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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 07.08.2002
Aktenzeichen: 2 Ws 166/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2
StPO § 309 Abs. 2
StPO § 34
1. Eine Entscheidung gem. § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO, die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse nicht aufzuerlegen, bedarf wegen ihres Ausnahmecharakters einer sachlichen Begründung gem. § 34 StPO.

2. Fehlt in einer solchen Auslagenentscheidung jegliche Begründung, führt ihre Anfechtung zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.

3. Es ist unzulässig, die Begründung eines mit der sofortigen Beschwerde angefochtenen Beschlusses durch nachträglich mitgeteilte Erwägungen der Strafkammer (hier: im Vorlageschreiben an das Beschwerdegericht) zu ergänzen.


Oberlandesgericht Stuttgart - 2. Strafsenat - Beschluss

vom 07. August 2002

Geschäftsnummer: 2 Ws 166/02

in der Strafsache

wegen Untreue

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers ... wird die ihn betreffende Auslagenentscheidung im Beschluss des Landgerichts Ulm vom 10. Juli 2002 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers und auch über die Kosten des Rechtsmittels an die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Ulm zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Mit Strafbefehl vom 08. Mai 2000 setzte das Amtsgericht Ulm gegen den Beschwerdeführer wegen sechs Vergehen der Beihilfe zur Untreue eine Geldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 100.- DM fest. Die Untreuehandlungen sollen zum Nachteil der Konkursmasse der ...... in .... im Zeitraum von Dezember 1996 bis November 1997 begangen worden sein. Nachdem der Beschwerdeführer rechtzeitig Einspruch eingelegt hatte, übernahm die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Ulm mit Beschluss vom 21. Februar 2001 das amtsgerichtliche Verfahren und verband es zu der bei der Strafkammer seit 08. März 2000 anhängigen Strafsache gegen den der täterschaftlichen Untreue in sechs Fällen angeklagten Konkursverwalter .... zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung. Mit Beschluss vom selben Tage wurde auch das Hauptverfahren gegen die beiden Angeklagten eröffnet.

Am 06. Dezember 2001 ordnete die Strafkammer wegen drohenden Beweismittelverlustes die Vernehmung des Beschwerdeführers an, bei dem inzwischen eine Hirnleistungsverminderung aufgetreten war. Nach Durchführung der Vernehmung am 12. Dezember 2001 durch einen beauftragten Richter der Strafkammer ordnete die Kammer am 24. Januar 2002 die Einholung eines Sachverständigengutachtens an, welches unter Berücksichtigung der den Angeklagten zur Last gelegten Tathandlungen die Beantwortung von Fragen einerseits zum (korrekten) Verhalten des Angeklagten .... und andererseits zu Art, Höhe und Rechtmäßigkeit der von ihm erhobenen Gebühren zum Gegenstand hatte. In diesem Zusammenhang waren auch die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Beihilfehandlungen Beweisthema. Das schriftliche Gutachten des Sachverständigen, eines Fachanwalts für Insolvenzrecht, ging bei der Strafkammer am 18. Februar 2002 ein.

Nachdem der Vorsitzende mit Verfügung vom 09. Juli 2002 Termin zur Hauptverhandlung auf den 24. Oktober 2002 bestimmt hatte, trennte die Strafkammer mit Beschluss vom 10. Juli 2002 das Verfahren gegen den 75 Jahre alten Beschwerdeführer ab und stellte es gemäß § 206 a Abs. 1 StPO ein, da bei ihm wegen seiner vorliegenden Hirnleistungsminderung eine Besserung seines Gesundheitszustandes und damit die Wiederherstellung der Verhandlungsfähigkeit ausgeschlossen sei. Die Kosten des Verfahrens, nicht jedoch die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers legte die Kammer der Staatskasse auf und begründete ihre Entscheidung (lediglich) mit der Wendung, dass die Kostenentscheidung auf § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO beruhe. Das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde richtet der Beschwerdeführer insoweit gegen die Kostenentscheidung, als seine Auslagen nicht von der Staatskasse erstattet werden.

Erst mit der Vorlage der Akten an den Senat hat der Vorsitzende der Strafkammer kurz mitgeteilt, von welchen Erwägungen sich die Kammer bei der Kostenentscheidung habe leiten lassen.

II.

Die wegen fehlender förmlicher Zustellung der Hauptsacheentscheidung in offener Frist eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig. Insoweit ist der auf der Urschrift angebrachte Rechtskraftvermerk unzutreffend.

Zwar ist die Anfechtung der Kostenentscheidung nach § 464 Abs. 3 Satz 1 StPO nur zulässig, wenn die Anfechtung der Hauptsacheentscheidung statthaft wäre. Gegen die Entscheidung in der Hauptsache kommt hier gemäß § 206 a Abs. 2 StPO die sofortige Beschwerde in Betracht, welche allerdings für den Beschwerdeführer mangels Beschwer nicht zulässig ist. Dennoch genügt die grundsätzliche Möglichkeit eines Rechtsmittels gegen eine Hauptsacheentscheidung nach herrschender Meinung für eine "Statthaftigkeit" im Sinne des § 464 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 StPO, mithin also für die Zulässigkeit der Beschwerde gegen die Auslagenentscheidung (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Auflage, § 206 a Rdnr. 10 i.V.m. § 464 Rdnr. 19 mit Nachweisen zur Rechtsprechung).

Die sofortige Beschwerde hat in der Sache (vorläufigen) Erfolg.

Der angefochtene Beschluss weist einen schwerwiegenden Mangel auf, der zu seiner Aufhebung und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz führt. Die in dem Einstellungsbeschluss zur Begründung der Auslagenentscheidung angeführte Bezugnahme auf die Gesetzesbestimmung des § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO genügt nicht dem Begründungserfordernis des § 34 StPO.

Gemäß § 34 StPO sind die durch ein Rechtsmittel anfechtbaren Entscheidungen mit Gründen zu versehen. Dieser Begründungszwang dient dem Zweck, den Anfechtungsberechtigten in die Lage zu versetzen, eine sachgemäße Entscheidung über die Einlegung des Rechtsmittels zu treffen, d. h. festzustellen, welche Gründe bzw. etwa zu seinem Nachteil angenommene Tatsachen das erkennende Gericht verwertet hat und welcher Vortrag in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in der Rechtsmittelinstanz noch angebracht werden kann. Ferner dient die Begründung dem Rechtsmittelgericht als Grundlage für seine Entscheidung (Kleinknecht / Meyer-Goßner a.a.O. § 34 Rdnr. 1; OLG Düsseldorf VRS 88, 29; SchlHOLG, SchlHA 1993, 223; OLG Oldenburg NJW 1971, 1098, 1099). Diesen Anforderungen genügt der angefochtene Beschluss, der sich zu den Gründen der streitgegenständlichen Auslagenentscheidung in der bloßen Wiedergabe des Gesetzeswortlauts erschöpft, nicht.

Nach dem von der Strafkammer angewendeten § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO kann davon abgesehen werden, die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Hierbei handelt es sich um eine Vorschrift mit Ausnahmecharakter, bei der es darauf ankommt, ob die Belastung der Staatskasse mit den Auslagen des Angeklagten aufgrund besonderer Umstände als unbillig erscheint (LR-Hilger, StPO 25. Auflage, § 467 Rdnr. 56 f.; KK-Francke, StPO 4. Auflage, § 467 Rdnr. 10 b). Entscheidend für die Frage des Absehens von der Auslagenüberbürdung auf die Staatskasse ist, wie die Stärke des Tatverdachts gegen den Angeklagten beschaffen ist (vgl. BGH NStZ 2000, 330, 331). Im Einzelnen ist in der Rechtsprechung umstritten, unter welchen Umständen die für diese gerichtliche Ermessensentscheidung notwendigen Tatbestandsvoraussetzungen bejaht werden können (Schuldspruchreife bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses oder bereits hinreichender Tatverdacht als Billigkeitsgesichtspunkt: vgl. zum Meinungsstand: OLG Hamm, NStZ-RR 2001, 126; vgl. auch BVerfG NJW 1992, 1612, wo allerdings die Festlegung auf einen bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad für die Verurteilung vermieden wird). In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird auch die Meinung vertreten, dass bei einem vorausgegangenen (summarischen) Strafbefehlsverfahren - wie es hier in Bezug auf den Beschwerdeführer vorliegt - die Schuld noch nicht hinreichend geklärt ist und deshalb die Anwendung des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO nicht in Frage kommt (vgl. OLG Zweibrücken NStZ 1989, 134). Allerdings muss bei jeder der zu treffenden Ermessensentscheidungen aus der Begründung deutlich hervorgehen, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung oder -zuweisung handelt, sondern nur um die Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage. Dieser Unterschied muss auch in der Formulierung der Gründe hinreichenden Ausdruck finden (vgl. BGH NStZ 2000, 330, 331; BVerfG NStZ 1992, 289, 290; BVerfG NJW 1992, 1612, 1613; BVerfG NStZ-RR 1996, 45, 46). In der Vergangenheit hat das Bundesverfassungsgericht wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes bereits mehrfach auf die Verfassungsbeschwerde hin nicht ausreichend begründete Auslagenentscheidungen aufgehoben (vgl. BGH NStZ 2000, 330, 331 mit Nachweisen zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht).

Diesem dargelegten Begründungserfordernis wird die hier angefochtene Entscheidung durch die bloße Bezugnahme auf § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO nicht gerecht. Es wird nicht einmal ersichtlich, dass von der Kammer das Ermessen als rechtliche Grundlage der Entscheidung ausgeübt wurde. Soweit der Vorsitzende der Strafkammer in seinem Vorlageschreiben mitgeteilt hat, dass "die Kammer aus naheliegenden Gründen von einer Bewertung der Sach- und Rechtslage in der Kostenentscheidung abgesehen hat", kann dies der Senat insbesondere vor dem Hintergrund der dargelegten Anforderungen an die hier erforderliche Beschlussbegründung nicht teilen.

Für den Fall, dass die Kammer davon ausgegangen sein könnte, die Darlegung ihrer Rechtsmeinung werde etwa ein Misstrauen in die Unparteilichkeit der befassten Richter im Hinblick auf das noch anhängige Strafverfahren gegen den Angeklagten ... rechtfertigen, liegt dieser Gesichtspunkt eher fern. Nach allgemeiner Auffassung stellt die Mitwirkung eines Richters an einer Vorentscheidung in der selben Sache, selbst wenn in ihr die Überzeugung von der Schuld eines Angeklagten zum Ausdruck gekommen ist, keinen Ablehnungsgrund im Sinne von § 24 StPO dar (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner a.a.O. § 24 Rdnr. 12 ff.). Dies gilt erst recht für die in dem Vorlageschreiben an den Senat mitgeteilten Erwägungen, von denen sich die Strafkammer bei der Beschlussfassung zu der Frage der Auslagenentscheidung hat leiten lassen. Allerdings kann diese bloße Mitteilung im Nachhinein eine zunächst fehlende Begründung im Sinne von § 34 StPO nicht ersetzen. Nach eingelegter sofortiger Beschwerde ist eine Ergänzung der Beschlussgründe insoweit nicht mehr zulässig (vgl. § 311 Abs. 3 Satz 1 StPO; OLG München MDR 1987, 782; OLG Hamm NJW 1971, 1471; KK-Maul a.a.O. § 33 Rdnr. 4).

Der aufgezeigte Begründungsmangel rechtfertigt es, dass der Senat entgegen § 309 Abs. 2 StPO ausnahmsweise in der Sache nicht selbst entscheidet; anderenfalls ginge dem Beschwerdeführer eine Instanz verloren (vgl. OLG Düsseldorf VRS 88, 29, 30 mit weiteren Nachweisen). Hinzukommt, dass der Senat in eigener Zuständigkeit und Verantwortung nicht unbeschränkt neue Tatsachen ermitteln und seiner Entscheidung zu Grunde legen kann. Gemäß § 464 Abs. 3 Satz 2 StPO ist das Beschwerdegericht grundsätzlich an die für die Kosten- und Auslagenentscheidung maßgebenden tatsächlichen Feststellung des erkennenden Gerichts gebunden (vgl. BGHSt 26, 29 ff.: jedenfalls Bindung des Revisionsgerichts; vgl. OLG Frankfurt NJW 1981, 2481: Bindung nach Beschwerde gegen einen Einstellungsbeschluss nach § 153 a StPO). Fehlt es an derartigen Feststellungen, ist es demnach geboten, den Ausspruch über die Auslagen aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Zwar kann der Senat dann selbst entscheiden, wenn die Sache einfach liegt und sich die maßgeblichen Tatsachen aus dem sonstigen Akteninhalt zweifelsfrei ergeben (vgl. BGH St 26, 29, 33; OLG Frankfurt NJW 1981, 2481). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Eine Hauptverhandlung war noch nicht begonnen worden. Nach der wegen drohenden Beweismittelverlustes durchgeführten gerichtlichen Vernehmung des Beschwerdeführers, der sich dort auf ein fehlendes Unrechtsbewusstsein berief, hat die Strafkammer in dem offenbar beweismäßig schwierigen Verfahren noch ein schriftliches (Rechts-)Gutachten eingeholt, welches die Korrektheit von Verhaltensweisen des Angeklagten ... in seiner Funktion als Konkursverwalter und weitere Fragen hinsichtlich der Zulässigkeit von tatgegenständlichen Vergütungsvereinbarungen und Zahlungsmodalitäten zum Gegenstand hatte. Der Beschwerdeführer hat nach Abtrennung und Einstellung seines Verfahrens nun keine Gelegenheit mehr, das Ergebnis und die Anknüpfungstatsachen des vorliegenden Gutachtens zu hinterfragen. Angesichts der Komplexität des angeklagten Sachverhalts und vor dem Hintergrund des bisherigen Verteidigungsverhalten des Beschwerdeführers und des Angeklagten ... erscheint es nach Auffassung des Senats angezeigt, die Sache an den Tatrichter zurückzuverweisen, um zunächst dort die anstehende Ermessensentscheidung gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO durchschaubar und überprüfbar zu machen.

Ende der Entscheidung

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