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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 05.06.2003
Aktenzeichen: 1 Ws 131/03
Rechtsgebiete: StPO, MRK


Vorschriften:

StPO § 304 Abs. 1
MRK Art. 5 Abs. 3 S. 2
MRK Art. 6 Abs. 1
Die bloße Untätigkeitsbeschwerde ist dem Rechtsmittelsystem der Strafprozessordnung fremd; sie kann ausnahmsweise dann als zulässig erachtet werden, wenn durch die Untätigkeit des mit der Sache befassten Gerichts eine Situation einzutreten droht, die einer endgültigen Entscheidung gleichkäme.
Oberlandesgericht Stuttgart - 1. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 1 Ws 131/03

vom 05. Juni 2003

in der Strafsache gegen

wegen Raubes u.a.,

Tenor:

Die Untätigkeitsbeschwerde des Angeklagten wird als unzulässig verworfen.

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht - Schöffengericht - Stuttgart hat den Angeklagten, der aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart vom 20. März 2002 bis zum 10. April 2002 in vorliegender Sache in Untersuchungshaft eingesessen hatte und der sich seitdem in anderer Sache in Strafhaft befindet, am 18. September 2002 wegen Raubes in Tateinheit mit Körperverletzung sowie wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus Urteilen des Amtsgerichts Stuttgart vom 03. November 1997 und des Amtsgerichts Göppingen vom 11. März 1998 zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sieben Monaten verurteilt. Seine am 23. September 2002 selbst eingelegte Berufung hat der Angeklagte auf den Vorwurf des Raubes (Einzelstrafe ein Jahr und sechs Monate Freiheitsstrafe) beschränkt. Nach Urteilszustellung noch im Oktober 2002 lehnte das Amtsgericht am 13. November 2002 den Antrag des Angeklagten auf Aufhebung der mit der notierten Untersuchungsüberhaft verbundenen Einschränkungen im Strafvollzug ab. Am 20. November 2002 wurden die Akten dem Landgericht Stuttgart als Berufungsgericht vorgelegt. Der Vorsitzende der Berufungsstrafkammer hat inzwischen sowohl dem Angeklagten als auch der Justizvollzugsanstalt H., in der der Angeklagte einsitzt, mitgeteilt, dass - bei Gestattung von Arbeit - die Vollzugsbeschränkungen aufrechterhalten bleiben. Am 05. Mai 2003 hat er der Staatsanwaltschaft auf deren Sachstandsanfrage mitgeteilt, dass wegen vorrangiger anderer Haftsachen - und weil sich der Angeklagte in Strafhaft befinde - Termin zur Berufungshauptverhandlung noch nicht bestimmt worden sei, ein solcher jedoch voraussichtlich im vierten Quartal 2003 stattfinden werde.

Der - anwaltlich verteidigte - Angeklagte, dem die Terminsplanung nicht mitgeteilt wurde, beschwert sich nunmehr über die Untätigkeit der Berufungsstrafkammer des Landgerichts.

II. Die Untätigkeitsbeschwerde des Angeklagten ist nicht zulässig, da die Strafprozessordnung für Fälle der vorliegenden Art ein solches Rechtsmittel nicht bereitstellt.

1. Zwar unterliegt grundsätzlich auch die Unterlassung einer von Amts wegen oder auf Antrag zu treffenden gerichtlichen Entscheidung der Anfechtung, falls die unterlassene Entscheidung oder deren Ablehnung anfechtbar ist; dies gilt jedoch nur dann, wenn der gerichtlichen Unterlassung die Bedeutung einer endgültigen Ablehnung und nicht nur einer Verzögerung der zu treffenden Entscheidung zukommt (vgl. BGH NJW 1993, 1279 = NStZ 1993, 296; Engelhardt in KK, StPO, 4. Aufl., § 304 Rdn. 3; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 304 Rdn. 3, jeweils m.w.N.). Denn der Strafprozessordnung ist eine reine Untätigkeitsbeschwerde fremd, weil in der bloßen Untätigkeit keine sachliche Entscheidung liegt, jedoch nur eine solche Gegenstand der Überprüfung durch das Beschwerdegericht sein kann (vgl. BGH a.a.O.; OLG Frankfurt NJW 2002, 220 und 453; OLG Düsseldorf MDR 1988, 164; Meyer-Goßner a.a.O.; Plöd in KMR, StPO, Rdn. 3 vor § 304).

Die Untätigkeit der Berufungsstrafkammer, die nunmehr schon über sechs Monate das Verfahren nicht gefördert hat, kommt hier einer endgültigen Entscheidung nicht gleich. Anders als in den vom OLG Frankfurt (a.a.O.) entschiedenen Fällen, in denen die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens vom Gericht so weit hinausgeschoben wurde, dass der Eintritt der Doppelverjährung (§ 78 c Abs. 3 Satz 2 StGB) unmittelbar bevorstand, ist der staatliche Strafanspruch dem Grunde nach hier nicht in Frage gestellt, weil die Verjährung seit dem erstinstanzlichen Urteil ruht (§ 78 b Abs. 3 StGB). Auch die Verteidigungsposition des Angeklagten, der den ihm vorgeworfenen Raub bestreitet, wird durch den Zeitablauf jedenfalls nicht schlechter. Weder der Staatsanwaltschaft noch dem Angeklagten droht daher der endgültige Verlust einer wesentlichen Rechtsposition. Dass der früher nach Bali/Indonesien geflohene Angeklagte - wie er jetzt beklagt - durch die Anordnung von Überhaft verschiedene Vollzugslockerungen nicht erhält (§ 122 StVollzG), die der Zweck der Untersuchungshaft (Verhinderung der Flucht) nicht zulässt (§ 119 Abs. 3 StPO), stellt keinen so schwerwiegenden prozessualen Nachteil dar, dass deswegen die aus dem Rechtsstaatsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Untätigkeitsbeschwerde ausnahmsweise für zulässig erachtet werden müsste. Die Untätigkeitsbeschwerde soll nur schwerste, nicht erträgliche Rechtsverluste durch Zeitablauf verhindern. Der Kontrolle der Verfahrensweise der Instanzgerichte in Bezug auf die Beschleunigung dient dieses Rechtsinstitut nicht. Hierfür hat der Gesetzgeber die §§ 121, 122 StPO geschaffen, die hier, da bereits ein auf Verurteilung lautendes Erkenntnis ergangen ist, nicht anwendbar sind.

2. Allerdings gilt das aus Art. 5 Abs. 3 Satz 2, 6 Abs. 1 MRK abzuleitende Beschleunigungsgebot in abgemilderter Form auch dann, wenn - wie hier - Untersuchungshaft neben der vollzogenen Strafhaft nur als Überhaft vorgemerkt ist; auch die nur angeordnete, aber nicht vollzogene Untersuchungshaft ist wegen der Beschränkungen des § 122 StVollzG auf das sachlich vertretbare Mindestmaß zu beschränken (OLG Stuttgart, StV 1990, 213 = Die Justiz 1989, 401; Boujong in KK, StPO, 4. Aufl., Rdn. 19 vor § 112; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 120 Rdn. 6). Das hat der Senat (a.a.O.) auch aus dem in § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hergeleitet. Ob eine Terminierung erst auf das vierte Quartal des Jahres 2003 diesen Ansprüchen - trotz der vom Vorsitzenden der Berufungsstrafkammer mitgeteilten Überlastung mit Haftsachen - noch genügt, hat der Senat aufgrund des ausdrücklich als bloße Untätigkeitsbeschwerde bezeichneten Rechtsmittels nicht zu prüfen.

Ende der Entscheidung

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