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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 17.09.2002
Aktenzeichen: 2 Ss 322/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 261
1. Erleidet ein/e Zeuge/in (hier: der Nebenkläger) Kopfverletzungen von erheblicher Intensität, insbesondere verbunden mit einer Bewusstlosigkeit (hier: Schädelverletzungen, die zu einer Unfall bedingten Hirnschädigung mit psychischen Störungen und beidseitiger Sehminderung geführt haben), liegt die Annahme einer retrograden Amnesie (rückwirkender Gedächtnisschwund) so nahe, dass sie entweder durch eine/n Sachverständigen/n ausgeschlossen werden muss oder das Urteil genauere Feststellungen dazu enthalten muss, warum die Auskunftsperson, trotz der Verletzungen, in der Lage war, noch einige Zeit nach Verletzungseintritt Erinnerungen bilden zu können.

2. Da sich eine Auskunftsperson des Phänomens der retrograden Amnesie selbst nicht bewusst ist, glaubt sie an ihre (subjektive) Wahrheit. Ihre Aussage kann dann sowohl im Inhalt als auch in der Präsentation auf erlebnisbegründete Schilderung hinweisende Realitätskriterien (=Realkennzeichen), insbesondere eine körpersprachlich stimmig begleitete Geschehensbeschreibung, enthalten. Dennoch kann es sich bei ihren Angaben um nachträgliche Erklärungen und Rationalisierungen, anstatt echter Erinnerungen, handeln.


Oberlandesgericht Stuttgart - 2. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 2 Ss 322/02

in der Strafsache

wegen ....

Der 2. Strafsenat des Oberlandesgericht hat nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart am 17. September 2002 gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 19. April 2002 aufgehoben.

2. Der Angeklagte wird freigesprochen.

3. Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens sowie die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte ist zunächst am 08. Oktober 2001 vom Amtsgericht Tettnang vom Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung freigesprochen worden. Auf die Berufung des Nebenklägers hin hat das Landgericht Ravensburg das amtsgerichtliche Urteil aufgehoben und den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung zu der Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu jeweils 25.- Euro verurteilt.

Die dagegen vom Angeklagten eingelegte Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat Erfolg. Die Beweiswürdigung ist nicht lückenfrei.

II.

1. Der Verurteilung liegt die Feststellung zu Grunde, der Angeklagte habe am Tattag als Kranführer unter Verstoß gegen Sicherheitsvorschriften ohne ein entsprechendes Kommando des Nebenklägers mit dem Kran eine Stütze nach oben gezogen, deren Ende sich in einer Leiter, auf der der Nebenkläger in einer Höhe von ca. 4 Metern stand, verhakte. Dadurch kam die Leiter zu Fall, und der Nebenkläger stürzte in die Tiefe. Erzog sich schwere Verletzungen zu.

Das Landgericht hält die Einlassung des Angeklagten, der Nebenkläger habe ihm sehr wohl ein Kommando gegeben, für widerlegt. Dabei stützt es seine Überzeugung im wesentlichen auf die Angaben des Nebenklägers.

2. In nicht zu beanstandender Weise würdigt das Landgericht den Inhalt und die Präsentation der Aussage des Nebenklägers und kommt auf Grund einer ausreichenden Anzahl von Realitätskriterien zur Überzeugung, dass der Nebenkläger (subjektiv) wahre Angaben macht.

Richtigerweise setzt sich das Landgericht sodann mit der Frage der Irrtumsfreiheit der Angaben des Nebenklägers auseinander.

Es sei nicht der Eindruck entstanden, der Nebenkläger habe Erinnerungslücken durch Schlussfolgerungen ergänzt oder sich Erklärungen für mögliche bisherige Widersprüche zurecht gelegt (Urteil S. 7). Diesen Eindruck hat die Kammer nach den Ausführungen in der Beweiswürdigung insbesondere aus der detailreichen und körpersprachlich stimmig begleiteten Geschehensschilderung des Nebenklägers erlangt. Auch das ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Vorliegend hat die Kammer aber festgestellt, dass der Nebenkläger schwere Verletzungen, insbesondere Schädelverletzungen erlitten hat. Es sei zu einer unfallbedingten Hirnschädigung mit psychischen Störungen und beidseitiger Sehminderung gekommen. Bei derartigen Verletzungen ist in der Regel von einer retrograden Amnesie (rückwirkender Gedächtnisschwund) der betroffenen Person auszugehen. Das bedeutet, dass Ereignisse, die in den letzten Minuten vor der Kopfverletzung stattgefunden haben, nicht erinnert werden können, weil der einige Zeit in Anspruch nehmende Prozess der Verfestigung von Inhalten im Gedächtnis gestört wurde. In diesen Fällen meint die Auskunftsperson lediglich, sich erinnern zu können. Der endgültige Verlust der wahrgenommenen Inhalte ist umso radikaler, desto kürzer die Zeit ist, seit der die Informationen in das Gedächtnis gelangt waren. Das Vorliegen einer retrograden Amnesie drängt sich nach den Urteilsfeststellungen weiter auch deshalb auf, da im Urteil ausgeführt ist, der Nebenkläger sei "zunächst noch bei Bewusstsein" gewesen (Seite 6). Daraus kann nur auf eine zumindest nachfolgende Ohnmacht geschlossen werden. Eine Ohnmacht aber führt in der Regel jedenfalls zu kurzzeitig retrograden Amnesien. Dem widerspricht der Eindruck, den die Kammer vom Nebenkläger in der Vernehmung erlangt hat, nicht. Weil die Auskunftsperson, sofern eine retrograde Amnesie zu Erinnerungsfehlern geführt hat, dennoch subjektiv die Wahrheit sagt und daran auch als "einzige Wahrheit" glaubt, kann sowohl ihr Aussageninhalt als auch die Aussagenpräsentation entsprechende Realitätskriterien aufweisen.

Demnach hätte es vorliegend der Aufklärung durch einen medizinischen Sachverständigen oder genauerer Feststellungen dazu bedurft, dass der Nebenkläger, trotz seiner Verletzungen, fähig war, noch einige Zeit nach dem Sturz Erinnerungen bilden zu können. Nach den Urteilsfeststellungen hingegen liegt nahe, dass es sich bei den (subjektiv) wahren Angaben des Nebenklägers um nachträgliche Erklärungen und Rationalisierungen handelt.

3. Das Landgericht sieht die Einlassung des Angeklagten als widerlegt an. Insoweit hält die Beweiswürdigung der Überprüfung nicht stand.

Das Argument, die Einlassung des Angeklagten, der Geschädigte habe sehr wohl ein Kommando gegeben, sei auf Grund der Angaben des Nebenklägers widerlegt (Urteil S. 7), trägt bereits aus den obigen Gründen nicht, weil nicht von Irrtumsfreiheit seiner Bekundungen ausgegangen werden kann.

Dass der Zeuge ...... kein Kommando gehört hat (Urteil S. 11), spricht nicht gegen die Einlassung des Angeklagten. Er selbst hat diesen Zeugen zu seiner Entlastung benannt. Damit bietet er die Möglichkeit einer Überprüfung seiner Einlassung an (sogenanntes Verflechtungskriterium). Die Verflechtung stellt ein Realitätskriterium dar, das für wahre Schilderung spricht. Wenn eine Verflechtung nicht bestätigt wird, darf dies grundsätzlich nicht negativ verwertet werden. Vielmehr entfällt dann das entsprechende Realitätskriterium.

Gegen die Einlassung des Angeklagten spreche weiter, dass kein Anlass für ein Kommando bestanden habe (Urteil Seite 11). Der Zeuge .... habe angegeben, selbst wenn eine Stütze zunächst zu tief an der Schalung angelehnt werde, sei es für einen auf der Leiter stehenden Kollegen ohne weiteres möglich, sie mit der Hand näher an die Schalung heranzuziehen, ohne dass er der Hilfe des Krans bedürfe. Insoweit handelt es sich um eine Frage des Einzelfalls. Genaue Feststellungen zu Distanzen müssten getroffen werden. Eine generelle Aussage derart, dass es immer möglich ist, auf der Leiter stehend eine Stütze auch ohne Beteiligung des Krans zu sich heranzuziehen, kann nicht getroffen werden.

Zur Überzeugung des Gerichts hätte der erfahrene Nebenkläger.... im Falle eines "Aufwärts-Kommandos" Sorge dafür getragen, die Stütze von der Leiter entfernt zu halten (Urteil S. 11). Auch dieser Gesichtspunkt kann nicht zur Widerlegung der Einlassung des Angeklagten dienen. Es handelt sich letztlich um reine Spekulation. Immerhin ist festgestellt, dass der Nebenkläger, trotz seiner Erfahrung, die Stütze allein befestigen wollte, obwohl man das gerade aus Gründen der Sicherheit an sich nur zu zweit durfte. Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass nicht auch zuverlässige Menschen im Einzelfall sich einmal in einer Weise verhalten, die Bedingungen für einen Unfall setzt.

Auch dass der Sturz erkennbar durch Überraschung geprägt gewesen sei (Urteil S. 11), widerspricht nicht der Einlassung des Angeklagten. Letztlich ist das jeder Unfall. Wenn der Nebenkläger, wie sich der Angeklagte einlässt, doch ein Kommando gegeben hat, dann hat er mit einer Aufwärtsbewegung des Krans gerechnet, nicht aber damit, dass ihm der Boden unter den Füssen weggezogen wird.

Der Zeuge .... hat zwar nur den Ruf des Nebenklägers, S, gehört, kann aber nicht ausschließen, zuvor auch ein Aufwärtskommando vernommen zu haben (Urteil S. 12). Dies widerlegt nicht die Einlassung des Angeklagten, sondern würde sie eher stützen.

Vorliegend ist folgende Überlegung maßgeblich: Der Angeklagte hatte zunächst die Stütze mit dem Kran in die Baugrube verbracht. Von da an handelte er, weil er selbst keinen Blickkontakt in die Grube hatte, auf Kommandos des Nebenklägers. Es verging nun Zeit, in der der Nebenkläger die Seile an der Stütze lockerte und anschließend auf die Leiter kletterte. Währenddessen unterhielt sich der Angeklagte mit dem Zeugen ..... Er hatte also seine Handlungskette unterbrochen. Dann setzte er seine Handlung fort, indem er nun die Stütze nach oben zog. Dieses neue Ansetzen bzw. Fortfahren mit seiner Handlung nach einer gewissen Unterbrechung setzt einen Entschluss des Angeklagten voraus. Da er nicht sehen konnte, was in der Grube passiert, wie weit der Nebenkläger mit dem Befestigen der Stütze ist, wartete der Angeklagte auf ein Kommando. Nachdem der Nebenkläger auf die Leiter geklettert war, kam es kurzfristig zwischen den beiden zu einem Blickkontakt. Der Nebenkläger bückte sich sodann, und der Angeklagte setzte den Kran wieder in Bewegung. Dafür muss es irgendeinen Anlass gegeben haben. Dies kann doch ein Kommando des Nebenklägers gewesen sein oder irgendeine Geste, ein Zeichen, das der Angeklagte falsch verstanden hat. Dass er ohne jede Veranlassung plötzlich mit seinem Handeln fortfuhr, liegt dagegen fern. Es ist also auch nicht auszuschließen, dass der Angeklagte einem Irrtum unterlegen ist. Damit setzen sich die Urteilsgründe nicht auseinander.

Was sich tatsächlich in jenem Moment ereignet hat, kann nicht mehr geklärt werden. Weshalb die Angaben des Nebenklägers selbst dazu nicht ausreichend sicher sind, wurde oben ausgeführt.

4. Selbst wenn wider aller Erwartung ein/e Sachverständige/r zum jetzigen Zeitpunkt noch die Möglichkeit einer retrograden Amnesie gänzlich ausschließen können sollte, bleibt das Phänomen der Verdrängung, das sich auf die Erinnerung des Nebenklägers ausgewirkt haben kann, und es bleibt die Irrtumsmöglichkeit auf Seiten des Angeklagten in Verbindung mit entsprechenden Rationalisierungen seinerseits.

III.

Da eine weitere Sachaufklärung und die Erkenntnis neuer, gewichtiger Umstände im Fall einer Zurückweisung auszuschließen sind, spricht der Senat, nachdem ein Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung nicht nachgewiesen werden kann, den Angeklagten mit der entsprechenden Kostenfolge frei.

Ende der Entscheidung

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