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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Beschluss verkündet am 31.10.2003
Aktenzeichen: 16 W 126/03
Rechtsgebiete: GG, GVG, ZPO


Vorschriften:

GG Art. 101 I
GVG § 105 I
ZPO § 349 I
ZPO § 45 I
ZPO § 46 II
Über ein Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen hat stets die vollbesetzte Kammer unter Mitwirkung des Vorsitzendenvertreters und der beiden nach der Geschäftsverteilung zuständigen Handelsrichter zu entscheiden.
16 W 126/03

Beschluss

In dem Rechtsstreit

wegen Richterablehnung

hat der 16. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die sofortige Beschwerde des Beklagten vom 1. September 2003 gegen den Beschluss des Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen III des Landgerichts Lübeck vom 14. August 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht am 31. Oktober 2003 beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung durch die vollbesetzte Kammer für Handelssachen III an das Landgericht Lübeck zurückverwiesen.

Gründe:

Die sofortige Beschwerde des Beklagten ist gemäß § 46 Abs. 2 ZPO statthaft und auch formgerecht durch Anwaltsschriftsatz eingereicht worden, § 569 Abs. 3 ZPO. Die Beschwerdefrist des § 569 Abs. 1 Satz 2 ZPO ist schon deshalb gewahrt, weil der angefochtene Beschluss den Parteien ersichtlich entgegen §§ 569 Abs. 1 Satz 2, 329 Abs. 3 ZPO nicht förmlich zugestellt worden ist.

Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung an das Landgericht, weil der Beschluss nicht von den gesetzlich vorgesehenen Richtern gefasst worden ist und eine eigene Entscheidung durch den Senat in der Sache nicht sachgerecht erscheint.

1. Über das Befangenheitsgesuch des Beklagten vom 7. August 2003 hat der Vertreter des abgelehnten Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen III allein ohne Hinzuziehung von Handelsrichtern entschieden. Hierzu war er gemäß §§ 105 Abs. 1 GVG, 349, 45 Abs. 1 ZPO nicht befugt. Folglich ist der angefochtene Beschluss unter Verstoß gegen das Grundrecht auf Entscheidung durch den gesetzlichen Richter ergangen, § 16 Satz 2 GVG, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

a) Auch außerhalb der mündlichen Verhandlung entscheidet die Kammer für Handelssachen gemäß § 105 Abs. 1 GVG in voller Spruchbesetzung, also in der Besetzung mit zwei Handelsrichtern sowie dem Vorsitzenden, es sei denn, der Vorsitzende ist gemäß § 349 ZPO zur alleinigen Entscheidung berufen. Das ist bei einer Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen nicht der Fall.

Eine Entscheidungsbefugnis durch den Vorsitzendenvertreter gemäß §§ 45 Abs. 1, 349 Abs. 1 ZPO scheidet schon deshalb aus, weil die Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen nicht lediglich der Vorbereitung der Entscheidung der Kammer in der Hauptsache dient, sondern die ordnungsgemäße Besetzung des Spruchkörpers, also den Anspruch der Parteien auf Entscheidung durch den gesetzlichen Richter, betrifft. Über diese Frage hat gemäß § 45 Abs. 1 ZPO beim Landgericht stets der volle Spruchkörper ohne Mitwirkung des Abgelehnten zu entscheiden. Das gilt auch für die Kammer für Handelssachen (h. M.: Kissel, GVG, 3. Aufl., § 105 Rdn. 9; BayObLGZ 1979, 364 (367 m.w.N.)).

Eine andere Handhabung wäre auch ohne jede innere Rechtfertigung, weil selbst über die Ablehnung eines originären Einzelrichters im Sinne von § 348 Abs. 1 Satz 1 ZPO die vollbesetzte Zivilkammer entscheidet, obwohl diese in keinem Falle zur Entscheidung in der Hauptsache befugt ist.

b) Eine Zuständigkeit des Vorsitzendenvertreters allein zur Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch kraft Natur der Sache scheidet angesichts von § 105 Abs. 2 GVG aus. Zwar wirken Handelsrichter in den Kammern für Handelssachen mit, weil ihre besondere, aus ihrer kaufmännischen Tätigkeit gewonnene Sachkunde für die Entscheidungsfindung fruchtbar gemacht werden soll. Deshalb hat § 349 Abs. 2 ZPO in den dort geregelten Fällen, bei denen es typischerweise nicht auf die besondere Sachkunde der Handelsrichter ankommt, dem Vorsitzenden allein die Entscheidung zugewiesen (hierzu: BVerfG NJW 1999, 1095).

Daraus folgt aber nicht ein Rechtssatz, dass die Handelsrichter nicht zur Mitwirkung berufen sind, wenn es auf ihre besondere Sachkunde nicht ankommt. Im Gegenteil, das Gesetz hat nach § 105 Abs. 1 GVG ein klares Regel-Ausnahme-Verhältnis angeordnet. Soweit die Sonderregel des § 349 ZPO nicht greift, entscheidet die Kammer für Handelssachen in der Besetzung mit drei Richtern (Kissel, a.a.O., § 105 Rdn. 6). Aus diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis ergibt sich, dass Handelsrichter kraft Gesetzes in einer Vielzahl von Fällen auch zur Mitwirkung an einer Entscheidung über Rechtsfragen berufen sind, bei denen es auf ihre besondere Rechtskunde nicht ankommt. Auch in solchen Fällen haben alle Mitglieder der Kammer für Handelssachen gleiches Stimmrecht, § 105 Abs. 2 GVG.

Es bedarf keiner weiteren Darlegung, dass bei einer Entscheidung nach § 45 ZPO keiner der in § 349 Abs. 2 ZPO aufgeführten Fälle gegeben ist. Das wird, soweit ersichtlich, auch von niemand vertreten.

Für den Fall, dass das Ablehnungsgesuch gegen den Vorsitzenden in der mündlichen Verhandlung vor der vollbesetzten Kammer für Handelssachen angebracht wird, ist dem Senat bisher kein Fall bekannt geworden, dass über das Ablehnungsgesuch ohne Hinzuziehung der in der Verhandlung anwesenden Handelsrichter nur allein durch den Vorsitzendenvertreter entschieden worden wäre. Eine Praxis, bei Ablehnungsgesuchen gegen den Vorsitzenden, soweit er zur Verhandlung und Entscheidung ohne Hinzuziehung der Handelsrichter befugt ist, auch den Vorsitzendenvertreter allein entscheiden zu lassen, verstößt gegen § 45 Abs. 1 ZPO (h.M.: statt aller: Zöller / Vollkommer, ZPO, 23. Aufl., § 45 Rdn. 2). Auch für den Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen ist das Gericht, das über ein gegen ihn angebrachtes Ablehnungsgesuch zu entscheiden hat, seine vollbesetzte Kammer für Handelssachen, die unter Ausscheiden des abgelehnten Vorsitzenden und Hinzuziehung des Vorsitzendenvertreters zur Entscheidung berufen ist.

2. An einer eigenen Sachentscheidung bei einem Verfahrensfehler wegen Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter ist das Beschwerdegericht grundsätzlich nicht gehindert. Eine eigene Sachentscheidung ist vielmehr die Regel (Zöller/Gummer, a.a.O., § 572 Rdn. 27). Indes eröffnet § 572 Abs. 3 ZPO im Beschwerdeverfahren - abweichend von den jetzt geltenden Regelungen im Berufungsverfahren, § 538 ZPO - jederzeit auch die Zurückverweisung des Verfahrens an die Vorinstanz, wenn dies trotz des Grundsatzes der Beschleunigung des Gesamtverfahrens erforderlich ist (a.a.O., Rdn. 28). So liegt der Fall hier.

Bei Befangenheitsbeschwerden ist nämlich zu beachten, dass das Beschwerdegericht nach § 46 Abs. 2 ZPO nur eine eingeschränkte Rechtsmittelzuständigkeit hat. Wird ein Befangenheitsgesuch bereits vom Landgericht für begründet erklärt, findet kein Rechtsmittel statt.

Daraus folgt nach Auffassung des Senats, dass er zu einer eigenen Sachentscheidung bei statthaften Befangenheitsbeschwerden im Falle erheblicher Verfahrensfehler im ersten Rechtszug nur befugt ist, wenn das Befangenheitsgesuch entweder offensichtlich begründet oder offensichtlich unbegründet ist. In beiden Fällen wäre nämlich die Zurückverweisung eine überflüssige Förmelei .

Anders liegt es jedoch in den Fällen, in denen nicht auszuschließen ist, dass dem Befangenheitsgesuch nach Zurückverweisung vom Landgericht stattgegeben wird, ohne dass ein Fall offensichtlicher Begründetheit vorläge. In solchen Fällen ist die Wertung des erstinstanzlichen Gerichts vorrangig. Entschiede der Senat selbst, nähme er eine Zuständigkeit in Anspruch, die bei verfahrensfehlerfreier Behandlung des Befangenheitsgesuchs möglicherweise nicht erwachsen wäre (anders offenbar BayObLGZ, a.a.O., S. 368, das sich wohl für befugt hält, stets in der Sache zu entscheiden).

3. Im vorliegenden Falle ist das Befangenheitsgesuch des Beklagten nicht offensichtlich unbegründet. Der angefochtene Beschluss befasst sich nicht mit dem maßgeblichen Vorwurf gegen den abgelehnten Richter, er habe entgegen § 139 Abs. 2 ZPO nicht rechtzeitig auf seine Bedenken hinsichtlich der Schlüssigkeit des Beklagtenvortrages hingewiesen. Aus der dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters ergibt sich, dass er sich hierzu nicht für verpflichtet gehalten hat.

Dem Beklagten ist keine ausreichende Gelegenheit gegeben worden, sich zu der dienstlichen Stellungnahme des abgelehnten Richters zu äußern. Über das Ablehnungsgesuch des Beklagten vom 7. August 2003 hat der Vorsitzendenvertreter bereits am 14. August 2003 entschieden, ohne auch nur die von ihm selbst gesetzte einwöchige Frist für eine eventuelle Stellungnahme abzuwarten.

Der Beklagte hat in seiner nicht mehr verwerteten Stellungnahme vom 15. August 2003 zu Recht darauf hingewiesen, bei einem Hinweis des Gerichts, der Beklagte müsse zumindest durch ein Privatgutachten belegen, dass Überzahlungen auf erteilte Honorarforderungen erfolgt seien, müsse ihm, dem Beklagten, dann auch Gelegenheit gegeben werden, ein entsprechendes Gutachten vorzulegen. Es ist selbstverständlich, dass es grob verfahrensfehlerhaft ist, einer Partei keine Gelegenheit zu geben, einem ihr vom Gericht erstmals erteilten Hinweis Rechnung zu tragen (Zöller/Greger, a.a.O., § 139 Rdn. 14).

Der abgelehnte Richter hat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses vom 14. August 2003 gegen seine Wartepflicht aus § 47 ZPO verstoßen. Er hat, ohne abzuwarten, ob der Beschluss angefochten werden würde, bereits am 18. August 2003 Termin vor der vollbesetzten Kammer auf den 16. Oktober 2003 anberaumt. Aus dieser Terminierung dürfte sich ergeben, dass der abgelehnte Richter in der Tat dem Beklagten keine hinreichende Gelegenheit mehr einräumen wollte, seinen Sachvortrag rechtzeitig zu ergänzen.

Es wird Sache der vollbesetzten Kammer für Handelssachen III unter Hinzuziehung des Vorsitzendenvertreters sein zu entscheiden, ob diese Vorgänge geeignet sind, beim Beklagten auch aus der Sicht einer ruhigen und besonnenen Partei in seiner Lage Misstrauen gegen die Parteilichkeit des abgelehnten Richters zu rechtfertigen.

Ende der Entscheidung

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