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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 23.01.2002
Aktenzeichen: 1 Ws 9/02
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 172 Abs. 1 Satz 1
StGB § 130 Abs. 1
Religionsgesellschaften in der Rechtsform einer juristischen Person sind keine Teile der Bevölkerung im Sinne von § 130 StGB; sie sind daher im Klageerzwingungsverfahren nicht als Verletzte antragsbefugt.
Oberlandesgericht Stuttgart - 1. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 1 Ws 9/02

vom 23. Januar 2002

wegen Volksverhetzung.

Tenor:

Der Antrag des Anzeigeerstatters auf gerichtliche Entscheidung gegen den Beschwerdebescheid der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart vom 14. Dezember 2001 wird als unzulässig verwarfen.

Gründe:

I.

Der Antragsteller ist nach seinem Vortrag ein eingetragener Verein mit dem Namen "U. L.", der den Status einer Religionsgesellschaft im Sinne von Art. 140 GG, 137 WRV besitzt. Einige dieser Glaubensgemeinschaft nahestehende Personen arbeiten in der Markthalle in S. an einem Marktstand für ökologische Lebensmittel, der von der Fa. L. G. S.-B. GmbH betrieben wird. An dem Marktstand liegt ein Prospekt mit dem Titel "Der friedfertige Landbau" auf, in dem nicht nur über die Produkte des Marktstandes berichtet wird, sondern auch Buchanzeigen für Bücher religiösen Inhalts enthalten sind.

Dies veranlasste nach dem Vortrag der Antragstellerin die X.-Fraktion im Gemeinderat der Landeshauptstadt S. bzw. den Beschuldigten als deren Vorsitzenden, im Amtsblatt der Stadt vom 19. Juli 2001 einen Text abdrucken zu lassen, in dem es u. a. heißt:

"X.: Stand von "U. L." in der Markthalle auflösen. Die X.-Gemeinderatsfraktion geht nun konsequent gegen einen nicht mehr hinzunehmenden Missstand vor. Die Stadtverwaltung wird von ihr wegen dauernder Inaktivität gemaßregelt. Denn schon mehrfach kam im Marktaussschuss der Stand einer nachweislichen Sekte in der Markthalle zur Sprache.

... Hinter der Sekte namens "U. L." verbirgt sich eine skrupellose Organisation. Nach Meinung maßgeblicher Sektenexperten steht die Organisation für menschenverachtende Praktiken. Mittels manipulativer Psychomethoden vermittelt sie ihre totalitäre Weltanschauung. Ihre Struktur ist noch straffer ausgerichtet als die der ebenso verachtenswerten Scientology-Sekte ....

Wünschenswert für die X. ist ein institutionen- und parteienübergreifendes Vorgehen bei der Ächtung totalitärer und menschenverachtender Systeme.

Ein in diesem Zusammenhang stehendes eindeutiges Zeichen bestünde in der sofortigen Aufkündigung des Marktstandes der Sekte, so F.."

Der Antragsteller sieht durch diese Äußerung den Tatbestand der Volksverhetzung als erfüllt an.

II.

Der frist- und formgerecht (§ 172 Abs. 2 und 3 StPO) angebrachte Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist jedenfalls deswegen nicht zulässig, weil die Religionsgesellschaft "U. L. e.V." als juristische Person nicht Verletzte (§ 172 Abs. 1 Satz 1 StPO) des dem Beschuldigten zur Last gelegten Vergehens der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB wäre.

1. Als Verletzter nach § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO wird heute allgemein (vgl. zuletzt OLG Stuttgart NJW 2001, 840; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Auflage, § 172 Rdnr. 9; Karlsruher Kommentar, StPO, 4. Auflage, § 172 Rdnr. 19, jeweils mit weiteren Nachweisen) derjenige angesehen, der durch die schädigende Handlung - ihre Begehung unterstellt - unmittelbar in seinen Rechten, Rechtsgütern oder rechtlich anerkannten Interessen beeinträchtigt ist. Diese Abgrenzung gibt zwar keine absolute Sicherheit, lässt jedoch bei Orientierung an den Wertentscheidungen des geltenden Rechts häufig schon eine Abgrenzung zu. In Zweifelsfällen muss auf die Schutzzwecklehre zurückgegriffen werden; danach ist unmittelbar Verletzter nur derjenige, dessen Rechte durch die (angeblich) übertretene Norm - jedenfalls auch - geschützt werden sollen (vgl. OLG Stuttgart a.a.O.; Karlsruher Kommentar a.a.O. unter Hinweis auf BGHSt 18, 283).

2. Das trifft auf die Religionsgesellschaft "U. L. e.V." als Anzeigeerstatterin und Antragstellerin im vorliegenden Klageerzwingungsverfahren nicht zu. § 130 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StGB setzen voraus, dass in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, entweder zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufgestachelt wird (Nr. 1), oder dass die Menschenwürde anderer dadurch angegriffen wird, dass Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden (Nr. 2). Angriffsobjekt der Volksverhetzung sind sonach Teile der inländischen Bevölkerung, die sich aufgrund gemeinsamer innerer oder äußerer Merkmale (Rasse, Volkszugehörigkeit, Religion, politische oder weltanschauliche Überzeugung, soziale und wirtschaftliche Stellung) als eine von der übrigen Bevölkerung unterscheidbare Bevölkerungsgruppe darstellen und individuell nicht mehr überschaubar sind (vgl. BGH GA 1979, 391; BayObLG NJW 1994, 952; 1995, 145; OLG Frankfurt NJW 1989, 1369; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB, 26. Auflage, § 130 Rdnr. 3; Tröndle/Fischer, StGB, 50. Auflage, § 130 Rdnr. 2 a; Lackner/Kühl, StGB, 24. Auflage, § 130 Rdnr. 2; von Bubnoff in LK, 11. Auflage, § 130 Rdnr. 9), Unmittelbar Verletzte können daher nur eine oder mehrere Einzelpersonen sein, die zu dem angegriffenen Bevölkerungsteil gehören (vgl. Lenckner a.a.O.; von Bubnoff a.a.O. Rdnr. 9 a, 10; Tröndle/Fischer a.a.O. Rdnr. 7). Es ist anerkannt, dass zu den geschützten Teilen der Bevölkerung nicht institutionalisierte Personenmehrheiten zählen, soweit es um die Institution als solche geht und nicht um die hinter ihr stehenden Menschen (BGHSt 36, 83, 91 m.w.N.). Kirchen als solche sind daher keine Teile der Bevölkerung im Sinne des § 130 StGB (Tröndle/Fischer, StGB, 50. Auflage, § 130 Rdnr. 2; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB, 26. Auflage, § 130 Rdnr. 3).

Bei dem eingetragenen Verein "U. L." handelt es sich um eine institutionalisierte Personenmehrheit. Diese ist nach dem Antragsvorbringen auch Angriffsobjekt gewesen. Der Beschuldigte hat danach gegenüber Mitarbeitern des Amtsblattes von "U. L.", von einer "nachweislichen Sekte", und von einer "skrupellosen Organisation" gesprochen. Die nach seiner Meinung nicht hinnehmbaren Praktiken werden also der Organisation "U. L. e.V.", nicht jedoch einzelnen ihrer Mitglieder vorgeworfen. Der Beschuldigte war bei seinen Äußerungen offensichtlich gar nicht in der Lage, einzelne Mitglieder zu benennen, die sich nach seiner Auffassung der angeprangerten "manipulativen Psychomethoden" bedient hatten. Vergeblich versucht der Antragsteller, die Unterschiede zwischen der Organisation (eingetragener Verein als juristische Person) und ihren Mitgliedern mit dem Argument zu verwischen, dass jede rechtlich organisierte Personengruppe durch ihre Mitglieder, also durch Einzelpersonen handeln müsse und diese daher bei hetzerischen Angriffen unmittelbar Verletzte seien. Diese Argumentation widerspricht dem geltenden Recht. Mit ihr ließe sich die in zahlreichen Gesetzen vorgeschriebene unterschiedliche rechtliche Behandlung von juristischen Personen und deren Mitgliedern verhindern; so wäre beispielsweise auch die Unterscheidung zwischen einer GmbH und ihren Gesellschaftern im Klageerzwingungsverfahren nicht mehr möglich (vgl. dazu OLG Stuttgart NJW 2001, 840 m.w.N.). Der Senat vermag dieser Argumentation daher nicht zu folgen.

3. Der Antragsteller übersieht im übrigen, dass nur derjenige das Klageerzwingungsverfahren zu betreiben befugt ist, der zugleich Anzeigeerstatter, Antragsteller und unmittelbar Verletzter ist (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Auflage, § 172 Rdnr. 5 a; Karlsruher Kommentar, StPO, 4. Auflage, § 172 Rdnr. 3, jeweils mit weiteren Nachweisen). Das trifft nach dem Vortrag des Antragstellers auf seine Mitglieder nicht zu, da diese weder Strafanzeige erstattet noch Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt haben.

III.

Der Senat musste den Klageerzwingungsantrag daher als unzulässig verwerfen.

Nicht zu entscheiden hatte der Senat die auch nach der Neufassung des § 130 StGB durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994 (BGBl I S. 3186) umstrittene Frage, ob die Bestimmung neben dem öffentlichen Frieden auch die Menschenwürde von Einzelpersonen schützt (bejahend schon zum alten Recht: OLG Karlsruhe NJW 1986, 1276; verneinend: OLG München NJW 1985, 2430; KirchE 33, 54; OLG Stuttgart, Die Justiz 1992, 186). Ob der Senat an der letztgenannten Entscheidung festhält, kann derzeit offen bleiben (zum geltenden Recht für die Menschenwürde als weiteres Schutzgut: Lackner/Kühl, StGB, 24. Auflage, § 130 Rdnr. 1; von Bubnoff in LK, StGB, 11. Auflage, § 130 Rdnr. 11; Tröndle/Fischer, StGB, 50. Auflage, § 130 Rdnr. 1 a; Karlsruher Kommentar, StPO, 4. Auflage, § 172 Rdnr. 23; verneinend weiterhin: Lenckner in Schönke/Schröder, StGB, 26. Auflage, § 130 Rdnr. 1 a; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Auflage, § 172 Rdnr. 12).

Ende der Entscheidung

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