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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Schleswig
Urteil verkündet am 28.09.2007
Aktenzeichen: 4 U 34/06
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 249
BGB § 823
1. Allein die nächtliche Rufbereitschaft der Eltern eines 16jährigen behinderten Kindes stellt noch keine kommerzialisierbare Leistung dar.

2. Für die Berücksichtigung der auch für ein gesundes Kind zu leistenden Pflege können die Richtlinien der Pflegeversicherung ein angemessener Maßstab sein.

3. Die Vergütung für pflegerische Hilfskräfte im Gesundheitswesen ist ein geeigneter Maßstab für den zu ersetzenden Schaden. Bei Schwerstpflege kann auch im Einzelfall eine darüber liegende Vergütung angemessen sein.


Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht Im Namen des Volkes Urteil

4 U 34/06

verkündet am: 28.09.2007

In dem Rechtsstreit

hat der 4. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig auf die mündliche Verhandlung vom 16.05.2007 für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 10. Februar 2006 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Kiel unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen geändert und wie folgt neu gefasst:

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 45.230,00 € nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 20.5.2003 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen trägt der Beklagte 1/10, der Kläger 9/10.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Dem Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung in Höhe von 110% des beizutreibenden Betrages abzuwenden, sofern nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe:

I.

Der am 5.5.1986 geborene Kläger ist aufgrund ärztlicher Behandlungsfehler bei seiner Geburt sowie bei der postpartalen Versorgung schwerstbehindert. Durch Urteil des Senats vom 11.11.1998 ist u.a. die Schadensersatzpflicht des Beklagten, seinerzeit Träger des Kreiskrankenhauses K., für sämtliche materiellen Schäden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind, festgestellt worden. Mit der Klage macht der Kläger den Pflegemehraufwand aufgrund seiner Behinderung seit Geburt geltend.

Der Kläger leidet u.a. an einer Cerebralparese, kann sich nicht eigenständig bewegen und wird über eine PEG- Sonde ernährt, es besteht Urin- und Stuhlinkontinenz. Wegen der Einzelheiten seiner Behinderungen wird auf das Gutachten der Privatgutachterin P. vom 2.9.2007, Blatt 23 ff. der Akten, verwiesen.

Seine Klage über 479.297,50 € nebst Zinsen ist nach Einholung eines schriftlichen Gutachtens der Sachverständigen R. vom 1.7.2005, Blatt 268 ff. der Akten, sowie deren Anhörung im Termin am 13.12.2005 mit der Begründung abgewiesen worden, über die bereits erbrachten Leistungen hinaus in Höhe von 193.726,36 € durch den Beklagten sowie in Höhe von 100.132,74 € durch die Pflegeversicherung bestehe kein weiterer Anspruch.

Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung und beantragt,

das am 10.2.2006 verkündete Urteil des Landgerichts Kiel, 8. Zivilkammer, Geschäftsnummer 8 O 29/03, aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, an ihn 479.297,50 € nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit Klageerhebung zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger wendet sich im Wesentlichen gegen die Bewertung/Berechnung des Landgerichts bezüglich der in der Nacht zu erbringenden Pflege sowie die Höhe des zu berücksichtigenden Abzugs für die Pflege eines gesunden Kindes. Der Beklagte ist der Auffassung, das Landgericht habe darüber hinaus den täglichen Pflegebedarf, soweit dieser auf die Morgen- und Abendtoilette, Zwischenmahlzeiten, Wege im Haus und Spaziergangsvorbereitung usw. entfalle, zu hoch bewertet. Auch sei der Abzug für den außerhalb des Hauses aufgebrachten Pflegeaufwand während des Aufenthalts des Klägers in Kindergarten und Schule zu gering.

Im übrigen wird vollinhaltlich auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen. Die im zweiten Rechtszug gewechselten Schriftsätze waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

II.

Die Berufung hat teilweise Erfolg.

1. a. Keine Bedenken bestehen, soweit das Landgericht bei der Ermittlung des täglichen Pflegebedarfs dem Gutachten der Sachverständigen R. gefolgt ist. Das Gutachten ist gut nachvollziehbar, überzeugend, Unstimmigkeiten bzw. Unklarheiten hat die Sachverständige in ihrer Anhörung vor dem Landgericht näher erläutert und richtig gestellt. Dies hat das Landgericht auch in seinem Urteil (Ziff. 1 a. - m.) auch berücksichtigt. Die Ausführungen des Beklagten zu dem unter Ziff. 1 a. - m. angesetzten Pflegeaufwand geben keinen Anlass, an diesen Bewertungen etwas zu ändern. Die Sachverständige hat ihrer Ermittlung des Pflegebedarfs den täglichen Ablauf der Pflege des Klägers durch seine Eltern zu Grunde gelegt. Dies ist auch entscheidend, denn gemäß § 249 BGB ist der konkrete Schaden (vgl. Palandt-Heinrichs, BGB, 66. Aufl., vor § 249 Rn. 50; § 843 Rn. 2; jeweils mwN), d.h. der tatsächliche Pflegeaufwand zu ersetzen, nicht aber ein abstrakter Pflegeaufwand, wie die Pflegeversicherung nach erfolgter Einstufung des Pflegebedürftigen in die Kategorien I, II oder III ihren Leistungen zu Grunde legt. Aus diesem Grunde finden auch die Regelungen des SGB XI direkt keine Anwendungen und entwickeln auch keine Bindungswirkung.

b. Allerdings ist der vom Landgericht berücksichtigte nächtliche Pflegeaufwand zu korrigieren. Soweit in Ziffer 1 n lediglich 15 Minuten für die immer wieder auftretenden nächtlichen Unruhezustände des Klägers berücksichtigt sind sowie einmal wöchentlich nachts die Vertretung durch eine Pflegekraft (umgerechnet pro Tag 62 Minuten) als angemessen angesehen wird, ist dies nicht ausreichend. Denn mit dem nächtlichen Pflegeaufwand (Betreuung während der auftretenden Unruhezustände, Inkontinenzversorgung) ist verbunden, dass der betreuende Elternteil auch anschließend wieder zur Ruhe kommen muss und mehr Nachtschlaf versäumt, als mit dem eigentlichen Pflegeaufwand verbunden ist. Dies rechtfertigt, insbesondere zu Zeiten vermehrt auftretender Unruhezustände des Klägers, auch mehr als einmal pro Woche eine nächtliche Pflegekraft hinzuzuziehen. Nach Überzeugung des Senats sind deshalb weitere 45 Minuten (§ 287 ZPO) als nächtlicher Pflegeaufwand zu berücksichtigen.

Nicht zusätzlich zu berücksichtigen ist dagegen die alleinige Rufbereitschaft während der Nacht. Hier handelt es sich, wie das Landgericht schon zutreffend ausgeführt hat, um eine nicht kommerzialisierbare Leistung der Eltern, denn eine Kommerzialisierbarkeit liegt nur vor, wenn für diese Leistung die Einstellung einer fremden Fachkraft bei vernünftiger Betrachtung als Alternative ernstlich infrage gekommen wäre (BGH NJW 1999, 2819; VersR 1978, 149; OLG Karlsruhe VersR 2006, 515). Innerhalb des hier streitbefangenen Zeitraums lebte der Kläger jedoch in seiner Familie, er war zuletzt 16 Jahre alt. Die Einstellung einer fremden Fachkraft lediglich für die Rufbereitschaft stellt damit keine vernünftige Alternative dar, zumal auch in der Regel 16jährige gesunde Kinder noch im Hause ihrer Eltern leben.

Damit errechnet sich ein durchschnittlicher täglicher Pflegeaufwand für den Kläger in Höhe von 617 Minuten (572 Minuten, wie vom Landgericht festgestellt, zuzügl. 45 Minuten, s.o.). Ergänzend wird Bezug genommen auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil zu Ziff. 1. n. letzter Absatz.

2. Es verbleibt bei dem Abzug von 20 Minuten für die Zeit des Kindergarten- und Schulbesuchs, die der Senat wie auch das Landgericht für die Zeit ab 1990 (§ 287 ZPO) berücksichtigt. Der Kläger besuchte zunächst lediglich 2 - 3 Tage wöchentlich für drei Stunden, später täglich für vier Stunden den Kindergarten. Der regelmäßige Schulbesuch (Einschulung erst 1996) umfasste fünf Stunden täglich und dauerte bis zum Ende des hier streitgegenständlichen Zeitraums noch an. Die wesentlichen Pflegetätigkeiten fanden außerhalb dieses Zeitraums statt. Zudem konnte der Kläger, wie den Aufzeichnungen der Familie zu entnehmen ist, immer wieder wegen seines Gesundheitszustandes Kindergarten und Schule nicht besuchen, so dass an diesen Tagen die vollständige Pflege zuhause erfolgte. Deshalb ist entgegen der Auffassung des Beklagten auch kein höherer Abzug für in diesem Zeitraum erbrachte Pflegeleistungen angemessen.

3. Auf die Berufung des Klägers ist jedoch weiter der Abzug, der für die Pflege eines gesunden Kindes erforderlich ist und deshalb vom Pflegeaufwand für den Kläger abzusetzen ist, zu modifizieren. Denn der von der Sachverständigen R. in ihrem schriftlichen Gutachten vom 1.7.2005 festgestellte konkrete Pflegeaufwand für den Kläger berücksichtigt diesen Abzug noch nicht.

Unter Berücksichtigung der Begutachtungsrichtlinien der Pflegeversicherung (siehe Privatgutachten der Sachverständigen P., Aufstellung Blatt 409 ff. der Akten) sind entsprechend dem Alter des Klägers folgende Abzüge beginnend mit dem Jahr 1986 bei der täglichen Pflege zu machen:

295, 258, 158, 142, 127, 112, 96, 78, 61, 43, 25, 8 Minuten.

Dabei sieht der Senat gemäß § 287 ZPO von einer nach Monaten differenzierten Berücksichtigung ab, sondern hat jeweils einen Mittelwert aus den Abzugsbeträgen des ersten und letzten Monats eines jeden Jahres gebildet. Die Abzüge entfallen ab dem Jahr 1998. Zu berücksichtigen ist jedoch durchgehend ein weiterer Abzug von 45 Minuten Haushaltstätigkeit bis ins Jahr 2002, der auf das zu betreuende Kind entfällt. - Nach Auffassung des Senats stellen die Begutachtungsrichtlinien der Pflegeversicherung bezüglich dieses Punktes einen geeigneten Abzugsmaßstab dar, auch wenn im übrigen die Feststellungen der Pflegeversicherung für den aufgrund ärztlicher Behandlungsfehler zu leistenden konkreten Schadensersatz lediglich eine Indizwirkung haben können (vgl. auch Entscheidung des Senats in der Sache 4 U 105/06 vom 7.9.2007).

4. Kein Erfolg hat die Berufung des Klägers, soweit dieser sich gegen den Abzug der Tage wendet, in denen er in der Klinik war und seine Mutter im Rahmen der Klinikaufenthalte Pflegeleistungen für ihn erbracht hat. Insoweit wird auf die überzeugenden Ausführungen im angefochtenen Urteil verwiesen. Auch hier handelt es sich, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, um nicht kommerzialisierbare Leistungen der Eltern (s. Ziff. 1 b.). Die Pflege des Klägers wurde bereits durch die aufnehmende Einrichtung erbracht. Die Mitaufnahme der Mutter diente dazu, dem Kläger das Gefühl der persönlichen Nähe und Zuneigung zu geben.

5. Die Berufung des Klägers hat weiter teilweise Erfolg, soweit er sich gegen die Höhe der vom Landgericht für die Pflegetätigkeit angesetzten Vergütung wendet.

Grundsätzlich hat der Senat keine Bedenken, dieser Berechnung die vom Landgericht eingeholte Auskunft der Gewerkschaft für Beschäftigte im Gesundheitswesen für pflegerische Hilfskräfte (Blatt 204a der Akten) zugrunde zu legen und die Tatsache, dass es sich um Bruttolöhne handelt, mit einem Abschlag von 30% zu berücksichtigen.

Der Kläger ist jedoch ein Schwerstpflegefall. Er kann sich nicht eigenständig bewegen und sitzt tagsüber im Rollstuhl. Es besteht Urin- und Stuhlinkontinenz bei zeitweilig dünnflüssigem Stuhlgang. Er leidet an Krampfanfällen und hat täglich auftretende Unruhezustände. Er bedarf der Hilfe bei allen täglichen Verrichtungen und muss ständig beaufsichtigt werden. Nach Überzeugung des Senats ist unter diesen Umständen für die Pflege zwar nicht, wie der Kläger anführt, der Lohn einer voll ausgebildeten Krankenschwester zu veranschlagen. Die in diesem besonderen Fall äußerst aufwändige Tätigkeit berücksichtigt der Senat jedoch, indem er vom Bruttolohn lediglich einen Abschlag von lediglich 20% als angemessen erachtet, so dass sich für die einzelnen Jahre nachfolgende Stundenlöhne ergeben (§ 287 ZPO - siehe Ausgangsberechnungen des Landgerichts Ziff. 7 der Urteilsgründe):

 1986, 1987:5,45 €1991:6,74 €1995 - 1997:7,70 €
1988:5,58 €1992:7,11 €1998:7,86 €
1989:6,07 €1993:7,29 €1999:8,18 €
1990:6,26 €1994:7,47 €2000 - 2002:8,54 €

6. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen berechnet sich der Pflegemehrbedarf des Klägers wie folgt:

1986:

Da der Kläger am 5.5.1986 geboren wurde, entfallen auf das Jahr 235 Tage, von denen er 76 in der Klinik verbrachte, so dass 159 Tage verbleiben. Bei Berücksichtigung eines Pflegebedarfs von 617 Minuten pro Tag (s.o.), dem Abzug der für ein gesundes Kind zu erbringenden Pflegeleistung von 295 Minuten zuzüglich 45 Minuten Haushaltstätigkeit (und noch ohne Berücksichtigung eines Abzugs für Kindergarten-/Schulbesuch) verbleibt ein täglicher Pflegebedarf von 277 Minuten. Berechnet aufs Jahr ergibt dies einen Pflegeaufwand von 734,05 Stunden, so dass sich unter Berücksichtigung eines Stundenlohnes von 5,45 € (s.o.) ein Jahresbetrag von 3.999,10 € errechnet. Dabei liegt (wegen der Länge des Zeitraums und der sich ständig ändernden Parameter) der Berechnung eine Exceltabelle zu Grunde, die jeweils mit mehreren Stellen hinter dem Komma rechnet, so dass der vorgenannte Betrag geringfügig unter dem Betrag liegt, der sich aus einer Berechnung mit gerundeten Summen ergeben würde.

Nach der vorstehenden Berechnung ergeben sich für die nachfolgenden Jahre folgende Beträge:

 198710.406,59 € 
198812.927,40 € 
198915.143,57 € 
199016.174,37 €Ab diesem Jahr ist der Kindergarten/Schule berücksichtigt
199114.391,70 €In diesem Jahr war der Kläger 74 Tage in der Klinik
199217.836,90 € 
199321.014,95 € 
199420.545,01 € 
199520.456,30 € 
199624.698,38 € 
1997 19.338,34 €In diesem Jahr war der Kläger 88 Tage in der Klinik
199825.177,38 €Ab diesem Jahr entfällt der Abzug für die Betreuung eines gesunden Kindes, der Abzug für die Haushaltstätigkeit (45 Min.) verbleibt
199944.521,46 € 
200026.386,48 € 
200119.397,21 €In diesem Jahr war der Kläger 118 Tage in der Klinik
200228.663,89 € 
   
Gesamtsumme321.089,02 €

Über die weiter zusätzlich vom Kläger geltend gemachten Schadensersatzansprüchen (Ziff. 8 der Urteilsgründe) haben sich die Parteien auf einen Betrag von 18.000 € verglichen. Unter Berücksichtigung der Zahlung der Beklagten in Höhe von 193.726,36 € sowie die der Pflegeversicherung in Höhe von 100.132,74 € verbleibt ein noch offener Anspruch des Klägers in Höhe von 45.230,00 €.

Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 92, 97, 708 Nummer 10, 711, 543 Abs. 2 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen ersichtlich nicht vor.

Ende der Entscheidung

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