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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Beschluss verkündet am 20.08.2007
Aktenzeichen: 2 Ws 343/07
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 230 Abs. 2
Hält das Gericht ein zur Entschuldigung seines Ausbleibens in der Hauptverhandlung vom Angeklagten eingereichtes ärztliches Attest für nicht hinreichend aussagekräftig, so muss es - soweit Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Ausbleiben entschuldigt sein kann - dem vor Erlass eines Haftbefehls (§ 230 II StPO) selbst durch Ermittlungen weiter nachgehen; verbleibende Zweifel dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen.
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht II. Strafsenat Beschluss

2 Ws 343/07 (186/07)

in der Strafsache

wegen räuberischer Erpressung

Auf die weitere Beschwerde des Angeklagten vom 27. Juli 2007 gegen den Beschluss der X. Großen Strafkammer des Landgerichts Kiel vom 23. Juli 2007 - 46 Qs 589 Js 47794/01 (43/07) -, mit dem die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Kiel vom 24. Mai 2007 - 39 Ls 589 Js 47794/01 (4/05) - verworfen worden ist, hat der II. Strafsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig nach Anhörung der Staatsanwaltschaft am 20. August 2007 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Angeklagten werden der Beschluss der X. Großen Strafkammer, 46 Qs 43/07, vom 22. Juli 2007 sowie der Haftbefehl des Amtsgerichts Kiel, 39 Ls 589 Js 47794/01 (4/05) vom 24. Mai 2007, ergänzt durch Nichtabhilfebeschluss vom 17. Juli 2007, aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

I.

Der vom Amtsgericht, Schöffengericht, am 18. April 2007 zum Hauptverhandlungstermin an 24. Mai 2007 für 9.00 Uhr geladene Angeklagte ließ über seine Freundin dem Amtsgericht am 24. Mai 2007 um 8.24 Uhr telefonisch mitteilen, dass er zum Termin nicht kommen könne. In der Nacht sei ein Notarzt bei ihm gewesen, der eine Bescheinigung ausgestellt habe. Der Angeklagte befinde sich nicht in einer Klinik, sondern zu Hause, habe Rückenprobleme und könne sich nicht bewegen. Parallel dazu ging per Telefax bei dem Amtsgericht eine Bescheidung des Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl. med. X. ein, die überschrieben ist mit "Mitteilung für den weiterbehandelnden Arzt" und über dessen Besuch bei dem Angeklagten im organisierten Notdienst berichtet am 24. Mai 2007 um 00.05 Uhr. Als Abrechnungsdiagnose ist dort angegeben "Blockierung LWS", unter der Rubrik "Befunde und Therapie" finden sich u.a. die Angaben

"Patient klagt über Rückenschmerzen, kann sich nicht drehen ... 2 Tabl. Diclac 75".

Der im Formular vorgesehenen Möglichkeit, die Rubrik "arbeitsunfähig" anzukreuzen, kam Herr X., der ausweislich seines Stempels auch Diplomosteopath und Chirotherapeut ist, nicht nach. Als Anschrift des Versicherten führt die Bescheinigung die Adresse .... H. auf.

Während der Sitzung ließ das Amtsgericht die Polizei in H. die Anschriften ... und ... Straße überprüfen. In beiden Wohnungen wurden nach Mitteilung des beauftragten Polizeibeamten auf Klingeln die Türen nicht geöffnet, ein Anruf bei der von der Freundin des Angeklagten auf Bitte des Amtsgerichts hinterlassenen Handytelefonnummer habe keinen Erfolg gehabt, es sei niemand ans Telefon gegangen.

Das Gericht verkündete daraufhin in der Sitzung vom 24. Mai 2007 einen Haftbefehl gegen den Angeklagten unter Hinweis auf den Haftgrund des § 230 Abs. 2 StPO, den es im Wesentlichen wie folgt begründete: Die vorgelegte Mitteilung für den weiterbehandelnden Arzt und die telefonische Mitteilung über sein Nichterscheinen durch die Freundin stellten vor dem Hintergrund weiterer durch Freibeweis erhobener Umstände keine ausreichende Entschuldigung des Angeklagten dar. Die Mitteilung weise keine Verhandlungsunfähigkeit aus, sondern nur die gegenüber dem Notdienst geschilderten Angaben. Auf Klingeln an der Wohnungstür sei weder unter der Anschrift ...in H. noch unter der Ladungsanschrift geöffnet worden. Auch sei der Angeklagte entgegen der von Geschäftsstelle gegenüber seiner Freundin erbetenen telefonischen Erreichbarkeit über Handy nicht erreichbar gewesen. Diese Umstände ließen die geltend gemachten Hinderungsgründe als nicht ausreichende Entschuldigung erscheinen.

Am Nachmittag des 24. Mai 2007 ging bei dem Amtsgericht ein ärztliches Attest des Internisten Y. vom 24. Mai 2007 per Telefax ein. Es lautet:

"Herr Z. , geb. 05.07.1967, befindet sich in meiner hausärztlich-internistischen Betreuung. Herr Z. ist akut erkrankt. Er ist am 24.05. und am 25.05.07 nicht verhandlungsunfähig."

Der Angeklagte ließ am 17. Juli 2007 mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 16. Juli 2007 gegen den Haftbefehl Beschwerde einlegen und zur Begründung vortragen, dass er im Sinne des § 230 Abs. 2 StPO hinreichend entschuldigt sei. Das ärztliche Attest des Dipl. med. X. belege, dass er sich nicht habe bewegen können. Die Tatsache, dass auf Klopfen an seiner Tür nicht geöffnet worden sei, möge verschiedene Gründe haben, möglicherweise habe er geschlafen oder sei bewegungsunfähig gewesen oder habe sich im Zeitpunkt der Überprüfung beim Arzt oder im Krankenhaus befunden. Jedenfalls ergebe sich aus dem nachgereichten ärztlichen Attest des Facharztes Y. vom 24. Mai 2007 seine Verhandlungsunfähigkeit. Der Haftbefehl sei aufzuheben.

Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und in seinem Beschluss vom 17. Juli 2007 ergänzend darauf hingewiesen, dass Herr Dipl. med. X. dem Angeklagten ausweislich seiner Mitteilung ein Medikament ausgehändigt habe, so dass eine mangelnde Beweglichkeit des Angeklagten auch behoben worden sein könne. Darüber hinaus weise das ärztliche Attest vom 24. Mai 2007 ausdrücklich aus, dass der Angeklagte nicht verhandlungsunfähig sei.

Das Landgericht hat die Zurückweisung der Beschwerde des Angeklagten in seinem Beschluss vom 23. Juli 2007 darauf gestützt, dass sein Fernbleiben in der Hauptverhandlung nicht genügend entschuldigt sei. Der Umstand, dass der Angeklagte in der Nacht des 24. Mai 2007 Rückenschmerzen gehabt und zur Therapie handelsübliche Schmerztabletten erhalten habe, besage nichts über dessen Fähigkeit, im Laufe des Tages nach Kiel zu reisen, um an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Das mit der Beschwerde eingereichte Attest sei sprachlich missverständlich. Auch wenn man es sinngemäß dahingehend verstehe, dass Verhandlungsunfähigkeit am 24. und 25. Mai 2007 attestiert habe werden sollen, reiche dies für die Entschuldigung nicht aus. Denn das Attest enthalte außer der genannten Wertung keine Tatsachen, aus denen diese Wertung nachvollziehbar gefolgert werden könne. Es fänden sich weder Angaben zur konkreten Art der behaupteten akuten Erkrankung noch die Mitteilung konkreter Symptome, aus denen die Unfähigkeit des Angeklagten zur Reise nach K. und zur Teilnahme an der Verhandlung am 24. Mai 2007 hergeleitet werden könnte.

Gegen diesen Beschluss hat der Angeklagte über seine Verteidigerin mit am 27. Juli 2007 bei dem Landgericht Kiel eingegangenem Telefax weitere Beschwerde eingelegt unter Beifügung eines korrigierten Attestes des Arztes Y. vom 24. Mai 2007, in dem es nunmehr u. a. heißt:

"... Er ist am 24.05. und am 25.05.07 verhandlungsunfähig."

Das Landgericht hat der weiteren Beschwerde mit Beschluss vom 30. Juli 2007 nicht abgeholfen und die weitere Beschwerde dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die nach den §§ 310 Abs. 1 Nr. 1, 230 Abs. 2 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige weitere Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache Erfolg, was zur Aufhebung des Haftbefehls des Amtsgerichts sowie zur Aufhebung des diesen be-stätigenden Beschlusses des Beschwerdegerichts führen muss.

Der Haftbefehl vom 24. Mai 2007 hätte in entsprechender Anwendung von § 51 Abs. 2 S. 3 StPO jedenfalls nach Vorliegen des ärztlichen Attestes des Internisten Peter Y. vom 24. Mai 2007 aufgehoben werden müssen. Das Ausbleiben des Angeklagten im Hauptverhandlungstermin vom 24. Mai 2007 ist auf der Grundlage der "Mitteilung für den weiterbehandelnden Arzt" des Dipl. med. X. vom 24. Mai 2007, der telefonischen Entschuldigung des Angeklagten durch dessen Freundin kurz vor dem Hauptverhandlungstermin sowie des ärztliche Attests des Internisten Y. vom 24. Mai 2007 i.S.d. § 230 Abs. 2 StPO genügend entschuldigt. Für die Beurteilung der genügenden Entschuldigung des Ausbleibens im Rahmen von § 230 Abs. 2 StPO kommt es nicht darauf an, ob sich der Angeklagte hinreichend entschuldigt hat, sondern ob der Angeklagte entschuldigt ist, dem Angeklagten also wegen seines Ausbleibens unter Abwägung aller Umstände des Falles billigerweise ein Vorwurf nicht gemacht werden kann (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., 2006, § 230 StPO Rn. 60 sowie § 329 StPO Rn. 21 ff. m.w.N.). Krankheit entschuldigt, wenn sie nach Art und Auswirkungen eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar macht (vgl. Beschluss des I. Strafsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 29. Dezember 2004 - 1 Ws 456/04 (147/04) - SchlHA 2005, 258; Meyer-Goßner, a.a.O., § 329 StPO, Rdnr. 26 jeweils m.w.N.).

Dem Angeklagten war es aufgrund einer schmerzhaften und seine Beweglichkeit beeinträchtigenden Blockade der Lendenwirbelsäule nicht zuzumuten, an der Hauptverhandlung vom 24. Mai 2007 teilzunehmen. Der Befund einer schmerzhaften und die Beweglichkeit einschränkenden ("kann sich nicht drehen") Blockade der Lendenwirbelsäule des Angeklagten ergibt sich aus der Mitteilung des Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl. med. X. vom 24. Mai 2007. Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit dieses Befundes oder die Unglaubhaftigkeit des Attestes sind nicht ersichtlich. Aus dem Umstand, dass in der Mitteilung die Rubrik "arbeitsunfähig" nicht angekreuzt worden ist, lässt sich nicht der Umkehrschluss ziehen, dass der Arzt im Notdienst diese Eintragung bewusst nicht vorgenommen hat, weil am 24. Mai 2007 um 0.05 Uhr Arbeitsfähigkeit des Angeklagten vorgelegen hat. Denn es mag für den Arzt im nächtlichen Notdienst kein Anlass bestanden haben, hierzu überhaupt Feststellungen zu treffen, zumal er von einer Weiterbehandlung durch den Hausarzt oder einen Orthopäden ausgegangen sein dürfte. Für eine erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung des Angeklagten spricht in gewisser Weise weiterhin der morgendliche Anruf der Freundin des Angeklagten, wenn auch nicht zu verkennen ist, dass diese im Lager des Angeklagten gestanden haben dürfte. Aus dem Umstand, dass auf Klingeln eines Polizeibeamten die Haustüren der Wohnungen ... und ... in H. nicht geöffnet wurden und die Freundin des Angeklagten telefonisch nicht erreichbar war, kann nicht auf eine Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten geschlossen werden. Denn der Angeklagte war nicht gehalten, die Tür zu öffnen oder kann sich auch wegen eines Arztbesuchs nicht in einer der Wohnungen aufgehalten haben.

Die Unzumutbarkeit der Teilnahme an der Hauptverhandlung für den Angeklagten aufgrund der sich aus dem Befund des Dipl. med. X. ergebenden Beschwerden folgt weiter aus dem ärztlichen Attest des Internisten Y. vom 24. Mai 2007, das bei der gebotenen Interpretation die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten für den 24. und 25. Mai 2007 bestätigt und bei dem Amtsgericht nach der Verkündung des Haftbefehlsbeschlusses einging. Bei der vorzunehmenden Würdigung seines Inhalts liegt es auf der Hand, dass die doppelte Verneinung der Verhandlungsfähigkeit auf einen Schreibfehler zurückzuführen ist und der Verfasser tatsächlich die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten attestieren wollte, was mit der Begründung der weiteren Beschwerde durch Übersendung einer berichtigten Fassung des Attests entsprechend korrigiert worden ist.

In diesem Fall ist es weiterhin unschädlich, dass dem Attest - abgesehen von der Mitteilung einer akuten Erkrankung des Angeklagten und der Mitteilung, dass der Angeklagte verhandlungsunfähig sei - ein Befund sowie Mitteilungen über Auswirkungen der Erkrankung nicht zu entnehmen sind. Allerdings hat das Gericht und nicht der behandelnde Arzt über die Frage der Verhandlungsunfähigkeit eines Angeklagten zu befinden, dessen Aufgabe es ist, dem Gericht die tatsächlichen Grundlagen durch möglichst genaue Angaben zum medizinischen Befund und der Begleitumstände seiner Erhebung mitzuteilen (vgl. KG, Beschluss vom 04. Oktober 1999 - 3 WS 512/99 - juris Datenbank; Beschluss des I. Strafsenats vom 29. Dezember 2004, aaO). Hier waren jedoch der Befund der Blockade der Lendenwirbelsäule bei dem Angeklagten und eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung als deren Folge bereits aus der ärztlichen Mitteilung des Dipl. med. X. vom gleichen Tage bekannt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass es sich bei der vom Internisten Y.festgestellten akuten Erkrankung, die aus dessen ärztlichen Sicht zur Verhandlungsunfähigkeit führte, nicht um die von Herrn Dipl. med. X. diagnostizierte Blockade der Lendenwirbelsäule handelte. Vor diesem Hintergrund ist auch nicht erkennbar, dass die vom Dipl. med. X. ausgegebenen 2 Tabletten die Beschwerden des Angeklagten in einer die Verhandlungsfähigkeit gewährleistenden Weise gelindert haben könnten.

Sollte das Amtsgericht - anders als der Senat - gleichwohl Zweifel an der Verlässlichkeit der Atteste gehabt haben, hätte es vor der Aufrechterhaltung des Haftbefehls jedenfalls weitere Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Angeklagten etwa durch Rückfrage bei dem Internisten Y. anstellen müssen. Wenn einem Gericht konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Ausbleiben des Angeklagten entschuldigt sein kann, so muss es - insoweit unterscheidet sich die Situation von derjenigen bei Glaubhaftmachung der Voraussetzungen eines Wiedereinsetzungsgesuchs (§§ 44, 45 Abs. 2 StPO) - dem selbst durch Ermittlungen im Freibeweis nachgehen, was etwa auch dann gilt, wenn der Angeklagte seine Verhandlungsunfähigkeit mit einer dazu nicht geeigneten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung belegen will (vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 329 StPO, Rdnr. 19). Weitere Nachforschungen des Gerichts bei dem Vorliegen eines aus Sicht des Gerichts nicht hinreichend aussagekräftigen oder aber aus anderen Gründen zweifelhaften ärztlichen Attestes sind durch telefonische oder schriftliche Rückfrage bei dem behandelnden Arztes regelmäßig möglich, zumal in der Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung durch den Angeklagten in der Regel eine konkludente Entbindung des Arztes von seiner Schweigepflicht liegt (vgl. Meyer-Goßner, aaO, § 329 StPO, Rdnr. 19). Hiernach verbleibende Zweifel an der genügenden Entschuldigung dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen (vgl. OLG Frankfurt, NJW 1988, 2965; OLG Köln, NJW 1993, 1345 f.; KG vom 24. November 1999, Az. 4 Ws 264/99 - juris Datenbank; LG Dresden vom 29. Dezember 2006, 3 Qs 155/06, 3 Qs 160/06 - juris Datenbank; Meyer-Goßner, aaO, § 329 StPO, Rdnr. 22).

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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