenseitigkeit nicht verbürgt ist, bedeuten, dass im Fall rechtswidriger aber schuldloser Freiheitsentziehung jeglicher Anspruch ausscheidet. Die Anwendung dieser Ausnahmenorm würde mithin nicht zu einer Ergänzung des Art. 5 Abs. 5 EMRK führen, sondern vielmehr zu einem Ausschluss. Damit könnten die Grenzen einer Auslegung von Art. 5 Abs. 5 MRK aber überschritten sein.

Soweit der Anspruch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK durchgreifen sollte, kann daraus auch Schmerzensgeld verlangt werden (BGH NJW 1993, 2927 ff.; Frowein/Peukert, EMRK, 2. A. 1996, Art. 5 Rdnr. 161). Allerdings sind die Forderungen des Antragstellers - 1.000 DM pro Inhaftierungstag - weit übersetzt. Der Antragsteller kann sich für diese Forderung nicht auf die Entscheidung des OLG Oldenburg (in VersR 1991, 306 f.; bestätigt durch den BGH in VersR 1991, 308) berufen, wo für eine schuldhaft rechtswidrige einwöchige vorläufige Einweisung in eine psychiatrische Anstalt ein Schmerzensgeld von 5.000 DM gewährt worden ist. Hier war nämlich bei der Bemessung des Schmerzensgeldes eine erhebliche Lebensbeeinträchtigung des Inhaftierten u. a. deshalb zu berücksichtigt worden, weil sich die Tatsache der Unterbringung selbst in dem Heimatort des Betroffenen herumgesprochen und sich nachteilig auf seine sozialen Beziehungen und sein Ansehen ausgewirkt hatte. Auch war dem Maß der Pflichtwidrigkeit und der schuldhaften Handlung des zuständigen Amtsarztes unter Berücksichtigung des Verstoßes gegen Verfassungsgarantien schmerzensgelderhöhend Rechnung getragen worden.

Im vorliegenden Fall hat aber der Antragsgegner zu 2) unwidersprochen darauf hingewiesen, die Situation des betroffenen Zedenten im Zeitpunkt der Inhaftierung sei dadurch gekennzeichnet gewesen, dass er keinen festen Wohnsitz gehabt habe und "untergetaucht" sei. Eine mit der Inhaftierung verbundene Belastung seines Rufes im Freundes- und Bekanntenkreis sowie in der Öffentlichkeit und auch eine Beeinträchtigung seines Erwerbs- oder Berufslebens sei nicht feststellbar. Sie ist tatsächlich auch nicht vorgetragen. Vor diesem Hintergrund kann bei der Festlegung der Höhe des Entschädigungsanspruchs durchaus auch § 7 Abs. 3 StrEG vergleichend herangezogen werden, der 20 DM für jeden Tag einer Freiheitsentziehung als immateriellen Schadensersatz vorsieht. Allerdings ist - mit der Rechtsprechung des BGH zu Art. 5 Abs. 5 EMRK - zu berücksichtigen, dass der Schadensersatzanspruch nach dieser Norm nicht auf eine Entschädigung innerhalb der Grenzen des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen beschränkt ist. Das Strafrechtsentschädigungsgesetz soll nämlich nur die üblichen Unzuträglichkeiten, die die Haft mit sich bringt, ausgleichen. Dagegen gewährt Art. 5 Abs. 5 EMRK darüber hinaus Schadensersatz für alle weiteren immateriellen Folgen des Vollzuges, wobei insbesondere auch zu berücksichtigen und angemessen zu bewerten ist, dass es sich um eine rechtswidrige Anordnung der Haft gehandelt hat, weil ein unzuständiges Gericht tätig geworden ist ( vgl. BGH NJW 1993, 2927, 2930 f). Die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts ist auch dann nicht berührt, wenn Prozesskostenhilfe nur für einen Schadensersatzanspruch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK unterhalb der allgemeinen Streitwertgrenze der §§ 71 Abs. 1, 23 Nr. 1 GVG zugesprochen werden kann, weil auf den genannten Anspruch § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG entsprechend anzuwenden und mithin das Landgericht ausschließlich zuständig ist.

Der Senat kann allerdings derzeit nicht selbst entscheiden, ob dem Antragsteller in einem gewissen Umfang für die beabsichtigte Klage gegen den Antragsgegner zu 2) Prozesskostenhilfe zu bewilligen ist, weil die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe noch nicht ausreichend geklärt sind. Der Antragsteller hat lediglich eine Prozesskostenhilfeerklärung mit entsprechenden Belegen vom 17. Mai 1999 vorgelegt. Nachdem er sich selbst entschlossen hat, das Prozesskostenhilfeverfahren 1 1/2 Jahre ruhen zu lassen, kann er nach nunmehr eingelegter Beschwerde nicht verlangen, dass ihm Prozesskostenhilfe auf der Basis dieser längst überholten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zugesprochen wird. Das Landgericht wird dem Antragsteller deshalb aufzugeben haben, eine aktuelle Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst allen notwendigen Belegen vorzulegen, um dann erneut über die Frage der Bewilligung von Prozesskostenhilfe auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Senats zur möglichen Höhe eines Schmerzensgeldsanspruchs zu entscheiden.

Ende der Entscheidung

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