Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 13.08.2001
Aktenzeichen: 16 W 170/01
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 42 II
Ein faires Verfahrens setzt voraus, daß der Richter sein ohne Kenntnis der Parteien durch eine beigezogene Akte überlegenes Wissen offenbart, um der Partei die Möglichkeit zu bieten, Widersprüche zwischen ihrem Prozessvortrag und den Inhalt der beigezogenen Akte aufzuklären.
Beschluss

16 W 170/01

In dem Rechtsstreit

hat der 16. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die sofortige Beschwerde des Klägers vom 11. Juli 2001 gegen den Beschluss der 13. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 20. Juni 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht , den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht am 13.August 2001 beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Das Befangenheitsgesuch des Klägers vom 18. Mai 2001 gegen den Richter G wird für begründet erklärt.

Gründe:

Die sofortige Beschwerde des Klägers ist gemäß § 46 Abs. 2 ZPO statthaft und auch form- und fristgerecht eingelegt worden, §§ 569 Abs. 2, 577 Abs. 2 ZPO.

Das Rechtsmittel ist begründet, weil der abgelehnte Richter durch sein Gesamtverhalten in der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2001 Gründe geliefert hat, die geeignet sind, auch bei objektiver und vernünftiger Betrachtung aus der Sicht des Klägers das Misstrauen zu erwecken, der abgelehnte Richter stehe ihm nicht mehr unparteilich gegenüber, § 42 Abs. 2 ZPO. Der gegenteiligen Beurteilung des Landgerichts vermag der Senat nicht zu folgen.

1. a) Die Besonderheit des vorliegenden Falles besteht darin, dass gegen die Redlichkeit des Klägers nach Aktenlage erhebliche Zweifel zu hegen sind.

Die Beklagte zu 1. bestreitet, dass der Kläger zum Unfallzeitpunkt am 2. Dezember 1999 Eigentümer des Pkw Mercedes Benz E 280-Elegance, aus dessen Beschädigung die Klageforderung hergeleitet wird, gewesen sei. Sie hat auf die am 24. Januar 1997 abgegebene eidesstattliche Versicherung des Klägers vor dem Amtsgericht Kiel hingewiesen und behauptet, der Kläger habe zum Unfallzeitpunkt vom Arbeitsamt Arbeitslosenhilfe bezogen. Die Beklagte zu 1. hat hieraus gefolgert, der Kläger müsse darlegen, woher er bei dieser Sachlage 41.000 DM zum Erwerb des verunfallten Fahrzeugs im April 1999 gehabt habe.

Die Beklagte zu 1. hat ferner unter Darlegung der Vorgeschichte des verunfallten Mercedes den Verdacht geäußert, der geltend gemachte Unfall sei entweder überhaupt nicht geschehen oder aber vom Kläger provoziert worden, um das durch den Vorunfall weitgehend entwertete Fahrzeug nochmals "zu Geld zu machen", dies möglicherweise als Mitglied aus dem "Kreis der Aufkäufer".

Die Einlassung des Klägers vom 21. November 2000 zu seinen Vermögensverhältnissen ist dürftig gewesen. Er hat behauptet, an die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung vor dem Amtsgericht Kiel keine Erinnerung zu haben. Den Bezug von Arbeitslosenhilfe zum Unfallzeitpunkt hat er bestritten, was auch zutrifft, dabei aber verschwiegen, dass dies bis April 1999 einschließlich, also bis zum Zeitpunkt des behaupteten Kaufs des Mercedes der Fall gewesen ist. Zur Herkunft des Kaufpreises von 41.000 DM hat sich der Kläger ausgeschwiegen. Kenntnis von einem Vorschaden hat der Kläger in seinem Schriftsatz vom 21. November 2000 bestritten, und erst in der mündlichen Verhandlung am 18. Mai 2000 eingeräumt.

Aus der vom abgelehnten Richter ohne Benachrichtigung der Parteien beigezogenen Leistungsakte des Arbeitsamtes Kiel ergibt sich, dass der Kläger noch am 2. März 1999 gegenüber dem Arbeitsamt versichert hat, über keinerlei Vermögen zu verfügen.

Vor Beginn der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2001 bestand folglich für den abgelehnten Richter aller Anlass zu dem Verdacht, der Kläger habe entweder gegenüber dem Arbeitsamt oder gegenüber dem Gericht zu seinen Vermögensverhältnissen, insbesondere zur angeblichen Zahlung eines Kaufpreises von 41.000 DM, falsche Angaben gemacht.

Die behauptete Abgabe der eidesstattlichen Versicherung durch den Kläger am 24. Januar 1997 stand nach Vorlage der entsprechenden M-Akte des Amtsgerichts fest.

b) Bei dieser Ausgangslage hätte es für jeden erkennenden Richter nahe gelegen, dem Kläger nach Darlegung des eigenen Kenntnisstandes aufgrund der beigezogenen Akten Punkt für Punkt seine widersprüchlichen Einlassungen vorzuhalten und ihn dabei auch nachdrücklich auf seine prozessuale Wahrheitspflicht hinzuweisen.

Der zuvor erfolgte Verstoß gegen § 273 Abs. 4 ZPO bei der Anordnung der Beiziehung der Beiakten wäre bei rechtzeitiger Mitteilung, dass diese Akte nunmehr vorlägen, zu Beginn der mündlichen Verhandlung kein geeigneter Grund im Sinne von § 42 Abs. 2 gewesen, den Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, da es dem Klägeranwalt freigestanden hätte, vor Beginn der Befragung des Klägers Unterbrechung der Sitzung zur Akteneinsicht oder Vertagung zu beantragen. Der Umstand allein, dass eine Mitteilung nach § 273 Abs. 4 ZPO übersehen wird, ist ein einfacher Verfahrensfehler, der jedem Richter unterlaufen kann, ohne dass dies irgendwelche Rückschlüsse auf seine Parteilichkeit oder Unparteilichkeit gestattet. Entscheidend ist, dass ein solcher Fehler sofort nach Erkennen durch geeignete Maßnahmen ausgeglichen wird.

2. Gegen die daraus sich ergebenden selbstverständlichen Grundsätze eines fairen Verfahrens hat der abgelehnte Richter verstoßen, indem er weder sein aufgrund der beigezogenen Akten überlegenes Wissen offenbart noch dem Kläger Gelegenheit gegeben hat, Widersprüche zwischen seinem Prozessvortrag und dem Akteninhalt zu bereinigen.

Stattdessen hat der abgelehnte Richter den Kläger so befragt, dass dieser sich im Ergebnis auf falsche Angaben festgelegt hat.

Zu einer solchen Verfahrensweise ist ein Zivilrichter, auch wenn er den dringenden Verdacht hegt, eine unredliche Partei vor sich zu haben, nicht befugt. Auch eine - hier unterstellt - unredliche Partei hat Anspruch darauf, dass das Gericht ihre Subjektstellung im Prozess achtet und sie nicht zum Objekt einer quaispolizeilichen "Überführung" degradiert.

Genau das aber hat der abgelehnte Richter getan. Er hat den Kläger unter Verheimlichung seines überlegenen Wissens zu unwahren Einlassungen verleitet und damit als unredlich "entlarvt", statt dem Kläger durch Vorhalte den Weg zur wahrheitsgemäßen Erklärung zu weisen.

Das Ergebnis hinsichtlich der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Klägers ist in beiden Fällen in der Regel dasselbe. Im zweiten Falle - und das allein ist entscheidend - findet die Auseinandersetzung um die Wahrheit des Prozessvortrages der Parteien "auf gleicher Augenhöhe" statt. Dabei muss es eine Partei dann auch hinnehmen, wenn ihr nachgewiesen wird, falsch vorgetragen zu haben. Sie muss es aber nicht hinnehmen, in der vom abgelehnten Richter gewählten Vorgehensweise "vorgeführt" zu werden.

Ein Richter, der in dieser Weise eine Partei der Unwahrheit "überführt", erweckt bei dieser zwangsläufig den Eindruck, sich auch im übrigen ein endgültiges Urteil über die Berechtigung des geltend gemachten Anspruchs gebildet zu haben. Damit gibt er aber seine Unparteilichkeit im Sinne von § 42 Abs. 2 ZPO aus der Sicht der betroffenen Partei auf. Auch eine - wiederum nur unterstellt - unredliche Partei hat einen Anspruch darauf, dass ihr trotz nachgewiesener Glaubwürdigkeitsmängel ein fairer Prozess gemacht wird. Bevor nicht alle entscheidungserheblichen Umstände des Falles geklärt sind, steht nämlich nie fest, ob es auf die Glaubwürdigkeit des Klägers selbst überhaupt ankommt. Im konkreten Falle ist festzuhalten, dass auch durch die Falschangaben des Klägers noch nicht geklärt ist, ob er nun Eigentümer des verunfallten Mercedes gewesen ist und wenn ja, woher er sich den dafür erforderlichen Kaufpreis beschafft hat. Gerade wenn er zu Unrecht Leistungen vom Arbeitsamt bezogen hätte, schließt dies nicht aus, dass er nicht nur, wie nachgewiesen, Halter des verunfallten Fahrzeugs, sondern auch dessen Eigentümer gewesen ist.

3. Es kann dahingestellt bleiben, ob das Befangenheitsgesuch des Klägers sofort nach Verkündung des - bei rechtzeitigem Vorhalt aus den Akten überflüssigen - Beweisbeschlusses und Offenbarung des Umstandes, dass die beizuziehenden Akten schon vorlagen, hätte gestellt werden müssen.

Der Kläger hat sich nämlich auf eine Erörterung des Inhalts der beigezogenen Akten eingelassen. Allerdings müssen in der Regel Ablehnungsgründe, die in einer mündlichen Verhandlung entstehen, erst bis zu deren Schluss geltend gemacht werden (Zöller/Vollkommer, ZPO, 22. Aufl., § 43 Rn. 7). Ob das für eine sich länger hinziehende Verhandlung auch zutrifft, dürfte zweifelhaft sein. Der Grundsatz gilt, dass Ablehnungsgründe sofort geltend gemacht werden müssen und Weiterverhandeln vor dem später abgelehnten Richter zur Verwirkung nach § 43 ZPO führt. Darauf kommt es aber nicht an, wenn die Ablehnung auf einen "Gesamttatbestand" gestützt wird, zu dem auch bereits verwirkte Ablehnungsgründe gehören. Dann kommt es für die Verwirkung nur auf den Zeitpunkt des letzten "Teilaktes" an (Zöller/Vollkommer, aaO., Rn. 8).

So liegt es hier. Die vom Landgericht als "etwas zu heftig" charakterisierte Reaktion des abgelehnten Richters auf den Umstand, dass der Anwalt des Klägers die Amtsgerichtsakte in die Hand nahm, nachdem beide Anwälte zur Akteneinsichtsnahme wegen der Arbeitsamtsakte an den Richtertisch gebeten worden waren, ist vom Kläger in seinem Schriftsatz vom 21. Mai 2001 zu Recht aus seiner Sicht als Ausdruck einer voreingenommenen Einstellung ihm gegenüber angesehen worden. Nach der geschilderten Vorgeschichte in dieser Verhandlung hätte der abgelehnte Richter angesichts seines insgesamt prozessordnungswidrigen Verhaltens allen Anlass zur Zurückhaltung gehabt. Wenn er gleichwohl den Anwalt des Klägers in der festgestellten Weise maßregelte, musste der Kläger endgültig den Eindruck gewinnen, der abgelehnte Richter habe sich jetzt bereits ein endgültiges Urteil über seinen Anspruch und dessen Berechtigung gebildet. Das rechtfertigt auch aus der Sicht einer Partei, der Unredlichkeit in Einzelpunkten nachgewiesen worden ist, bei objektiv und vernünftiger Betrachtungsweise das Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters. Keineswegs ist es so, dass nur redlichen Parteien eine objektive und vernünftige Betrachtungsweise zugebilligt werden kann. Anderenfalls gebe es in der Mehrzahl der Strafprozesse keine berechtigten Befangenheitsgesuche.

4. Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da die Kosten eines erfolgreichen Ablehnungsgesuchs Teil der Kostenentscheidung in der Hauptsache sind.

Ende der Entscheidung

Zurück