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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 20.08.2002
Aktenzeichen: 2 HEs 147/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 121
Auch im Verfahren nach Außervollzugsetzung des Haftbefehls gilt das Beschleunigungsgebot mit Einschränkungen fort. Es ist verletzt, wenn der Haftbefehl neun Monate vollzogen wurde und die Anklage bei im wesentlichen gleich gebliebenem Ermittlungsstand erst vier Jahre nach Aussetzung des Vollzugs erhoben wird.
Oberlandesgericht Stuttgart - 2. Strafsenat - Beschluss

vom 20. August 2002

Geschäftsnummer: 2 HEs 147/02

in der Strafsache

wegen Betruges

Tenor:

Der Haftbefehl des Landgerichts Ravensburg vom 12.07.2002 wird aufgehoben.

Gründe:

Der Angeschuldigte befand sich vom 26.08.1997 bis 06.03.1998 und vom 18.03.1998 bis 02.06.1998 in Untersuchungshaft. Aufgrund in derselben Sache ergangenen, neuen Haftbefehls des Landgerichts Ravensburg vom 12.07.02, der an die Stelle des früheren Haftbefehls des Amtsgerichts Ravensburg vom 26.08.97 getreten ist, befindet sich der Angeschuldigte seit 03.08.02 wieder in Untersuchungshaft.

Die Sache steht abermals zur Haftprüfung heran. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft nach § 121 StPO liegen nicht vor.

Zwar ist der Angeschuldigte - über die im früheren Haftbefehl enthaltenen Einzelfälle und hinaus - der zahlreichen Betrugs - und Untreuestraftaten dringend verdächtig, die ihm - in Übereinstimmung mit der inzwischen erhobenen Anklage - der neu erlassene Haftbefehl vorwirft. Nach dem Ermittlungsergebnis hat der Angeschuldigte in den ihm vorgeworfenen Fällen des Betrugs die Kapitalanleger durch bewusste Täuschung zur Hingabe der Gelder bewogen: Zu den von ihm versprochenen Leistungen war er von vornherein niemals in der Lage; insbesondere verfügte er nicht über Kapitalanlagemöglichkeiten, die er Anliegern vorspiegelte und mit denen die zugesagten Renditen zu erzielen waren - in Einzelfällen bis zu 16 Prozent pro Monat (!); solche existierten nicht; ebensowenig vorgespiegelte Sicherheiten in Form von Bankbürgschaften, Bankgarantien, Ausfallversicherungen u.a.. Der Angeschuldigte verschleierte auch gezielt die wirklichen Geldempfänger. Soweit Geld weitergegeben und nicht für eigene Zwecke bzw. - im sogenannten Schneeballsystem - für kleinere Rückzahlungen an Kunden benutzt wurden, um diesen angebliche Erträge vorzuspiegeln, handelte es sich bei den von ihm als Geldempfänger genannten Firmen und Stiftungen um inaktive Firmen, wie z. B. nach eigener Einlassung die R AG, bzw. um sogenannte Briefkastenfirmen, hinter denen sich in Wirklichkeit er selbst verbarg und die nicht aktiv am Wirtschaftsleben teilnahmen. Potenziellen Kapitalanlegern sollte durch die Nennung der Firmen und "Stiftungen" offensichtlich eine seriöse und sichere Geldanlage vorgespiegelt werden, um sie zu Hergabe von Geld zu bewegen. Entsprechendes gilt, soweit der Angeschuldigte, wie von ihm stammendes schriftliches Informationsmaterial beweist, unter der Rubrik "Sicherheit (eN)" der Wahrheit zu wider darauf hinwies, dass Banken Vertragspartner seien bzw. "Abwicklungsverträge... mit Europäischen Großbanken" bestünden, das eingelegte Groß- Kapital "bankverbürgt" sei etc..

Fluchtgefahr ist beim Angeschuldigten trotz seines fortgeschrittenen Alters nicht fernliegend. Zwar ist er nach Außervollzugssetzung des Haftbefehls lange Zeit seiner Meldepflicht nachgekommen, allerdings nicht mehr nach dem Empfang der Anklageschrift; nach ihm musste gesucht werden. Angeblich hielt er sich für 10 Tage in Thailand auf. Seine Verlässlichkeit ist deshalb zweifelhaft.

Gleichwohl kann der Haftbefehl des Landgerichts Ravensburg nicht aufrechterhalten werden. Es fehlt an einem die Fortdauer der Untersuchungshaft über 9 Monate hinaus rechtfertigenden wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO. Das Ermittlungsverfahren gegen den Angeschuldigten war aufgrund mehrerer Betrugsanzeigen bereits im Februar 1997 in Gang gekommen. Im Juni 1998 hatte sich der Angeschuldigte in dieser Sache - mit Unterbrechung - schon rund 9 Monate in Untersuchungshaft befunden. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Ravensburg wurde im Hinblick auf den damals schon heranstehenden 9 Monats-Haftprüfungstermin vom 04.06.1998 mit Wirkung vom 02.06.1998 gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt. Zu diesem Zeitpunkt war die Aufklärung der dringenden Tatverdacht des vielfachen Betrugs begründenden Umstände im wesentlichen abgeschlossen. Die schriftliche Befragung der im Haftbefehl genannten Geschädigten war ganz überwiegend schon in den Monaten September bis Dezember 1997 erfolgt; ebenso - von wenigen Ausnahmen wie z. B. dem Einzelfall abgesehen - die persönliche Vernehmung der geschädigten Kapitalanleger. Geschäftsunterlagen lagen vor; ebenso Erkenntnisse über Geldflüsse, Konten und Gesellschaften Liechtensteinischen Rechts, denen sich der Angeschuldigte für seine Machenschaften bedient hatte.

Der Auswertung der gewonnenen Erkenntnisse verzögerte sich aber erheblich.

Der Ermittlungsbericht der Kriminalpolizei trägt das Datum 15.01.01; Einzelfallanzeigen, die Eingang in den Haftbefehl und die Anklage gefunden haben, wurden überwiegend unter dem Datum vom 08.01.02 gefertigt. Das gesamte, 29 Stehordner umfassende Aktenwerk wurde anscheinend erst im Januar 02 erstellt - mit durchaus anerkennungswerter, großer Sorgfalt. Verzögerungen beim Abschluss der Ermittlungen hatten sich offenbar nicht zuletzt deshalb ergeben, weil das Landgericht ... - im Gegensatz zu den ... Justizbehörden - Rechtshilfeersuchen der Ermittlungsbehörden aus dem Jahre 1997 mit großer Verzögerung erledigte. Unterlagen ... Banken gelangten so erst im März 2000 (Aktenvermerk Leitzordner VI, 1866) bzw. in den zwei Folgemonaten an die deutschen Ermittlungsbehörden.

Unter dem Datum vom 26.04.02 hat die Staatsanwaltschaft schließlich die Anklageschrift gefertigt, die am 07.05.02 bei Gericht eingegangen ist. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist noch nicht entschieden.

Tatsächlich hätte ein Urteil ohne die eingetretenen Verzögerungen schon vor Erreichen der durch Beschluss des Senats vom 05.03.98 festgesetzten Frist von 9 Monaten Untersuchungshaft ergehen können. Nachdem die Untersuchungshaft zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Jahre 1998 bereits annähernd 9 Monate andauerte, hätte nämlich Anlass bestanden, die Sache beschleunigt weiter zu bearbeiten, was nicht geschehen ist. Je länger die Untersuchungshaft dauert, um so mehr wächst der Beschleunigungsdruck (vgl. Boujong in KK Rdnr. 1 zu § 121 m. w. N.). Der Beschleunigungsdruck ist groß, wenn die Untersuchungshaft schon nahezu 9 Monate gedauert hat, ohne dass die Ermittlungen abgeschlossen worden sind. Der Umstand, dass der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt war, mochte diesen Beschleunigungsdruck zwar abschwächen, er hob ihn aber keineswegs auf. Zwar gilt der strenge Prüfungsmaßstab des § 121 StPO nach dem Wortlaut dieser Bestimmung nur bei vollzogener Untersuchungshaft. Gleichwohl sind auch Zeiten, in denen ein Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist, zu nutzen, um die Ermittlungen weiter voran zu treiben und so schnell wie möglich abzuschließen (vgl. BVfG, NStZ 95, 295 ff.); entsprechendes gilt z. B. für Zeiten, in denen "nur" Überhaft besteht (OLG Stuttgart MDR. 70, 346). Die vorliegende Sache blieb weiterhin eine Haftsache mit bereits erlittener langer Untersuchungshaft; mit der Möglichkeit der Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls war zu rechnen; Beschränkungen in seiner Lebensführung hatte der Beschuldigte auch nach Außervollzugsetzung des Haftbefehls noch zu erleiden. Wären die Ermittlungen, wie geboten, zügig zum Abschluss gebracht worden, worauf zu achten zu den Aufgaben der zuständigen Staatsanwaltschaft gehört, hätte ein Urteil zweifelsohne noch vor Erreichen des 9 Monats-Haftprüfungstermins ergehen können.

Auf der Hand liegt auch, dass die von vornherein wenig erfolgsversprechenden Bemühungen, nach so langer Zeit auf Konten ... Banken noch nennenswerte Geldbeträge zu Gunsten von Kapitalanlegern zu sichern, den Abschluss der Ermittlungen nicht so lange verzögern durfte.

Ende der Entscheidung

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