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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 11.01.2001
Aktenzeichen: 1 Ws 3/01
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 119 Abs. 3
StPO § 304
Die Beschwerde gegen eine vollstreckte Disziplinarmaßnahme ist zulässig, sofern die Maßnahme weitere nicht nur unerhebliche Rechtswirkungen insbesondere im Vollstreckungsverfahren entfalten kann (Teilaufgabe der Senatsentscheidung vom 09. September 1988, MDR 1989, 183 = Die Justiz 1989, 22).
Oberlandesgericht Stuttgart - 1. Strafsenat - Beschluss

vom 11. Januar 2001

Geschäftsnummer: 1 Ws 3/01 39 Ns 80 Js 39635/97 LG Stuttgart 80 J s 39635/97 StA Stuttgart

in der Strafsache gegen

wegen Diebstahls,

hier: Disziplinarmaßnahme,

Tenor:

Auf die Beschwerde des früheren Angeklagten wird die mit Verfügung der Vorsitzenden der Berufungsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart vom 23. November 2000 angeordnete Disziplinarmaßnahme aufgehoben, soweit diese noch nicht vollstreckt ist.

Im übrigen wird festgestellt, dass die Disziplinarmaßnahme, soweit sie vollstreckt wurde, rechtmäßig ist.

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe:

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Verfügung der Vorsitzenden der Berufungsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart vom 23. November 2000, mit welcher das Recht des damals noch in Untersuchungshaft befindlichen Beschwerdeführers auf Beschaffung von zusätzlichen Nahrungs- und Genussmitteln und Gegenständen des persönlichen Bedarfs auf 100,00 DM für die Dauer eines Monats beschränkt wurde. Anlass für die Anordnung der Disziplinarmaßnahme war ein Vorfall vom 24. Oktober 2000 beim Einkauf, als der Beschwerdeführer - der zunächst von einer falschen Abrechnung ausging - die Kassiererin der den Verkauf in der Justizvollzugsanstalt durchführenden Firma verbal beleidigte. Seit 24. November 2000 befindet sich der Beschwerdeführer nach der Rücknahme seiner Berufung in der Berufungshauptverhandlung in Strafhaft. Am 27. November 2000 teilte das Landgericht die Verfügung der Vorsitzenden vom 23. November 2000 der Justizvollzugsanstalt S. mit, die die Disziplinarmaßnahme vom 01. Dezember 2000 bis zur Verlegung des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt R. am 18. Dezember 2000 vollstreckte. Die Justizvollzugsanstalt R. wurde bisher nicht um die weitere Vollstreckung der Disziplinarmaßnahme ersucht. Die Vorsitzende der Berufungsstrafkammer sieht in dem am 05. Dezember 2000 beim Landgericht eingegangenen Schreiben des früheren Angeklagten vom 04. Dezember 2000 eine Beschwerde gegen ihre Verfügung. Dieser hat sie mit Verfügung vom 05. Januar 2000 - nachdem die bereits zurückgegebenen Akten wieder beigezogen waren - nicht abgeholfen und die Sache dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt.

Die Beschwerde führte zur teilweisen Aufhebung der - bei ihrem Erlass rechtmäßigen - Disziplinarmaßnahme.

Das Schreiben des früheren Angeklagten vom 04. Dezember 2000 ist als Beschwerde anzusehen. Der Beschwerdeführer begehrt zwar insbesondere die Klärung der Frage, ob eine Geldzuwendung außenstehender Personen anstelle eines Weihnachtspakets von der Disziplinarmaßnahme erfasst wird. Dem Gesamtzusammenhang der Ausführungen des Beschwerdeführers und dem ausdrücklich als "Beschwerde" bezeichneten Schreiben lässt sich jedoch entnehmen, dass der Beschwerdeführer die Anordnung der Disziplinarmaßnahme überprüft sehen möchte.

Die Überführung des Beschwerdeführers aus der Untersuchungshaft in die Strafhaft sowie die Verlegung in eine andere Haftanstalt macht die Beschwerde gegen die während der Untersuchungshaft angeordnete Disziplinarmaßnahme - auch soweit diese bereits vollstreckt wurde - nicht gegenstandslos und damit unzulässig.

Das Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers ergibt sich bezüglich des noch nicht vollstreckten Teils der Disziplinarmaßnahme aus der nach wie vor gegebenen Möglichkeit der Vollstreckung. Der Übergang von Untersuchungshaft in Strafhaft hindert die Vollstreckung der während der Untersuchungshaft angeordneten Maßnahme nicht. Gemäß § 105 Abs. 3 StVollzG kann die Disziplinarmaßnahme auf Ersuchen des anordnenden Richters (Schwind/Böhm, StVollzG, 3. Auflage, § 105 Rdnr. 4) während der Strafhaft - wie hier durch die Justizvollzugsanstalt Stuttgart bis zur Verlegung des Beschwerdeführers geschehen - vollstreckt werden. Auch die Verlegung in eine andere Haftanstalt hindert die weitere Vollstreckung nicht, da § 105 Abs. 3 StVollzG auch bestimmt, dass Disziplinarmaßnahmen bei Verlegung in eine andere Justizvollzugsanstalt auf Ersuchen zu vollstrecken sind. Ob ein Ersuchen des Leiters der ursprünglichen Haftanstalt ausreicht oder ob ein Ersuchen des anordnenden Richters (der in der Regel von der Verlegung des in Strafhaft befindlichen früheren Angeklagten keine Kenntnis erhält) erforderlich ist, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden.

Die Beschwerde ist, auch soweit die Disziplinarmaßnahme bereits vollstreckt ist, zulässig.

Zwar vertrat der Senat im Beschluss vom 09. September 1988 (MDR 1989, 183 = Die Justiz 1989, 22) die Auffassung, die Beschwerde gegen eine vollzogene Anordnung - sofern sie vom Richter angeordnet wurde - sei unzulässig, auch wenn sie sich gegen eine Disziplinarmaßnahme richte. Zur Begründung berief sich der Senat darauf, die Strafprozessordnung sehe Entscheidungen nicht vor, die sich in einer nachträglichen Feststellung über die Rechtmäßigkeit einer vollzogenen Maßnahme erschöpfen. Die Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG gebiete eine Ausnahme nach anerkannter Rechtsprechung nur, wenn noch keine richterliche Entscheidung getroffen worden sei. Dies gelte auch für Disziplinarmaßnahmen. Andere, womöglich noch schwerer wiegende Eingriffe seien - wenn prozessual überholt - einer Beschwerdeentscheidung auch nicht mehr zugänglich. An dieser Auffassung hält der Senat, soweit vollstreckte Disziplinarmaßnahmen noch Rechtswirkungen entfalten können, aufgrund der Auslegung der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie der Gesetzgebung in jüngerer Zeit nicht mehr fest.

Das Bundesverfassungsgericht entschied mit Beschluss vom 11. Oktober 1978 (NJW 1979, 154), dass eine Beschwerde gegen eine auf einer richterlichen Anordnung beruhenden Durchsuchung, die abgeschlossen ist, prozessual überholt und deshalb unzulässig sei. Zur Begründung verwies das Bundesverfassungsgericht darauf, dass im Strafprozess ganz allgemein - nicht nur bei richterlich angeordneten Durchsuchungen - regelmäßig die prozessuale Überholung der Möglichkeit, eine Sachentscheidung zu erlassen, entgegenstehe. Diese vom Bundesgerichtshof (NJW 1979, 881; 1979, 882) geteilte Rechtsauffassung hat das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 27. Mai 1997 (NJW 1997, 2163 und daran anschließend BVerfG NJW 1998, 2131) nunmehr aufgegeben. Im Hinblick auf den in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten effektiven und möglichst lückenlosen Rechtsschutz bejaht das Bundesverfassungsgericht ein Rechtsschutzinteresse bei tiefgreifenden Grundrechtseingriffen, insbesondere bei Durchsuchungsanordnungen und Beschränkungen der persönlichen Freiheit, auch wenn diese bereits abgeschlossen sind und der Betroffene wegen der kurzen Dauer des Eingriffs keine gerichtliche Entscheidung erlangen konnte. Somit ist das auch vom Senat in seinem Beschluss vom 09. September 1988 a.a.O. angeführte Argument, die StPO sehe nachträgliche Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit vollzogener Maßnahmen in der Regel nicht vor, bereits nicht unerheblich entkräftet. Hinzu kommt, dass der Strafprozessordnung die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer erledigten Maßnahme nicht mehr fremd ist. Der mit Gesetz vom 04. Mai 1998 (BGBl I S. 845) eingeführte § 100 d Abs. 6 Satz 1 StPO eröffnet nunmehr die Möglichkeit, nach Erledigung einer Abhörmaßnahme in einer Wohnung gemäß § 100 c Abs. 1 Nr. 3 StPO die Rechtmäßigkeit der Anordnung, die ebenfalls einen erheblichen Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung darstellt, zu überprüfen. Somit zeigt diese Entwicklung eine deutliche Erweiterung des Rechtsschutzes bei abgeschlossenen Eingriffen, sofern diese nicht nur unerheblich sind. Ist eine Überprüfung von abgeschlossenen Maßnahmen auf ihre Rechtmäßigkeit möglich, kann die Überprüfung einer vollstreckten Disziplinarmaßnahme auf ihre Rechtmäßigkeit zumindest dann nicht mehr versagt werden, wenn diese trotz der Vollstreckung in der Zukunft Rechtswirkungen, die nicht nur unerheblich sind, entfalten kann.

Vorliegend stellt die verhängte Disziplinarmaßnahme mit einer Beschränkung des Einkaufs auf 100,00 DM für die Dauer eines Monats keinen den Beschwerdeführer besonders belastenden Eingriff dar. Ein Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers scheint, soweit die Disziplinarmaßnahme vollstreckt ist, nicht gegeben (anders möglicherweise im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei freiheitsentziehenden Maßnahmen). Allerdings lässt diese Sichtweise außer acht, dass die Disziplinarmaßnahme bei der Entscheidung über die bedingte Entlassung nach § 57 Abs. 1, Abs. 2 StGB, bei welcher ausdrücklich auch das Verhalten des Verurteilten im Vollzug zu berücksichtigen ist, eine maßgebliche Rolle spielen und zur Ablehnung der bedingten Entlassung und damit zu einem weiteren Freiheitsentzug führen kann. Somit kann auch die bereits vollstreckte Disziplinarmaßnahme durch den weiteren Freiheitsentzug tiefgreifende Rechtswirkungen für den Beschwerdeführer nach sich ziehen. Deshalb bejaht der Senat nunmehr bei der Auslegung der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der neueren Gesetzgebung ein fortwirkendes rechtliches Interesse an der Feststellung der Rechtmäßigkeit einer bereits vollstreckten Disziplinarmaßnahme (ebenso Boujong in KK, StPO, 4. Auflage, § 119 Rdnr. 101; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Auflage, § 119 Rdnr. 49 und vor § 296 Rdnr. 18; Plöd in KMR, StPO, vor § 296 Rdnr. 12 jeweils m.w.N.). Ein Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers ist somit auch bezüglich des vollstreckten Teils der Disziplinarmaßnahme gegeben.

Die Disziplinarmaßnahme wurde von der Vorsitzenden der Berufungsstrafkammer als der gemäß §§ 126 Abs. 2 Satz 1 und 3 StPO zuständigen Haftrichterin zu Recht angeordnet.

Der Beschwerdeführer räumte bei seiner Anhörung ein, die Kassiererin der den Verkauf in der Justizvollzugsanstalt S. durchführenden Firma zu Unrecht des Betruges verdächtigt und mit den Worten "Dumme Kuh", "Du kannst mich am Arsch lecken" und "Du bescheißt mich um 3 Mark" bedacht und sich damit einer Beleidigung schuldig gemacht zu haben. Angesichts des aggressiven Verhaltens des Beschwerdeführers und der ausgesprochenen Beleidigung ist die gemäß § 119 Abs. 3 StPO i.V. mit Nr. 67 Abs. 1, 68 Abs. 1 Nr. 2 UVollzO angeordnete Beschränkung des Einkaufs auf 100,00 DM für die Dauer eines Monats eine durchaus angemessene, bei der Schwere des Verstoßes nicht unverhältnismäßige Disziplinarmaßnahme, die geeignet ist, die Ordnung in der Anstalt aufrechtzuerhalten.

Somit ist festzustellen, dass die Disziplinarmaßnahme - soweit sie vollstreckt ist - rechtmäßig ist.

Bezüglich des infolge der Verlegung in eine andere Justizvollzugsanstalt noch nicht vollstreckten Teils der Disziplinarmaßnahme ist - wie bereits ausgeführt - auf Ersuchen die weitere Vollstreckung möglich. Allerdings sind seit dem Zeitpunkt des Vorfalls am 24. Oktober 2000 etwas mehr als 2 1/2 Monate verstrichen, so dass alsbald zu prüfen wäre, ob der zur Erreichung des Zwecks der Anordnung der Disziplinarmaßnahme erforderliche zeitliche Zusammenhang zwischen der Tat und der Ahndung, den die Rechtsprechung bei etwa drei Monaten sieht (OLG Stuttgart OLGSt § 119 Nr. 10 m.w.N.), noch besteht. Der Beschwerdeführer befindet sich zudem bereits seit geraumer Zeit in Strafhaft und seit einiger Zeit in einer anderen Justizvollzugsanstalt. Außerdem wurde durch die teilweise Vollstreckung der Zweck der Disziplinarmaßnahme zu einem nicht unwesentlichen Teil schon erreicht. Deshalb erscheint es dem Senat angemessen, die Disziplinarmaßnahme - soweit sie noch nicht vollstreckt ist - aufzuheben.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO. Dem Beschwerdeführer sind die Kosten in vollem Umfang aufzuerlegen, da der Teilerfolg der Beschwerde insbesondere auf Zeitablauf beruht.

Ende der Entscheidung

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