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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 28.06.2000
Aktenzeichen: 1 Ws 125/00
Rechtsgebiete: StPO, BRAO, BORA


Vorschriften:

StPO § 142 Abs. 1 Satz 3
BRAO § 43 a Abs. 4
BORA § 3 Abs. 2
Die Verteidigung mehrerer der selben Tat Beschuldigter in einem Verfahren bewirkt regelmäßig einen strukturellen Interessenkonflikt zwischen den Mitgliedern einer Anwaltssozietät. Die Bestellung eines Sozietätsmitglieds zum Pflichtverteidiger eines Beschuldigten ist daher unzulässig, wenn ein Interessenkonflikt nicht ausnahmsweise von vorne herein ausgeschlossen werden kann.
Geschäftsnummer: 1 Ws 125/00 14 ARs 4/00 LG Stuttgart 201 Js 82491/99 StA Stuttgart

Oberlandesgericht Stuttgart - 1. Strafsenat -

Beschluss

vom 28. Juni 2000

in der Strafsache gegen

wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern,

Tenor:

Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Stuttgart wird die Verfügung des Vorsitzenden der 14. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart vom 15. Juni 2000 aufgehoben.

Der Beschuldigte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe:

I.

Dem von Rechtsanwalt F. aus H. verteidigten Beschuldigten K., der sich aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart vom 19. Januar 2000 seit dem 23. Januar 2000 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart befindet, werden neun Verbrechen des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern (§§ 92 Abs. 1 Nr. 1 und 6, 92 a, 92 b AuslG) zur Last gelegt. Das noch andauernde Ermittlungsverfahren wird auch gegen neun weitere Beschuldigte geführt, von denen einer - R. S. - durch den Wahlverteidiger Rechtsanwalt K. aus K. verteidigt wird, der Sozietätskollege von Rechtsanwalt F. ist.

Der Beschuldigte K. räumt zwar ein, bei ca. zehn bis zwölf Fahrten mit Kraftfahrzeugen, die er angemietet hatte, Tamilen in die Bundesrepublik Deutschland verbracht und zu Kanalhäfen in Belgien und Frankreich gefahren zu haben; es habe sich jedoch um Touristen und Besucher von Verwandten gehandelt, die ein Visum gehabt hätten; illegal eingeschleust habe er niemanden.

Am 07. Juni 2000 beantragte Rechtsanwalt F., der bereits seit dem 03. Mai 2000 Verteidigervollmacht hatte, entsprechend dem schriftlich geäußerten Wunsch des Beschuldigten K. diesem als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Hiergegen wandte sich die Staatsanwaltschaft mit dem Argument, der Mitbeschuldigte S., ein mutmaßliches weiteres Bandenmitglied, werde bereits von Rechtsanwalt K. verteidigt; eine gemeinsame Anklageerhebung beim Landgericht Stuttgart sei beabsichtigt. Mit der angefochtenen Verfügung vom 15. Juni 2000 bestellte der (stellvertretende) Vorsitzende der 14. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart Rechtsanwalt F. antragsgemäß zum Pflichtverteidiger. Er hob darauf ab, dass eine Bestellung nur dann ausgeschlossen sei, wenn deutliche Hinweise dafür vorlägen, dass der durch die Verteidigerstellung des Sozietätskollegen mögliche Interessenkonflikt sich real manifestiert habe. Eine andere Betrachtungsweise widerspreche der vom Bundesgerichtshof mehrfach ausgesprochenen Gleichstellung des Pflichtverteidigers mit dem Wahlverteidiger. Das Gericht habe grundsätzlich weder die Pflicht noch das Recht, den Pflichtverteidiger zu überwachen, zu kontrollieren und seine Tätigkeit zu bewerten. Konkrete Anhaltspunkte für eine pflichtwidrige, sachwidrig an den Interessen des Mitbeschuldigten oder der Sozietät orientierten Verteidigungsstrategie seien hier nicht ersichtlich.

II.

Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig (§ 304 Abs. 1 StPO); § 305 Satz 1 StPO steht nicht entgegen, da die Bestellung eines Verteidigers über die Urteilsfällung hinaus reicht. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat auch in der Sache Erfolg, da der Vorsitzende bei der Bestellung von Rechtsanwalt F. zum Pflichtverteidiger sein Auswahlermessen in rechtsfehlerhafter Weise ausgeübt hat.

1. Nach § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO bestellt der Vorsitzende den vom Beschuldigten bezeichneten Rechtsanwalt (§ 142 Abs. 1 Satz 2 StPO), wenn nicht wichtige Gründe entgegenstehen. Ein solcher wichtiger Grund ergibt sich hier beim derzeitigen Verfahrensstand im Hinblick auf §§ 43 a Abs. 4 BRAO, 3 Abs. 2 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) daraus, dass Rechtsanwalt K. als Kanzleikollege des Rechtsanwalts F. bereits Wahlverteidiger des Beschuldigten S. ist. Damit verstößt die Bestellung des Rechtsanwalts F. zum Verteidiger des Beschuldigten K. gegen das grundsätzliche Verbot, dass Mitglieder einer Anwaltssozietät in einem Verfahren nicht zwei wegen der selben Tat Beschuldigte verteidigen dürfen, wenn einer davon Pflichtverteidiger ist. Mag auch mit dem Oberlandesgericht Frankfurt (StV 1999, 199, 201) sowie Lüderssen (StV 1998, 357) und Kleine-Cosack (Anwaltsblatt 1998, 417, 423) die Verfassungsmäßigkeit von § 3 Abs. 2 BORA in Zweifel gezogen werden, da diese als Teil einer berufsständischen Satzung in ihrem Regelungsinhalt zu weit greife und damit unzulässige "Berufsverbote" statuiere, so ist diese Regelung jedenfalls Ausdruck einer langen berufsständischen Erfahrung der Anwaltschaft. Diese Erfahrung darf bei der Ausübung des dem Vorsitzenden bei der Verteidigerbestellung zustehenden Auswahlermessens nicht unberücksichtigt bleiben, weil sonst das Ziel der Verteidigerbestellung, dem Beschuldigten einen geeigneten Rechtsbeistand zu sichern und einen prozessordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zu gewährleisten (vgl. BVerfG NStZ 1998, 46 = StV 1998, 356; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Auflage, § 142 Rdnr. 14) verfehlt würde. Die Fürsorgepflicht des Vorsitzenden verbietet es grundsätzlich, einen Verteidiger zu bestellen, der wegen eines Interessenkonflikts die Verteidigung möglicherweise nicht mit vollem Einsatz führen kann (vgl. BGH NJW 1992, 1841).

2. Die Beschuldigten K. und S. haben im vorliegenden Ermittlungsverfahren, in dem S. eine inhaltlich ähnliche bestreitende Einlassung wie K. abgegeben hat, grundsätzlich gegenläufige Interessen; es besteht ein strukturell bedingter Interessenwiderstreit. Denn je nach dem, welcher Anteil an der Planung, Vorbereitung und Durchführung der Tat und welcher Anteil am Taterlös jedem der Beschuldigten, die der bandenmäßigen Tatbegehung verdächtig sind, zugeordnet wird, vergrößert sich die Schuld des einen und verringert sich zugleich die Schuld des anderen (oder umgekehrt), was erhebliche Auswirkungen auf den Strafausspruch hat. Durch diesen Interessenkonflikt kann auch ein gleichermaßen strukturell bedingter Interessenwiderstreit zwischen den Verteidigern entstehen. Will einer von ihnen möglichst viele Strafmilderungsgesichtspunkte für seinen Mandanten durchsetzen, so muss dies bei einer in die selbe Richtung zielenden Strategie des anderen Verteidigers, diese Strafmilderungsgesichtspunkte für seinen Mandanten zur Geltung zu bringen, auch zu Interessenkonflikten zwischen den Verteidigern führen (vgl. Feuerich/Braun, BRAO, 4. Auflage, § 43 a Rdnr. 60). Solche Konflikte unter Angehörigen der selben Anwaltssozietät tragen die Gefahr in sich, dass sachwidrige Gesichtspunkte wie die Machtstrukturen innerhalb der Sozietät oder der "Wert" des Beschuldigten als Klient der Sozietät in die Konfliktlösung einfließen, dass also einer der Verteidiger seinen Mandanten nicht mehr mit vollem Einsatz verteidigt. Zumindest ein Argwohn in dieser Richtung kann bei einem Beschuldigten dann entstehen, wenn sein Verteidiger, der als Rechtsbeistand (§ 137 StPO) und unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) nicht an Anweisungen oder Wünsche des Beschuldigten zur Führung der Verteidigung gebunden ist, solchen Anliegen nicht nachkommt, indem er beispielsweise nicht die geforderten Fragen an Zeugen stellt oder nicht die gewünschten Beweisanträge anbringt.

Allein das Vorliegen eines solchen strukturellen Interessenkonflikts, der je nach Verfahrenslage einen konkreten Interessenkonflikt bewirken kann, reicht nach Auffassung des Senats (vgl. Beschluss vom 31. März 2000 - 1 Ws 41/2000) aus, um das Auswahlermessen des Vorsitzenden bei der Bestellung eines - vom Beschuldigten bezeichneten - Verteidigers dahin einzuengen, dass er aus Gründen der prozessualen Fürsorgepflicht einen solchen Verteidiger nicht beiordnet (ebenso BVerfG NStZ 1998, 46 = StV 1998, 356).

Dagegen kann nicht eingewendet werden, es bedürfe für die Verweigerung der Bestellung (und für die Entpflichtung eines bestellten Verteidigers) deutlicher Hinweise in Form konkreter Anhaltspunkte dafür, dass der mögliche Interessenkonflikt sich real manifestiert habe (so aber OLG Frankfurt StV 1999, 199, 201), da andernfalls die prinzipielle Gleichstellung des Pflichtverteidigers mit dem Wahlverteidiger (vgl. zuletzt BGH NStZ 1997, 46) nicht gewährleistet sei; denn auch der Pflichtverteidiger sei neben Gericht und Staatsanwaltschaft ein gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege, dessen Tätigkeit vom Gericht grundsätzlich - von Fällen grober Pflichtverletzung abgesehen - weder überwacht und kontrolliert noch bewertet werden dürfe (vgl. OLG Frankfurt a.a.O.).

Diese Argumentation ist für einen erheblichen Teil der zur Entscheidung stehenden Fälle in sich widersprüchlich; überdies stellt sie die Vorsitzenden in der Praxis häufig vor nicht umsetzbare Anforderungen. Der Schwerpunkt der Verteidigung eines Beschuldigten liegt, worauf bestellte Verteidiger zur Begründung ihrer Pauschvergütungsanträge immer wieder hinweisen, in der Besprechung des Verfahrensstoffs und der Verfahrenslage mit dem Beschuldigten, wobei oft die Erarbeitung einer Verteidigungsstrategie im Vordergrund steht. Diese Verteidigertätigkeit, die sich naturgemäß im Gespräch unter vier Augen abspielt, ist jedoch gerade - wie dargelegt - gerichtlicher Überwachung und Kontrolle entzogen. Es gibt sonach bereits im Vorfeld der Verteidigertätigkeit vor Gericht eine Reihe von verdeckten Interessenkonflikten, die dem Vorsitzenden - jedenfalls zunächst - nicht bekannt werden können und dürfen. Ihm bleibt es beispielsweise verborgen, wenn in einem Verfahren gegen mehrere Bandenmitglieder ein Verteidiger darauf hinarbeitet, den Bandenchef wunschgemäß auf Kosten anderer Bandenmitglieder zu entlasten, während sein Sozietätskollege, der ein anderes Bandenmitglied verteidigt, in dessen Interesse darauf bedacht ist, die dominierende Rolle des Bandenchefs hervorzuheben. Derartige konkrete Interessenkollisionen wird der Vorsitzende häufig erst in der Hauptverhandlung bemerken können. Dann aber steht er vor der für den Fortgang der Hauptverhandlung entscheidenden Frage, ob er von der Entpflichtung eines bestellten Verteidigers oder aller bestellten Verteidiger absieht, um die - oft lange und kostenintensive - Hauptverhandlung zu Ende führen zu können, oder ob er einen oder mehrere Verteidiger entpflichtet und dabei Gefahr läuft, dass die Hauptverhandlung ausgesetzt werden muss. Es wird daher den Bedürfnissen der Praxis nicht gerecht, für die Ablehnung der Bestellung des bezeichneten Verteidigers konkrete Anhaltspunkte für einen Interessenkonflikt zu fordern; damit wird dem Vorsitzenden häufig ein Wissen abverlangt, das er nicht haben kann und darf.

Der Fall liegt gerade wegen der Fürsorgepflicht des Vorsitzenden für den Beschuldigten, die sich in der Verteidigerbestellung manifestiert, anders als der Fall zweier Wahlverteidiger, die als Sozietätskollegen zwei Mitbeschuldigte in dem selben Verfahren wegen der selben Tat verteidigen. Bei dieser Fallkonstellation, in der das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 39, 156; 43, 79) die Verteidigung mehrerer Beschuldigter durch Wahlverteidiger, die der selben Sozietät angehören, zugelassen hat, fehlt es an einem der Fürsorgepflicht entspringenden staatlichen Bestellungsakt; es ist vielmehr allein Sache des jeweiligen Beschuldigten, dem Verteidiger Vollmacht zu erteilen und - beispielsweise wegen eines Interessenkonflikts - diese auch wieder aufzukündigen. Der Wahlverteidiger muss bei der Begründung des Mandats die Einhaltung der in § 43 a BRAO aufgeführten - von Kleine-Cosack (Anwaltsblatt 1998, 417, 424) zu Unrecht als "Pathoskatalog" herabgesetzten - Berufspflichten allein verantworten. Insofern muss bei der Begründung von Verteidigungsverhältnissen entgegen den vom OLG Karlsruhe (NStZ 1999, 212) geäußerten Zweifeln an der Unterscheidung von Wahlverteidiger und Pflichtverteidiger festgehalten werden.

3. Von dem Grundsatz, bereits bei einem strukturell angelegten Interessenkonflikt die Bestellung des Sozietätskollegen des Verteidigers des Mitbeschuldigten abzulehnen, kann nur dann ohne Gefahr für die Verteidigungsinteressen des Beschuldigten und den prozessordnungsgemäßen Verfahrensablauf eine Ausnahme gemacht werden, wenn - wie in dem vom OLG Frankfurt (a.a.O.) entschiedenen Fall - die Beschuldigten bereits vor Tätigwerden eines der in einer Sozietät verbundenen Verteidiger glaubhafte Geständnisse abgelegt haben, an denen sie festhalten. Erst bei einer solch eindeutigen Verfahrenslage ist der aufgezeigte strukturell bedingte Interessenkonflikt auszuschließen.

So liegt der Fall hier indes nicht. Der Beschuldigte K. und der Mitbeschuldigte S. haben jegliche Schleusertätigkeit im Rahmen einer Bande entschieden bestritten; dass sie von ihren Einlassungen in absehbarer Zeit abrücken werden, ist nicht zu erwarten.

III.

Darauf, dass die Sozietätskollegen Rechtsanwalt F. und Rechtsanwalt K. ihre Tätigkeit sachlich und räumlich getrennt ausüben, kommt es bei einem strukturell bedingtem Interessenwiderstreit nicht an. Der Senat musste die angefochtene Verfügung daher aufheben. Er hat davon abgesehen, selbst in der Sache zu entscheiden, weil nach der von Rechtsanwalt F. vorgelegten Vollmacht des Beschuldigten K. vom 03. Mai 2000, die auch auf Rechtsanwalt K. als Sozietätskollegen ausgestellt ist, das Wahlverteidigermandat beider Rechtsanwälte auch dann fortbestehen soll, wenn eine Bestellung zum Pflichtverteidiger erfolgt. Die Klärung der Frage, welcher der genannten Verteidiger für weichen Beschuldigten weiter in dem Verfahren tätig sein darf, muss dem Landgericht überlassen bleiben.

Ende der Entscheidung

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