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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Beschluss verkündet am 04.02.2004
Aktenzeichen: 2 W 14/04
Rechtsgebiete: InsO, ZPO


Vorschriften:

InsO § 4
InsO § 5
ZPO § 281 II 2 Satz 4
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
ZPO § 37
1. Übt die Schuldnerin (GmbH) keine werbende Tätigkeit mehr aus, begründet die Durchführung und Abwicklung des Insolvenzverfahrens durch den Geschäftsführer für sich genommen keine Zuständigkeit im Sinne des § 3 As. 1 Satz 2 InsO an dessen Wohnsitz, und zwar auch dann nicht, wenn er die Geschäftsbücher und andere Unterlagen dorthin mitgenommen hat.

2. Der Verweisungsbeschluss eines Insolvenzgerichts ist willkürlich und deshalb nicht bindend, wenn dieses das Verfahren ohne Ermittlungen nach § 5 Abs. 1 InsO an ein anderes Insolvenzgericht verwiesen hat, obwohl für diese Anlass bestand.

3. Ein solcher Anlass ist anzunehmen, wenn sich im Zusammenhang mit dem Verweisungsantrag der Schuldnerin nach dem Gesamtbild des Verfahrens der Verdacht einer Gerichtsstandserschleichung im Zuge einer sog. gewerbsmäßigen Firmenbestattung ergibt.


2 W 14/04

Beschluß

In dem Insolvenzverfahren

betreffend die Firma

hier: Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO

hat der 2. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die Aktenvorlage des Amtsgerichts Charlottenburg vom 21.01.2004 am 4. Februar 2004 beschlossen:

Tenor:

Zum örtlich zuständigen Gericht wird das Amtsgericht Neumünster bestimmt.

Gründe:

Die Schuldnerin ist beim Amtsgericht Eckernförde zur HRB-Nr. ..XX..im Handelsregister eingetragen. Mit notarieller Urkunde vom 1.07.2003 übertrugen die seinerzeitigen Gesellschafter A - dieser zugleich als Geschäftsführer - und B ihre Gesellschaftsanteile auf den Erwerber C in Berlin. Eine Zusicherung über den Fortgang der Gesellschaft gab der Erwerber nicht ab. Ein eventueller Kaufpreis sollte Gegenstand einer gesonderten Vereinbarung sein. In der sogleich anberaumten Gesellschafterversammlung wurde beschlossen, den Geschäftsführer A abzuberufen und C zum neuen Geschäftsführer zu bestellen. Gleichzeitig wurden die Firma der Gesellschaft in "X GmbH" und der Gegenstand des Unternehmens geändert. Eine Sitzverlegung wurde nicht beschlossen. Die Änderungen wurden am 14.08.2003 in das Handelsregister eingetragen.

Mit Schreiben vom 10.09.2003 beantragte der Geschäftsführer C beim Amtsgericht Neumünster die Eröffnung des Insolvenzverfahrens und die Verweisung an das für seinen Wohnsitz örtlich zuständige Insolvenzgericht Amtsgericht Charlottenburg. Er führte darin aus, er habe den Gewerbebetrieb abgemeldet, die bestehenden Arbeitsverhältnisse aufgelöst, die gemieteten Räumlichkeiten aufgegeben und sämtliche Geschäftsunterlagen in seinen Zugriffsbereich in Berlin gebracht. Eine (namentlich nicht benannte) "Wirtschaftsberatungsgesellschaft" mit einer Geschäftsadresse in Berlin, sei beauftragt zu prüfen, ob im Rahmen eines neuen Unternehmenskonzeptes der Fortbestand gesichert werden könne oder eine tatsächliche Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit drohe. Mit der Anschrift der Wirtschaftsberatungsgesellschaft sei sichergestellt, daß Post entgegengenommen und Zustellungen erfolgen könnten. Zum Nachweis "aktiver Abwicklungstätigkeiten" führte der Geschäftsführer C einen umfassenden Katalog üblicher einschlägiger Aktivitäten auf.

Das Amtsgericht Neumünster hat sich durch Beschluß vom 18.09.2003 ohne weiteres für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das Amtsgericht Charlottenburg verwiesen, da der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit in dessen Bezirk liege. Das Amtsgericht Charlottenburg hat sich durch Beschluß vom 12.01.2003 ebenfalls für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorlegt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Es sei örtlich nicht zuständig. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen sei eine wirtschaftliche Tätigkeit der GmbH in seinem Bezirk nicht festzustellen. Der Verweisungsbeschluß sei nicht bindend, da das Amtsgericht Neumünster notwendige Ermittlungen unterlassen habe. Es hätten zahlreiche Anhaltspunkte für einen Fall sogenannter Zuständigkeitserschleichung zum Zwecke "gewerbsmäßiger Firmenbestattung" vorgelegen, der hier zu vermuten sei. Bei der Wirtschaftsberatungsgesellschaft handele es sich um die inzwischen gerichtsbekannte Y - GmbH, die Proforma-Geschäftsführer bestelle und nur eine Briefkastenadresse unterhalte. Auskünfte würden von ihr nicht oder nur schleppend erteilt. Sie werbe in der Presse, im Insolvenzfall binnen 24 Stunden durch Sitzverlegung, Geschäftsführerwechsel und Entlastung der alten Geschäftsführer zu helfen, wie in ca. 60 Fällen nach entsprechendem Muster praktiziert. Das Vorgehen habe bezweckt, die Rechtsverfolgung gegen die Verantwortlichen zu erschweren und zu verhindern.

Die Vorlage ist entsprechend §§ 4 InsO; 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO im Rahmen eines negativen Kompetenzkonflikts zulässig. Zum zuständigen Gericht war das Amtsgericht Neumünster zu bestimmen.

Maßgeblich für die Beurteilung der örtlichen Zuständigkeit nach § 3 InsO ist der Zeitpunkt des Eingangs des Eröffnungsantrags beim Insolvenzgericht (BayObLG BB 2003, 2370; OLG Frankfurt NJW-RR 2002, 1481; OLG Hamm NZI 2000, 220). Schon auf Grund der Angaben im Insolvenzantrag lag entgegen der Auffassung des Amtsgerichts Neumünster der Mittelpunkt einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO am 17.09.2003 nicht im Bezirk des Amtsgerichts Charlottenburg. Selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ist jede auf Gewinnerzielung gerichtete (werbende) Tätigkeit, die nicht in abhängiger Stellung erfolgt (OLG Hamm NZI 2000, 220). Hier hatte die GmbH den Gewerbebetrieb abgemeldet, bestehende Arbeitsverhältnisse aufgelöst und die angemieteten Räumlichkeiten aufgegeben. Nach allem übte sie keine werbende Tätigkeit mehr aus. Unter diesen Umständen begründet nach fast einhelliger Auffassung der obergerichtlichen Rechtsprechung die Bestellung eines neuen Geschäftsführers mit der Aufgabe der Durchführung und Abwicklung eines Insolvenzverfahrens - wie hier geschehen - für sich genommen keine Zuständigkeit am Wohnsitz des Geschäftsführers, und zwar auch dann nicht, wenn er die Geschäftsbücher und Unterlagen dorthin mitgenommen hat (BayObLG BB 2003, 2370; ZIP 2003, 1305; OLG Frankfurt NJW-RR 2002, 1481; OLG Celle NdsRPfl 2000, 250; OLG Köln ZIP 2000, 672; OLG Düsseldorf NZI 2000, 691; OLG Hamm ZinsO 1999, 533; Ganter in Münchener-Kommentar, InsO, 2001, § 3 Rn. 8 m.w.Nw.; a.A. OLG Braunschweig ZIP 2000, 1118: ausreichend Abwicklungstätigkeit mit Außenwirkung). Für das Insolvenzverfahren einer GmbH, die ihre werbende Tätigkeit bereits vor Stellung des Insolvenzantrags eingestellt hat, ist aber nach §§ 3 Abs. 1 Satz 1; 4 InsO; 12, 17 ZPO; 3 Abs. 1 Nr. 1, 4 a, 7 Abs. 1, 10 GmbHG ausschließlich das Insolvenzgericht zuständig, in dessen Bezirk die Schuldnerin ihren satzungsmäßig festgelegten Sitz hat. Das war hier - da die GmbH insoweit keine Änderung beschlossen und hatte eintragen lassen - für Eckernförde das (nach allem zu Unrecht verweisende) Amtsgericht Neumünster.

Auch im Verfahren der Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ist die Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO zu beachten. Diese sind grundsätzlich bindend, auch wenn sie auf einem Rechtsirrtum des verweisenden Gerichts beruhen oder sonst fehlerhaft sind. Jedoch kann ein Verweisungsbeschluß ausnahmsweise dann nicht als verbindlich hingenommen werden, wenn er auf Willkür beruht, weil ihm jede rechtliche Grundlage fehlt (BGH NJW 1993, 1273). So liegt es hier. Dabei kann offen bleiben, ob schon ein Abweichen von einer "fast einhelligen" Meinung bei anderweit noch vertretener und vertretbarer anderer Meinung allein ausreicht, um die Annahme von Willkür zu begründen (für den Fall der Verweisung im Insolvenzfall verneinend Senat seit Beschluß vom 9.08.1999 NJW-RR 2000, 349; OLG Braunschweig ZIP 2000, 118; OLG Celle NdsRpfl 2000, 250; OLG Köln ZIP 2000, 672). Die insoweit bejahende Auffassung (so wohl BayObLG ZIP 2003, 1305) erscheint möglicherweise im Hinblick auf die dem deutschen Recht grundsätzlich fremde Präjudizienbindung bedenklich (BGH NJW-RR 2002, 1498; NJW 2003, 3201). Vorliegend ist Willkür jedenfalls deshalb gegeben, weil das Amtsgericht die Verweisung ohne Ermittlungen nach § 5 Abs. 1 InsO, obwohl für diese Anlaß bestand, und ohne nähere Begründung vorgenommen hat (Senat, Beschluß vom 26.09.2003, 2 W 157/03; OLG Hamm ZInsO 1999, 533, NZI 2000, 220; OLG Braunschweig ZIP 2000, 1118; BayObLG BB 2003, 2370). Hätte es pflichtgemäß ermittelt, so wäre zu Tage getreten, daß der Geschäftsführer C oder eine Wirtschaftsberatungsgesellschaft in Berlin tatsächlich keine irgendwie geartete Abwicklungstätigkeit ausgeübt hat und eine solche auch nach weiterer Übertragung der Geschäftsanteile und einem weiteren Geschäftsführerwechsel gemäß notariellem Vertrag vom 24.09.2003 nicht festzustellen war, vielmehr nach dem Gesamtbild des Vorgangs ein Fall der Gerichtsstandserschleichung im Zuge einer "gewerbsmäßigen Firmenbestattung" (BayObLG BB 2003, 2370) gegeben war. Dabei kann nicht außer Betracht bleiben, daß das Problem der Gerichtsstandserschleichung seit geraumer Weile diskutiert wird (vgl. schon Ganter in Münchener-Kommentar, § 3 Rn. 38 ff.) und nach Ablauf längerer Zeit nunmehr davon auszugehen ist, daß durch Presseveröffentlichungen und die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen insoweit - gerade bei Insolvenzgerichten - ein geschärftes Bewußtsein erwachsen ist. Insoweit sieht sich der Senat veranlaßt, seine in den Beschlüssen vom 28.07.2003 - 2 W 117/03 - und vom 26.09.2003 - 2 W 157/03 - vertretene Auffassung zu modifizieren. Als erkennbare Umstände, die im Licht dieser Entwicklung jedenfalls in ihrer Gesamtheit den Verdacht einer Erschleichung nahe legten, waren schon zur Zeit der Antragsschrift gegeben: Die zeitliche Nähe zwischen Gesellschaftsvertrag vom 1.07.2003 und Insolvenzantrag vom 10.09.2003. Gerade auf dem seit geraumer Weile notleidenden Bausektor läßt sich häufig schon vor Ablauf der dreiwöchigen Frist gemäß § 64 GmbHG (vgl. zu deren möglichen Bedeutung in solchen Fällen BGH WM 1996, 933) abschätzen, daß ernsthaft mit einem Insolvenzfall zu rechnen ist. Nach Ziff. III Abs. 3 des Gesellschaftsvertrages gab der Erwerber eine Zusicherung über den Fortgang der Gesellschaft nicht ab, nach Ziff. IV sollte ein "eventueller" Kaufpreis für die übertragenen Geschäftsanteile Gegenstand einer gesonderten - nicht vorliegenden - Vereinbarung sein. Auffällig im Zusammenhang mit den zeitlichen Verhältnissen war ferner die Änderung des Firmennamens, die auf die Absicht, die Realisierung der Gläubigerrechte zu erschweren, hindeuten konnte. Ins Auge fällt weiterhin, daß eine nicht namentlich benannte "Wirtschaftsberatungsgesellschaft" - statt des Geschäftsführers selbst - Post und Zustellungen entgegennehmen und "Ansprechpartner für ehemalige Mitarbeiter, Gläubiger, Rechtsanwälte, Gerichtsvollzieher und Behörden" sein sollte. Insoweit mutet auch als befremdlich an, daß diese Gesellschaft in großer Entfernung vom beibehaltenen Firmensitz nach angeblich bereits erfolgter Auflösung der Arbeitsverhältnisse und Aufgabe der angemieteten Räumlichkeiten ein neues Unternehmenskonzept prüfen sollte. Der äußerst umfangreiche Katalog der "aktiven Abwicklungstätigkeiten" stellt sich als eine auffällig allgemein gehaltene Aufzählung von typischen, im Rahmen der Abwicklung einer Insolvenz zu erledigenden Aufgaben ohne jeden konkreten Bezug zur Schuldnerin dar. Schon eine Nachfrage beim Geschäftsführer hätte ergeben, daß diesem entgegen seinen Angaben überhaupt nicht bekannt war, ob überhaupt Mietverträge und Arbeitsverhältnisse bestanden, er ferner über Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten der Schuldnerin gar nicht orientiert war (vgl. Auskunft vom 20.11.2003). Angesichts dieser Umstände ist es willkürlich, wenn das Insolvenzgericht ohne weitere Ermittlungen den eigentlich Verantwortlichen ermöglicht, sich durch die Erschleichung eines vom Sitz der Gesellschaft entfernten Gerichtsstandes "aus der Haftung zu stehlen" (BayObLG BB 2003, 2370).

Ende der Entscheidung

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