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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 09.02.2001
Aktenzeichen: 1 Ws 2/01
Rechtsgebiete: StPO, ZPO


Vorschriften:

StPO § 172 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1
ZPO § 78 b
Nach der Abschaffung des Lokalisationsprinzips durch die Neufassung des § 78 Abs. 1 und 2 ZPO muss auch im Klageerzwingungsverfahren die Beiordnung eines Notanwalts in entsprechender Anwendung von § 78 b ZPO für zulässig erachtet werden (Aufgabe der bisherigen Senatsrechtsprechung, vgl. Die Justiz 1997, 404).
Oberlandesgericht Stuttgart - 1. Strafsenat - Beschluss

vom 09. Februar 2001

Geschäftsnummer: 1 Ws 2/01 25 Zs 1613/00 + 1614/00 GStA Stuttgart

in der Anzeigesache

wegen Rechtsbeugung.

Tenor:

I.

Der Antrag des Anzeigeerstatters auf Verlängerung der Antragsfrist wird zurückgewiesen.

II.

Der Antrag des Anzeigeerstatters auf Beiordnung eines Notanwalts wird zurückgewiesen.

III.

Der Antrag des Anzeigeerstatters auf Verweisung der Sache an ein anderes Oberlandesgericht wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Die einmonatige Frist für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO ist eine gesetzliche Frist, zu deren Verlängerung der Senat als Spruchkörper eines Gerichts nicht befugt ist (vgl. OLG Düsseldorf NJW 1987, 2453; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Auflage, § 172 Rdnr. 25).

II.

Der Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts für das beabsichtigte Klageerzwingungsverfahren gegen verschiedene Richter wegen Rechtsbeugung (§ 339 StGB) ist zulässig, jedoch nicht begründet.

1. Der Senat hat bisher in ständiger Spruchpraxis (vgl. zuletzt Die Justiz 1997, 404) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung zahlreicher Oberlandesgerichte (vgl. OLG Düsseldorf MDR 1995, 193; OLG Hamm NStZ 1995, 562; OLG Bremen NStZ 1986, 475; OLG Celle NStZ 1985, 234; OLG Frankfurt NStZ 1981, 491; OLG Hamburg MDR 1965, 407) die Auffassung vertreten, dass § 78 b ZPO, der unter bestimmten Voraussetzungen die Beiordnung eines Notanwalts im Zivilprozess vorsieht, im Klageerzwingungsverfahren nicht entsprechend anwendbar ist. Dabei wurde insbesondere mit der fehlenden Rechtsähnlichkeit der Fallgestaltungen argumentiert; während im Zivilprozess der Rechtssuchende bei der Auswahl eines Rechtsanwalts auf die im Landgerichtsbezirk zugelassenen Rechtsanwälte beschränkt sei (§ 78 ZPO a.F.), könne sich der Antragsteller im Klageerzwingungsverfahren jedes im Inland bei einem Gericht zugelassenen Rechtsanwalts bedienen (§ 172 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 StPO). Im Klageerzwingungsverfahren bestehe daher angesichts der Vielzahl der in der Bundesrepublik Deutschland zugelassenen Rechtsanwälte kein objektives Bedürfnis für die Zulassung eines Notanwalts, da sichergestellt sei, dass der Antragsteller für jeden nicht gänzlich aussichtslosen Antrag einen zu seiner Vertretung bereiten Rechtsanwalt finden könne. Offensichtlich aussichtslose Fälle sollten durch den Anwaltszwang (§ 172 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 StPO) gerade von den Oberlandesgerichten ferngehalten werden.

Dieser Argumentation ist nunmehr durch den Gesetzgeber der Boden entzogen worden. Durch die am 01. Januar 2000 in Kraft getretene Neufassung von § 78 Abs. 1 und 2 ZPO (Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und Patentanwälte vom 02. September 1994 - BGBl. I S. 2278 - und Änderungsgesetz vom 17. Dezember 1999 - BGBl I S. 2448) ist das Lokalisationsprinzip für Anwaltsprozesse vor dem Amtsgericht und vor dem Landgericht aufgegeben worden. Jeder im Inland zugelassene Rechtsanwalt darf daher - auch soweit Anwaltszwang besteht - vor jedem Amtsgericht oder Landgericht in der Bundesrepublik Deutschland auftreten. Trotz dieser beträchtlichen Erweiterung der Anzahl der zur Verfügung stehenden Rechtsanwälte hat der Gesetzgeber jedoch keine Veranlassung gesehen, § 78 b ZPO als durch die rechtspolitische Entwicklung überholt abzuschaffen. Er hat die Vorschrift vielmehr bewusst beibehalten, um die gesetzlich zwingend vorgeschriebene anwaltliche Vertretung auch für die Fälle sicherzustellen, in denen nicht nur die gerichtseingesessenen, sondern alle in der Bundesrepublik Deutschland zugelassenen Rechtsanwälte gute Gründe haben mögen, ein Mandat nicht zu übernehmen; hierzu gehören beispielsweise die Fälle, die für den Rechtsanwalt mit einer persönlichen Bedrohung oder mit Verlusten an Ansehen und Umsatz verbunden sein könnten. Da derartige Fälle auch bei der Übernahme von Mandaten für Klageerzwingungsanträge vorkommen können, vermag der Senat im Lichte der heutigen Einschätzung des Gesetzgebers die Rechtsähnlichkeit der Fälle des Anwaltszwangs nach § 78 ZPO und nach § 172 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 StPO nicht mehr zu verneinen. Eine Analogiebasis ist somit vorhanden.

§ 172 Abs. 3 Satz 2 StPO enthält auch keine bewusste Regelungslücke. Dass der Gesetzgeber bei der letzten Änderung dieser Vorschrift durch das am 01. Januar 1981 in Kraft getretene Prozesskostenhilfegesetz auch die Problematik des Notanwalts im Blickfeld gehabt hätte und im negativen Sinne hätte lösen wollen, ist durch die von Meyer-Goßner (NStZ 1985, 235) und Rieß (NStZ 1986, 433) vorgenommene Auswertung der Gesetzesmaterialien widerlegt. Beim Prozesskostenhilfegesetz handelte es sich um ein punktuelles zivilprozessuales Änderungsgesetz, das die Regelung über den Notanwalt nach § 78 b ZPO nicht betraf und sich in der Strafprozessordnung auf eine gesetzestechnische Anpassung des Wortlauts ("Prozesskostenhilfe" statt "Armenrecht") beschränkte; über weitere Änderungen der Strafprozessordnung war in diesem Zusammenhang nicht diskutiert worden (vgl. Rieß NStZ 1986, 433, 435 mit Nachweisen aus den Gesetzesmaterialien).

Auch das rechtsstaatliche Gebot der grundrechtskonformen Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts spielt hier eine Rolle. Denn wenn das Gesetz schon einen Anwaltszwang anordnet, so muss unter dem Gesichtspunkt des umfassenden Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) auch sichergestellt sein, dass der potentielle Antragsteller einen zu seiner Vertretung bereiten Rechtsanwalt finden kann (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Auflage, § 172 Rdnr. 23; Plöd in KMR, StPO, § 172 Rdnr. 52). Die Analogie zu § 78 b ZPO liegt daher auch verfassungsrechtlich nahe.

Der Senat hält bei diesen, teilweise durch den Gesetzgeber veränderten Grundlagen an seiner bisherigen Rechtsprechung nicht mehr fest und lässt das Institut des Notanwalts auch im Klageerzwingungsverfahren in entsprechender Anwendung von § 78 b ZPO zu (so schon früher OLG Koblenz NJW 1982, 61; Rieß in LR, StPO, 24. Auflage, § 172 Rdnr. 157; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Auflage, § 172 Rdnr. 23; Krehl in HK, StPO, 2. Auflage, § 172 Rdnr. 19; Plöd in KMR, StPO, § 172 Rdnr. 52; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 59. Auflage, § 78 b Rdnr. 3; Zöller/Vollkommer, ZPO, 22. Auflage, § 78 b Rdnr. 2).

3. a) Die entsprechende Anwendung des § 78 b ZPO zieht allerdings auch die Prüfung der Frage nach sich, ob die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig oder aussichtslos erscheint. Es ist weder einem Rechtsanwalt als unabhängigem, weisungsfreiem Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) noch den Oberlandesgerichten zuzumuten, sich mit sinn- oder aussichtslosen Anträgen auf gerichtliche Entscheidung zu befassen.

b) Der Antragsteller muss darüber hinaus darlegen und glaubhaft machen, dass er alle zumutbaren Bemühungen entfaltet hat, um die Übernahme des Mandats durch einen Rechtsanwalt zu erreichen. Er darf sich nicht damit begnügen, sich nur an einen oder an einige wenige Rechtsanwälte zu wenden. Der Antragsteller, der die Beiordnung eines Notanwalts beantragt, muss zuvor eine beträchtliche Anzahl von Rechtsanwälten vergeblich um die Mandatsübernahme gebeten haben; insbesondere muss er sich auch auf Landesebene und nicht nur im weiteren Umkreis seines Wohnortes um einen Rechtsanwalt bemüht haben (vgl. OLG Schleswig SchlHA [L/T] 1996, 94; OLG Stuttgart - 3. Strafsenat - NStE Nr. 44 zu § 172 StPO; OLG Koblenz NJW 1982, 61; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 59. Auflage, § 78 b Rdnr. 4).

Derartig umfangreiche, ihm zumutbare Anstrengungen im Hinblick auf die Mandatsübernahme durch einen Rechtsanwalt hat der Antragsteller hier weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht. Wenn der schwerwiegende Vorwurf der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) gegen Richter erhoben und begründet werden soll, so müssen jedenfalls mehr als sechs Rechtsanwälte oder Rechtsanwaltskanzleien angegangen werden; insbesondere muss auch außerhalb des Landgerichtsbezirks, in dem die beschuldigten Richter amtieren, nach einem zur Mandatsübernahme bereiten Rechtsanwalt gesucht werden. Zu letzterem trägt der Antragsteller nichts vor. Auch macht er nur die Absage einer einzigen Rechtsanwaltskanzlei durch Vorlage eines Schreibens glaubhaft. Das ist erheblich zu wenig, um die hier nach den Umständen (Schwere des Vorwurfs, Person der Beschuldigten) zumutbaren Bemühungen als erfüllt ansehen zu können.

Der Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts kann daher schon aus diesem Grund keinen Erfolg haben. Auf die Frage der etwaigen Aussichtslosigkeit der beabsichtigten Rechtsverfolgung kommt es daher nicht mehr an.

III.

Der Antrag auf Verweisung des Verfahrens an ein anderes Oberlandesgericht konnte keinen Erfolg haben, weil nach §, 172 Abs. 4 StPO für die Entscheidung über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung das Oberlandesgericht sachlich und örtlich zuständig ist, in dem die Staatsanwaltschaft ihren Sitz hat, die das Verfahren eingestellt hat (vgl. KK, StPO, 4. Auflage, § 172 Rdnr. 56). Da die Einstellungsverfügungen von der Staatsanwaltschaft Stuttgart getroffen wurden, ist das Oberlandesgericht Stuttgart hier ausschließlich zuständig.

Ende der Entscheidung

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