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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Urteil verkündet am 29.02.2000
Aktenzeichen: 14 U 4/99
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 97
ZPO § 708 Ziffer 1 C
ZPO § 711
1. 1995 entsprach eine subcutane Low-dose-Heparinisierung zur Thromboseprophylaxe bei Hochrisikopatienten noch dem chirurgischen Standard.

2. Eine unzureichende physikalische Thromboseprophylaxe ist noch kein grober Behandlungsfehler.


Oberlandesgericht Stuttgart - 14. Zivilsenat - Urteil

Geschäftsnummer: 14 U 4/99 1 b O 1840/97 LG Heilbronn

verkündet 29. Februar 2000

Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

In Sachen

hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart auf die mündliche Verhandlung vom 18.01.2000 unter Mitwirkung

des Richters am Oberlandesgericht

der Richterin am Oberlandesgericht

des Richters am Oberlandesgericht

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Landgerichts Heilbronn vom 02.12.1998 (AZ: 1b O 1849/97 Vier) wird zurückgewiesen.

2. Die Kläger tragen die Kosten der Berufung.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 11.200,-- DM abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Streitwert der Berufung:

Klagantrag I. 14.598,00 DM Klagantrag II. 2.162,16 DM Klagantrag III. 103.280,73 DM Klagantrag IV. 28.261,17 DM Klagantrag V. 10.000,00 DM Zusammen: 158.302,06 DM.

Beschwer der Klägerin Ziffer 1: 125.040,89 DM. Beschwer des Klägers Ziffer 2: 33.261,17 DM.

Tatbestand:

Kläger sind die Ehefrau und der Sohn des am 17.06.1995 im Klinikum der Beklagten Ziffer 2 an einer Lungenembolie verstorbenen W S. Mit der Behauptung fehlerhafter ärztlicher Behandlung nehmen sie in der Berufungsinstanz nunmehr das beklagte Klinikum auf Ersatz der Beerdigungskosten und ihres Unterhaltsschadens in Anspruch.

W S war am 29.05.1995 während der Außenarbeiten an seinem Haus von einem einbrechenden Gerüst 6 min die Tiefe gestürzt und auf Betonboden aufgeschlagen. Er hatte sich schwere Kopf- und Thoraxverletzungen zugezogen und wurde nach Erstversorgung an der Unfallstelle in die unfallchirurgische Abteilung der Beklagten Ziffer 2 aufgenommen. Dort wurden ein Schädelhirntrauma, eine traumatische Subarachnoidalblutung, eine occipitale Kalottenfraktur, ein Thoraxtrauma mit Lungenkontusion beidseits sowie eine Fraktur BWK 12 diagnostiziert. Noch am selben Abend wurde Herr S in die neurochirurgische Klinik der Universität W verlegt und dort mit einer Hirndrucksonde versorgt. Die weitere Behandlung erfolgte in W auf der anästhesiologischen Intensivabteilung; wegen der Einzelheiten der Behandlung wird auf die Krankenakte der Klinik für Anästesiologie der Universität W Bezug genommen.

Am 14.06.1995 erfolgte die Rückverlegung nach H,, wobei Herr S dort zunächst in die Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin aufgenommen wurde. Es fanden HNO-ärztliche und neurologische Konsiliaruntersuchungen statt, die eine zentralbedingte Stimmbandlähmung links sowie Schluckstörungen aufgrund des Schädelhirntraumas ergaben. Die Thromboseprophylaxe wurde wie zuletzt in W durch intravenöse Gabe von Heparin in der Größenordnung von 800 iE pro Stunden fortgesetzt bis 10.00 Uhr am 15.06.1995. An diesem Feiertag (Fronleichnam) wurde Herr S in stabilem Zustand als nicht mehr intensivpflichtig auf die unfallchirurgische Normalstation verlegt. Dort sollten - ausweislich der Krankenakten - nach ärztlicher Anordnung folgende Maßnahmen durchgeführt werden: Inhalationen, Atemgymnastik und eine Thromboseprophylaxe mit 2 subcutanen Gaben von 7500 iE Liquemin täglich, Tragen von Antithrombosestrümpfen beidseits, intensive Krankengymnastik und Mobilisation bei engmaschigen Kontrollen.

Ob diese Anordnungen befolgt wurden, ist im Einzelnen streitig. In der Behandlungsdokumentation sind in der Zeile "ATS bds." für den 15., 16. und 17.06.1995 jeweils Striche eingetragen; eine krankengymnastische Behandlung ist nicht vermerkt, obwohl sie unter dem 16.06.1995 mit der Maßgabe isometrischer Übungen angefordert wurde. In der Zeile Thromboseprophylaxe sind für die genannten Tage die Uhrzeiten 6.00 Uhr und 18.00 Uhr eingetragen und am 15. abends, am 16. hinter beiden Uhrzeiten sowie am 17. morgens durch verschiedene Namenskürzel abgezeichnet.

Am 17.06.1995 fand die Klägerin Ziffer 1 ihren Ehemann gegen 13.30 Uhr schlafend vor, weshalb sie noch einen Spaziergang unternahm. Bei ihrer Rückkehr gegen 14.45 Uhr fand sie ihn leblos im Bett. Sofort eingeleitete Reanimationsmaßnahmen blieben ohne Erfolg. Die am 21.06.1995 durchgeführte Obduktion durch Prof. Dr. H. D. W von Institut für gerichtliche Medizin der Universität T ergab als Todesursache eine beidseitige fulminante Lungenembolie in der Folge einer massiven Thrombose in der rechten tiefen Oberschenkelvene. Die feingewebliche Untersuchung des aus der Beinvene entnommenen thrombotischen Materials ergab diagnostisch einen frischen, möglicherweise wenige Tage alten Abscheidungsthrombus, ebenso das aus den Lungenarterien entnommene embolische Material.

Die Kläger haben vorgetragen, zu der tödlichen Lungenembolie habe es nur deshalb kommen können, weil die ärztlich angeordnete Thromboseprophylaxe unzureichend gewesen und im übrigen auch nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. Herr S habe in W weit höhere Heparindosen erhalten; die Verordnung von subcutanen Heparinspritzen zu 7500 iE 2 x täglich habe für ihn als Hochrisikopatienten nicht den medizinischen Anforderungen entsprochen. Tatsächlich habe Herr S indessen auf der chirurgischen Normalstation überhaupt keine Heparinspritzen bekommen. Dies habe er seinen Verwandten gegenüber mehrfach bestätigt.

Mitverursacht sei die Thrombose durch das Unterlassen jedweder krankengymnastisch begleiteter Mobilisation und durch die nur sporadische Verwendung der Antithrombosestrümpfe. Diese seien Herrn S. lediglich am 16.06.1995 angelegt worden, nicht aber am 15. und 17.06.1995. Er habe zu wenig zu trinken bekommen. Auch sei es fehlerhaft gewesen, ihm Normalkost anzubieten; in W, sei er mit Rücksicht auf seine Schluckstörungen über eine Magensonde künstlich ernährt worden. Schließlich sei es auch falsch gewesen, Herrn S in einem Krankenzimmer alleine unterzubringen. Wäre ein Mitpatient im Raum anwesend gewesen, wäre die Embolie früher bemerkt und möglicherweise erfolgreich behandelt worden.

Die Kläger, die mit ihrer Klage ursprünglich auch den mit der erfolglosen Reanimation befassten Oberarzt Dr. L (Beklagter Ziff.1) in Anspruch genommen haben, haben beantragt:

I. 1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin zu 1 Schadensersatz in Höhe von 14.598,-- DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin zu 1 DM 2.162,16 (12 x DM 180,18) zu zahlen.

3. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin zu 1 eine monatliche Geldrente in Höhe von 1.405,18 DM, rückwirkend ab dem 01.07.1996 jeweils vierteljährlich im voraus zum 01.01., 01.04., 01.07. und 01.10. eines jeden Jahres bis zum 31.12.2020 zu zahlen.

II. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger zu 2 eine monatliche Geldrente in Höhe von 1.046,71 DM, rückwirkend ab dem 01.07.1995 jeweils vierteljährlich im voraus zum 01.01., 01.04., 01.07. und 01.10. eines jeden Jahres bis zum 03.10.1997 zu zahlen.

III. Es wird festgestellt, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, den Klägern sämtlichen materiellen Schäden aus der Fehlbehandlung vom 15. bis 17.06.1995 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie haben geltend gemacht, die verordneten Heparingaben hätten in Art und Dosierung den damals geltenden ärztlichen Standard entsprochen und seien in der üblichen Weise auch durchgeführt worden. Eine höhere Dosierung sei auf der Normalstation nicht durchführbar gewesen und habe sich auch im Hinblick auf die fortbestehende Gefahr intracerebraler Blutungen verboten. Die Antithrombosestrümpfe seien - wie im Verlaufsbogen dokumentiert - täglich angelegt worden; eine weitergehende krankengymnastische Übungsbehandlung sei mit Rücksicht auf die Fraktur des zwölften Brustwirbels richtigerweise zurückgestellt worden. Schluckbeschwerden habe Herr S nur beim Trinken gehabt; diese hätten dem bereits im Würzburg begonnenen oralen Kostaufbau nicht entgegengestanden. Daß Herr S zu wenig zu trinken bekommen habe, sei durch die Laborwerte vom 16.06.1995 widerlegt, die den Hämatokritwert eher unterhalb der Norm, das Blut somit eher als dünnflüssig auswiesen.

Im übrigen haben die Beklagten vorsorglich die Ursächlichkeit etwaiger Mängel der Thromboseprophylaxe mit der Begründung bestritten, der zur Embolie führende Thrombus sei nicht erst in H entstanden, sondern könne in gleicher Weise zeitnah in W aufgetreten sein.

Das Landgericht Heilbronn hat die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Heilbronn, Aktenzeichen: 11 Js 475/95, beigezogen. Es hat den Bruder des Verstorbenen, J S, seine Eltern K, und J S, J sowie die Krankenschwestern A H, B G und M H als Zeugen vernommen (Bl. 70 bis 86 d.A.). Ferner hat es Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens der Sachverständigen Prof. Dr. G und Dr. S welches letzterer im Verhandlungstermin vom 11.11.1998 mündlich erläutert hat (vgl. Bl. 112 ff. und 162 ff. d.A.).

Auf dieser Grundlage hat das Landgericht die Klage abgewiesen mit der Begründung, ein Behandlungsfehler könne nicht festgestellt werden. Die Krankenschwestern hätten die Heparingaben und ebenso die Anlegung der Antithrombosestrümpfe zur Überzeugung der Kammer glaubhaft bestätigt, die Sachverständigen überzeugend erläutert, daß die Thromboseprophylaxe den im Jahr 1995 geltenden ärztlichen Standard entsprochen habe. Auch die aus objektiver späterer Sicht nicht ausreichende Mobilisierung stelle im konkreten Fall keinen Behandlungsfehler dar, ebensowenig der Umstand, daß Herr S im Einzelzimmer untergebracht gewesen sei. Im übrigen könne weder festgestellt werden, daß die Thrombose in H entstanden sei, noch daß frühere Rettungsmaßnahmen die tödliche Embolie hätten hindern können.

Gegen dieses ihnen am 11.12.1998 zugestellte Urteil haben die Kläger unter dem 11.01.1999 Berufung eingelegt und diese innerhalb verlängerter Frist mit Schriftsatz vom 08.02.1999 begründet.

Sie rügen unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vorbringens die gerichtliche Würdigung sowohl der Zeugenaussagen als auch der sachverständigen Stellungnahmen als einseitig und fehlerhaft und bestreiten nach wie vor die Durchführung einer medikamentösen Thromboseprophylaxe im Rahmen des 1995 geltenden Standards. Ergänzend verweisen sie darauf, daß die Einstichstelle der letzten Heparingabe in dem Obduktionsprotokoll nicht erwähnt sei. Die Beweiswürdigung zur Frage, ob die Antithrombosestrümpfe angelegt worden seien, beruhe auf reiner Spekulation. Der Hinweis auf die Fraktur von BWK 12 könne die Unterlassung jedweder krankengymnastischer Übungsbehandlung nicht rechtfertigen, zumal Herr S zuvor in W schon weitgehend mobilisiert worden sei. Die Kläger verwahren sich gegen Zweifel an der Kausalität der Behandlungsfehler mit der Begründung, daß ihnen nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zum groben Behandlungsfehler Beweiserleichterungen im Kausalitätsbereich bis hin zur Beweislastumkehr zustünden. In der Gesamtschau würden die von der Beklagten zu vertretenden Fehler den Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers rechtfertigen.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des Landgerichts Heilbronn vom 02.12.1998 abzuändern und die Beklagte Ziffer 2 nach den erstinstanzlichen Klaganträgen zu verurteilen.

Die Beklagte Ziffer 2 beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen zur Thromboseprophylaxe und betont, daß eine höhere, adjustierte Heparingabe nur unter intensivmedizinischen Bedingungen möglich sei, deren Voraussetzungen im übrigen bei Herrn S nicht mehr vorgelegen hätten. Allein die Notwendigkeit einer weitergehenden Thromboseprophylaxe könne die Intensivpflichtigkeit nicht begründen, ansonsten müßten 80 % der Patienten der Unfallstation intensivmedizinisch versorgt werden. Der Umstand, daß die Einstichstelle der letzten Heparingabe bei der Obduktion am 21.06.1995 nicht vermerkt worden sei, spreche nicht gegen die dokumentierte Ausführung der Spritze. Die Anlegung der Antithrombosestrümpfe sei durch die glaubhaften Angaben der Krankenschwestern bestätigt worden. Der verzögerte Beginn der vorgesehen krankengymnastischen Übungsbehandlung erkläre sich unter anderem daraus, daß die bei der Aufnahme von Herrn S, am Unfalltag festgestellte BWK-Fraktur in der Klinik in W vollkommen unbehandelt und unbeobachtet geblieben sei. Ohne eine erneute Röntgenkontrolle habe eine weitergehende Mobilisation nicht angeordnet werden dürfen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines ergänzenden mündlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. S; wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 18.01.2000 (Bl. 246-253 d.A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Kläger ist nicht begründet.

Fehler in der medikamentösen Thromboseprophylaxe sind nicht nachgewiesen.

Ihren Verdacht, die ärztlich verordneten Heparinspritzen seien entgegen der Dokumentation in den Krankenakten nicht zur Anwendung gekommen, haben die Kläger nicht belegen können. Die ärztlichen Anordnungen zur Thromboseprophylaxe genügten den bis Mitte 1995 gesicherten medizinischen Erkenntnissen und lagen damit im Rahmen des von der Beklagten Ziffer 2 zu gewährleistenden medizinischen Standards. Soweit Versäumnisse in der zeitgerechten Mobilisation, insbesondere der krankengymnastischen Übungsbehandlung oder bei der physikalischen Prophylaxe durch Anlegung von Antithrombosestrümpfen in Betracht stehen, bleibt offen, ob diese zur Entstehung der Thrombose und der von ihr ausgehenden Lungenembolie beigetragen haben. Dies geht zu Lasten der Kläger, da etwaigen Versäumnissen in diesem Bereich mit Rücksicht auf die begrenzte Schadensneigung nicht das Gewicht eines Beweiserleichterungen im Kausalitätsbereich tragenden groben Behandlungsfehlers beigemessen werden kann.

1. Entgegen der Darstellung der Kläger steht zur Überzeugung des Senats fest, daß der ärztlichen Anordnung folgend bei W S auch nach Verlegung auf die chirurgische Allgemeinstation eine medikamentöse Thromboseprophylaxe mittels subcutaner Spritzen von 2 x täglich 7 500 iE Heparin durchgeführt wurde. Dies ist durch die Eintragungen im Krankenblatt für den Abend des 15.06.1995, am 16.06.1995 morgens und abends sowie auch für den Morgen des 17.06.1995 hinreichend dokumentiert und durch die übereinstimmenden und in sich widerspruchsfreien Aussagen der Zeugen A H, B, G und M H bestätigt. Danach belegen die jeweils hinter der eingetragenen Uhrzeit angebrachten Namenskürzel der jeweiligen Schwester, daß sie dem Patienten die verordnete Heparinspritze auch tatsächlich verabreicht hat. Anhaltspunkte dafür, daß die Eintragungen von den Zeuginnen im nachhinein pflichtwidrig ergänzt worden sein könnten, bestehen nicht. Die Zeugenaussagen der Eltern des Verstorbenen, J und K S sowie seines Bruder J S ihr Sohn bzw. Bruder W habe seinerzeit auf Nachfrage erklärt, er bekomme keinerlei Medikamente und Spritzen mehr, sind nicht geeignet, der in der Tagesroutine zeitnah erstellten Dokumentation und den dazu gegebenen Erläuterungen des gehörten Pflegepersonals die Überzeugungskraft zu nehmen. Insoweit ist - worauf bereits das Landgericht zutreffend hingewiesen hat - zwanglos vorstellbar, daß W S die Heparinspritzen, deren Anwendung verglichen mit der auf der Intensivstation vorausgegangenen intravenösen Gabe für den Patienten unauffällig vonstatten geht, schlicht vergessen oder nicht für erwähnenswert gehalten hat. Auch der Umstand, daß Einstichstellen im Obduktionsprotokoll vom 21.06.1995 nicht vermerkt sind, weckt keine Zweifel an der vom Pflegepersonal dokumentierten und in den Zeugenaussagen bekräftigen subcutanen Heparingabe. Für diese werden nämlich regelmäßig sehr feine Nadeln verwendet, deren Einstiche nach den Erläuterungen des Sachverständigen vier Tage später nicht mehr verläßlich als solche zu erkennen sind.

2. Art und Dosierung der medikamentösen Thromboseprophylaxe mit Heparin entsprachen nach der Beurteilung des Sachverständigen Dr. S die sich der Senat zu eigen macht, im Zeitpunkt der Behandlung dem durch klinische Erprobung gesicherten medizinschen Wissen und können der Beklagten deshalb nicht als Behandlungsfehler angelastet werden.

Nach heutigem Kenntnisstand ist allerdings - so der Sachverständige - für die Gruppe der Hochrisikopatienten mit einem Thromboserisiko zwischen 50 % und 80 %, der W S als Patient zugehörte, eine Prophylaxe durch adjustierte intravenöse Heparingabe in einer Dosierung von 20 000 bis 24 000 iE über 24 Stunden oder aber unter Verwendung von niedermolekularen Heparinen empfohlen. Über die höhere Wirksamkeit und die darin liegenden Vorteile der letztgenannten Wirkstoffgruppe bestand nach Darstellung des Sachverständigen in der medizinischen Diskussion im Jahr 1995 noch keine Einigkeit. Auch gehörte die adjustierte Heparingabe nach den durch Literaturangaben belegten Recherchen des Sachverständigen im Zeitpunkt der Behandlung noch nicht zum sogenannten ärztlichen Standard, dessen Einhaltung die Beklagte Ziffer 2 sicherstellen mußte. Sie ist vielmehr erst aufgrund der Veröffentlichung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie im Heft 3 aus 1995 in der zweiten Hälfte des Jahres 1995 verstärkt diskutiert worden, auch dann noch mit der Empfehlung einer Anwendung nur im intensiv überwachten Bereich. Auf der Normalstation war sie wegen der Notwendigkeit engmaschiger spezieller Laborkontrollen nicht durchführbar. Danach entsprach die subcutane Gabe von 2 x täglich 7 500 iE Heparin als sogenannte "Low-dose" Heparinisierung dem etablierten Standard einer chirurgischen Allgemeinstation; eine darüberhinausgehende Medikation war nach den überzeugenden Erläuterungen des Sachverständigen bei den am 16.06.1995 erhobenen unauffälligen Blutgerinnungsparametern nicht geboten, Dies gilt auch im Blick auf den bei der letzten Blutuntersuchung zu beobachtenden weiteren Anstieg der Thrombozyten auf Werte im Bereich des 1,5-fachen der oberen Normgrenze (677 000). Solche reaktiven Vermehrungen der Thrombozyten sind - so der Sachverständige - nach Verletzungen häufig zu beobachten. Sie werden aber regelmäßig erst bei Überschreitung eines Wertes von 700 000 bis 800 000 durch den Einsatz aggregationshemmender Medikamente behandelt. In diesem Zusammenhang hat der Sachverständige ergänzend darauf hingewiesen, daß auch der - medizinisch nicht veranlaßte - frühere Einsatz sogenannter Aggregationshemmer kaum positive Auswirkungen auf die hier betroffenen Verhältnisse im venösen Blutkreislauf gehabt hätte, weil die entsprechenden Medikamente überwiegend im arteriellen Schenkel des Blutkreislaufs wirken.

3. Auch der Vorwurf einer zu frühen Verlegung des Patienten W S von der Intensivstation auf die chirurgische Allgemeinstation kann die Haftung der Beklagten Ziffer 2 nicht begründen. Hierzu hat der Sachverständige für den Senat überzeugend darauf hingewiesen, daß im Zeitpunkt der durch den Anästhesisten angeordneten Verlegung auf die Allgemeinstation in Ansehung der in den Krankenakten niedergelegten Befunde bei voller Orientierung des Patienten, stabilen Herz-Kreislauf-Verhältnissen, ausreichender Spontanatmung und unauffälligen Reflexen keine Intensivpflichtigkeit gegeben war, so daß die Verlegung medizinisch vertretbar war. Der Sachverständige wollte zwar nicht ausschließen, daß im Einzelfall auch allein ein fortbestehendes hohes Thromboserisiko der Verlegung auf die Allgemeinstation entgegenstehen kann. Nachdem ausweislich der Krankenakten bei der am Morgen des 15.06.1995 auf der Intensivstation durchgeführten gezielten klinischen Untersuchung keinerlei Thrombosezeichen gefunden wurden, kann die Verlegungsentscheidung bei der gebotenen ex ante Betrachtung im konkreten Fall nach der Beurteilung des Sachverständigen, der sich der Senat anschließt, nicht als fehlerhaft kritisiert werden.

4. Neben der medikamentösen Thromboseprophylaxe war allerdings - das wird auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen - eine möglichst frühe Mobilisation des Patienten durch individuell angepaßte krankengymnastische Übungsbehandlung sowie eine physikalische Prophylaxe durch Anlegung von Antithrombosestrümpfen obligat.

a) Die Beklagte Ziffer 2 räumt ein, daß die notwendige, ärztlich auch vorgesehene krankengymnastische Übungsbehandlung nach der am Vormittag des 15.06.1995 erfolgten Verlegung auf die chirurgische Normalstation (noch) nicht zur Anwendung gekommen ist. In diesem Bereich stellt sich die Behandlung deshalb als unzureichend und - weil sie den Standard guter ärztlicher Behandlung unterschreitet - fehlerhaft dar. Der Umstand, daß die behandelnden Ärzte vor weiteren Entscheidungen zur Mobilisation des Patienten eine Röntgenkontrolle der unmittelbar nach dem Unfall am 29.05.1995 festgestellten Fraktur des 12. Brustwirbelkörpers durchführen wollten und die entsprechenden Aufnahmen erst am Nachmittag des 16.06.1995 vorlagen, kann das Unterlassen jedweder krankengymnastischer Übungsbehandlung nicht im vollen Umfang rechtfertigen. Allerdings hat der Sachverständige für den Senat ohne weiteres nachvollziehbar die Erhebung des angeforderten Röntgenbefundes im Sinne einer Verlaufsbeobachtung als unbedingt erforderlich bezeichnet. Eine verantwortliche Entscheidung über Art und Umfang der weiteren Mobilisierung konnte erst auf der Grundlage dieses Befundes getroffen werden. Abgesehen von gewissen zeitlichen Verzögerungen bei der Erhebung und Auswertung des Befundes wäre aber auch vorher schon unter der Annahme einer schonungsbedürftigen Wirbelkörperfraktur eine Mobilisationsbehandlung im Liegen, etwa im Sinne isometrischer Übungen angezeigt gewesen. Daß zumindest solche isometrischen Übungen durchgeführt wurden, läßt sich den Krankenakten nicht entnehmen. Auch die allgemein gehaltenen Äußerungen des Beklagten Ziffer 1 im Senatstermin vom 18.01.2000, den Patienten würde auf der Station üblicherweise unter entsprechender Anleitung vermittelt, daß sie zur Vorbeugung gegen eine Thrombose selbst isometrische Übungen im Bett machen sollten, ist nicht geeignet, deren Durchführung im konkreten Fall zu belegen.

b) Mit dem Landgericht geht der Senat davon aus, daß die ausweislich der Krankenakten für die Dauer des Aufenthalts auf der chirurgischen Allgemeinstation verordneten Antithrombosestrümpfe dem Patienten auch angelegt wurden, wie dies vom Pflegepersonal durch einen entsprechenden Strich in der vorgeschriebenen Zeile "ATS bds" dokumentiert wurde. Dies haben die Zeuginnen A H B C und M H bei ihrer Vernehmung übereinstimmend und gemessen an der Klinikroutine plausibel bestätigt. Dagegen sind die Zeugenaussagen der Eltern, die Antithrombosestrümpfe seien zu keiner Zeit angelegt worden, sondern hätten die ganze Zeit am Ende des Bettes gehangen, wenig überzeugend; sie stehen auch im Widerspruch zu den Angaben der Klägerin Ziffer 1, die für den 16.06.1995 bestätigen konnte, daß ihr Mann die Strümpfe an diesem Tag getragen hat.

Daß die Antithrombosestrümpfe zeitweise ausgezogen wurden, etwa während der morgendlichen Körperpflege etc. (und dann am Fußende des Bettes hingen), ist unschwer vorstellbar und wurde vom Pflegepersonal bestätigt; dies könnte erklären, weshalb die Familienangehörigen des Walter Schmidt, die sich oft schon in den Morgenstunden intensiv um ihn gekümmert haben, auch solche Zeiträume miterlebt und in Erinnerung behalten haben. Nicht bewiesen ist hingegen, daß die Strümpfe ohne sachlichen Grund über längere Zeit am Bettende hängen geblieben sind; eine weitere Aufklärung zu dieser Frage ist auch nicht geboten, weil sich nicht feststellen läßt, daß etwa verbleibende Defizite in diesem Bereich die Lungenembolie verursacht haben.

5. Weder die unzureichende krankengymnastische Übungsbehandlung noch etwa verbleibende Defizite im Bereich der physikalischen Therapie können eine Haftung der Beklagten für die Folgen der bei W S eingetretenen tödlichen Lungenembolie begründen. Nach den Erläuterungen des Sachverständigen läßt sich nicht feststellen, daß die krankengymnastische Beübung des Patienten etwa durch isometrisches Training oder eine noch konsequentere, 24 Stunden ausschöpfende Anlegung der Antithrombosestrümpfe die Thrombose und die nachfolgende Lungenembolie hätten verhindern können. Dies gilt allein schon deshalb, weil nicht gesichert ist, daß der Thrombus nach dem 14.06.1995 während des Aufenthalts auf der allgemeinchirurgischen Station entstanden ist. Die pathologische Beurteilung des thrombotischen bzw. des aus der Lunge entnommenen embolischen Materials als "frisch" bis "wenige Tage alt" schließt die Möglichkeit ein, daß der Thrombus sich bereits vor dem 14.06.1995 während des Aufenthalts in der W Universitätsklinik gebildet hat.

Darüberhinaus hat der Sachverständige die Beantwortung der Frage, ob sich die unterlasse krankengymnastische Übungsbehandlung oder Versäumnisse bei der Anlegung der Antithrombosestrümpfe auf die Entstehung der Thrombose bzw. Embolie ausgewirkt haben, mit Rücksicht auf die geringe Schadensneigung von Unterlassungen in diesem Teil der empfohlenen Antithromboseprophylaxe dem Bereich der Spekulation zugewiesen.

Die verbleibende Ungewißheit in Kausalitätsbereich geht zu Lasten der Kläger, die grundsätzlich nicht nur den Behandlungsfehler, sondern auch dessen Ursächlichkeit für den eingetretenen Schaden zu beweisen haben. Beweiserleichterungen kommen ihnen nicht zugute, weil die in Betracht stehenden Unterlassungen auch im Hinblick auf die vom Sachverständigen erläuterte geringe Schadensneigung nicht als grob fehlerhaft beurteilt werden können. Eine Beweiserleichterung wird nämlich deshalb gewährt, weil das Spektrum der für den Mißerfolg der Behandlung in Betracht kommenden Ursachen wegen der hohen Schadensneigung des Fehlers verbreitert bzw. verschoben worden ist; je unwahrscheinlicher ein solcher ursächlicher Zusammenhang ist, desto geringer wirken sich die durch den Fehler verursachten Aufklärungsversäumnisse aus (vgl. BGH v. 21.09.82 - BGHZ 85, 212, 216 = VersR 1982, 1193, 1195 = AHRS 6555/6; BGH v. 28.06.88 - VersR 1989. 80. 81 = AHRS 6555/9; v. 24.09.96 - VersR 1996, 1535 m.w.N.).

Generell ist ein Behandlungsfehler dann als grob zu bewerten, wenn ein medizinisches Fehlverhalten vorliegt, das aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil ein solcher Fehler dem Arzt oder Pflegepersonal "schlechterdings nicht unterlaufen darf" (BGH v. 27.1.98 - VersR 1998, 585).

Diese Voraussetzungen sind nach den Erläuterungen des Sachverständigen weder in Bezug auf die kritisierte Verzögerung der Mobilisation gegeben, noch treffen sie für etwaige Defizite bei der Anlegung der Antithrombosestrümpfe zu. Zwar wäre eine frühere Mobilisation des Patienten in dem oben angesprochenen Umfang wünschenswert gewesen; die zeitliche Verzögerung im Beginn der geplanten krankengymnastischen Behandlung ist aber zum einen wegen der vorrangigen Röntgenkontrolle der Wirbelsäulenfraktur, zum anderen mit Rücksicht auf den eingeschränkten Dienst am Wochenende nachvollziehbar und erreicht nicht die Dimension einer groben Nachlässigkeit. Im übrigen sind sowohl Versäumnisse im Bereich der krankengymnastischen Behandlung, die ohnehin nur kurze Zeiträume im Tagesablauf erfassen kann, ebenso wie mögliche Versäumnisse bei der Anlegung von Antithrombosestrümpfen in ihren Auswirkungen bestritten, jedenfalls aber der hier regelrecht durchgeführten medikamentösen Prophylaxe gegenüber nachrangig, so dass sie nach der Beurteilung des Sachverständigen, die sich der Senat zu eigen macht, auch mit Rücksicht auf ihre geringe Schadensneigung nicht als gravierend anzusehen sind.

6. Schließlich kann auch der Vorwurf der Kläger, auf der chirurgischen Allgemeinstation seien die Schluckstörungen des Patienten nicht hinreichend beachtet worden, weshalb dieser nur unzureichend mit Flüssigkeit versorgt worden sei, eine Haftung der Beklagten nicht begründen. Hierzu wird auf die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil verwiesen, das zutreffend feststellt, dass ein sich auf die Konsistenz des Blutes auswirkender Flüssigkeitsmangel ausweislich des am 16.6.1995 erhobenen Hämatokritwertes nicht vorgelegen hat.

Die von Klägerseite kritisierte Unterbringung des Patienten in einem Einzelzimmer war weder pflichtwidrig, noch für den durch eine fulminante Lungenembolie hervorgerufenen Tod ursächlich. Der Sachverständige hat hierzu überzeugend darauf hingewiesen, das die im Obduktionsprotokoll vom 21.06.1995 beschriebene beidseitig massive Lungenembolie nach der ärztlichen Erfahrung auch bei sofortiger Intervention kaum hätte überlebt werden können.

Nach allem war die Berufung mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO zurückzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Ziffer 1 C und 711 ZPO.

Ende der Entscheidung

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