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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 09.01.2008
Aktenzeichen: 3 Ausl. 134/07
Rechtsgebiete: IRG


Vorschriften:

IRG § 1 Abs. 4
IRG § 83 Nr. 3
1. Ein "Fluchtfall" im Sinne von § 83 Nr. 3 IRG setzt voraus, dass der Verfolgte sich bewusst dem Verfahren entzieht, um eine Strafverfolgung zu vereiteln. Ein bloßer Wechsel des Aufenthaltsorts innerhalb der EU genügt hier nicht.

2. Liegt ein "Fluchtfall" nicht vor, so ist die Auslieferung des Verfolgten an einen Mitgliedstaat der EU zur Vollstreckung eines auf Verhandlung in Abwesenheit ergangenen Strafurteils ohne wirkungsvolle Einräumung des Rechts auf ein neues Gerichtsverfahren auch dann unzulässig, wenn unter Zugrundelegung der Regelungen des IRG über die vertraglose Rechtshilfe, des EuAlÜbk und des 2. ZP rechtsstaatliche Mindeststandards gewahrt gewesen wären (hier: fehlende Kommunikation des Verfolgten mit einem von ihm im ersuchenden Staat gewählten Verteidiger).


Oberlandesgericht Stuttgart - 3. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 3 Ausl. 134/07

vom 09. Januar 2008

in der Auslieferungssache

Tenor:

Die Auslieferung des Verfolgten an die Italienische Republik zur Vollstreckung des Urteils des Appellationsgerichts in Palermo vom 16. Dezember 2002 ist nicht zulässig.

Der Auslieferungshaftbefehl des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 20. November 2007 wird aufgehoben.

Der Verfolgte ist in dieser Sache freizulassen.

Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Verfolgten trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

1. Durch Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) und Übermittlung des Begleitpapiers gemäß § 95 Abs. 2 des Schengener Durchführungs-übereinkommens (SDÜ) am 09. Oktober 2007 ersucht das Justizministerium der Italienischen Republik in Rom um Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten. Die Strafe beruht auf der Verurteilung des Verfolgten durch das Appellationsgericht in Palermo vom 16. Dezember 2002, rechtskräftig seit 29. September 2004. Dem Urteil, ergangen auf Verhandlung in Abwesenheit des Verfolgten, liegt nach dem Begleitpapier und einem am 02. November 2007 ergänzend übermittelten Europäischen Haftbefehl folgendes Tatgeschehen zugrunde:

Zwischen dem Verfolgten und P, der Schwester seiner Ehefrau, soll es in A bis zum Jahre 1993 wiederholt zu sexuellen Handlungen gekommen sein, und zwar im Zeitraum von deren fünftem bis zwölftem Lebensjahr. Dabei habe der Verfolgte ihr Geschlechtsteil betastet, sie veranlasst, seine Genitalien zu betasten, und in mehreren Fällen auch den Geschlechtsverkehr mit ihr ausgeführt. Das Geschehene sei am 24. Dezember 1996 offenbar geworden.

2. Der Verfolgte ist laut Ausländerzentralregister am 16. März 1997 zusammen mit seiner Ehefrau nach Deutschland eingereist und lebt seitdem in E. Zum gemeinsamen Haushalt gehören auch die beiden 1987 und 1991 geborenen ehelichen Kinder. Im vorliegenden Auslieferungsverfahren wurde der Verfolgte am 29. Oktober 2007 vorläufig in Haft genommen. Mit Beschluss vom 20. November 2007 ordnete der Senat die Auslieferungshaft an. Bei seinen richterlichen Vernehmungen durch das Amtsgericht S am 30. Oktober und am 28. November 2007 hat der Verfolgte sich mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt und auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes nicht verzichtet. Gegen die Zulässigkeit der Auslieferung wendet er ein: Die Vollstreckung des Abwesenheitsurteils verstoße gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Er sei nie persönlich zur Verhandlung geladen oder auf andere Weise von den gerichtlichen Terminen in Kenntnis gesetzt worden, auch seien ihm die Urteile nie zugestellt worden. Von dem zunächst von ihm beauftragten Verteidiger, Avvocato V, den er auch als Zustellungsbevollmächtigten (domicilio) gewählt habe, habe er weder die Ladungen noch die Urteile und Rechtsmittelbelehrungen erhalten. Außerdem seien, wie sich aus dem Urteil des Appellationsgerichts in Palermo ergebe, sämtliche Zustellungen auch dann noch an Avvocato V erfolgt, als er bereits die Rechtsanwälte L mit seiner Verteidigung beauftragt hatte. Den italienischen Behörden sei seine Anschrift in Deutschland immer bekannt gewesen. So habe er sich in das Melderegister für Auslandsitaliener (AIRE) eintragen und seinen Personalausweis regelmäßig von seiner Heimatgemeinde verlängern lassen; des weiteren habe er regelmäßige Kontakte zum italienischen Generalkonsulat unterhalten. Eine persönliche Ladung im Rechtshilfewege wäre deshalb jederzeit möglich gewesen. Aufgrund der fehlerhaften Ladungen und Zustellungen unterliege nach Art. 175 Abs. 2 CPP das italienische Verfahren der Wiederaufnahme.

Außerdem liege ein Bewilligungshindernis nach § 83 b Abs. 2 IRG vor. Er lebe zusammen mit Ehefrau und Kindern seit vielen Jahren in Deutschland und gehe hier einer geregelten Arbeit nach. Die gemeinsamen Kinder seien hier noch in der Ausbildung. Sein Lebensmittelpunkt liege in Deutschland, zu Italien habe er keine Bindungen mehr. Eine Vollstreckung des Urteils in Italien würde für ihn eine besondere Härte bedeuten. Da von seiner Ehefrau und von den Kindern nicht erwartet werden könne, ihre Existenz in Deutschland für eine ungewisse Zukunft in Italien aufzugeben, wäre eine Zerstörung der Familie die Folge. Eine Auslieferung wäre deshalb ein Verstoß gegen sein Grundrecht aus Art. 6 GG.

II.

Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung des Verfolgten gemäß § 29 Abs. 1 IRG gerichtlich für zulässig zu erklären, kann nicht entsprochen werden. Die Auslieferung des Verfolgten ist vielmehr nach § 83 Nr. 3 IRG unzulässig, da das zu vollstreckende Urteil auf einer Verhandlung in Abwesenheit des Verfolgten beruht und ein in dieser Bestimmung vorgesehener Ausnahmetatbestand nicht vorliegt.

1. Zulässig wäre die Auslieferung des Verfolgten, wenn er zu dem Termin, der zu dem Abwesenheitsurteil geführt hat, persönlich geladen worden wäre oder wenn er von diesem Termin auf andere Weise unterrichtet worden wäre. Der in § 83 Nr. 3 IRG - abweichend etwa von §§ 216, 37 StPO - verwendete Begriff "persönlich" macht dabei deutlich, dass die Ladung oder die Unterrichtung auf andere Weise den Verfolgten in Person erreicht haben muss. Dies bedarf eines sicheren Nachweises (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 52; StV 2004, 547; zur Rechtslage vor Inkrafttreten des EuHBG OLG Düsseldorf NStZ 1987, 370). Die bloße Möglichkeit einer Kenntnisnahme genügt nicht, ebenso wenig die Zustellung der Ladung an einen Dritten (OLG Karlsruhe aaO.). Nach dem klaren Gesetzeswortlaut genügt auch nicht die Zustellung an einen Bevollmächtigten, wie hier etwa gemäß Art. 161 ff. CPP an einen Vertrauensanwalt auf Grund eines dort gewählten Domizils (vgl. OLG Karlsruhe StV 2004, 547; noch offen in OLG Stuttgart NStZ-RR 2006, 116; zur früheren Rechtslage unten 4 a).

Eine an den Verfolgten persönlich gerichtete Ladung zu einem Hauptverhandlungstermin ist schon nach dem Inhalt der Auslieferungsunterlagen nicht ergangen. Dem Senat sind auch keine sicheren Feststellungen dazu möglich, ob der Verfolgte von den als Verteidiger gewählten bzw. als Zustellungsbevollmächtigten benannten Rechtsanwälten persönlich von einem Verhandlungstermin unterrichtet wurde. Von einem Ersuchen an die italienischen Behörden um Vernehmung dieser Personen als Zeugen sieht der Senat ab. Der Europäische Haftbefehl beschränkt sich bewusst auf die Mitteilung, dass der Verfolgte im Termin von einem Wahlverteidiger vertreten war.

2. Zulässig wäre die Auslieferung auch, wenn der Verfolgte eine persönliche Ladung durch Flucht verhindert hätte. Der Begriff der Flucht setzt indes als finales Element ein bewusstes Sichentziehen zu dem Zweck voraus, eine Strafverfolgung zu vereiteln (vgl. Böhm NJW 2006, 2592, 2596). Ein "Fluchtfall" liegt deshalb nicht schon bei bloßem Wechsel des Aufenthaltsorts vor. Dies gilt angesichts der hier mittlerweile bestehenden Rechtshilfemöglichkeiten insbesondere bei einer Wohnsitzverlegung innerhalb der EU.

Auch im weiteren Verfahrensgang konnten keine Erkenntnisse gewonnen werden, welche die Einlassung des Verfolgten widerlegen, trotz seines Umzugs nach Deutschland sei den italienischen Behörden sein Aufenthalt jederzeit bekannt und eine persönliche Ladung jederzeit möglich gewesen. Der zeitliche Zusammenhang zwischen der Entdeckung der Tat und der Ausreise nach Deutschland bleibt nur undeutlich.

3. Der Senat sieht schließlich davon ab, die italienischen Behörden um eine Erklärung zu ersuchen, ob dem Verfolgten nach einer Überstellung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren und auf Anwesenheit bei der Verhandlung eingeräumt wird. Solche Ersuchen bleiben regelmäßig ohne Erfolg (vgl. auch KG, Beschluss vom 20. 12. 2004 - [4] Ausl. A. 766/02-). Der nach italienischem Recht allein eröffnete Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Erhebung eines Rechtsmittels gemäß Art. 175 Abs. 2 - 4 CPP ist wegen der Beweislastregelung in Abs. 2 und der aus der Auslieferungshaft kaum zu wahrenden 10-Tages-Frist in Abs. 3 für sich jedenfalls so lange kein wirkungsvoller Rechtsbehelf zur Wahrung des Rechts auf Verteidigung wie eine Auslegung im Lichte von Art. 6 EMRK seitens der italienischen Gerichte nicht gewährleistet ist (BGHSt 47, 120).

4. Am Ergebnis ändert nichts, dass die Auslieferung des Verfolgten unter Zugrundelegung der gesetzlichen Regelungen über die vertraglose Rechtshilfe, der Bestimmungen des Europäischen Auslieferungsabkommens und dessen Zweiten Zusatzprotokolls sowie der hierzu ergangenen Rechtsprechung rechtsstaatlichen Mindeststandards nicht widersprochen hätte und deshalb zulässig gewesen wäre.

a) Danach wäre die Frage, ob die Vollstreckung eines auf Verhandlung in Abwesenheit beruhenden Urteils einen Verstoß gegen gesicherte rechtsstaatliche Mindeststandards darstellt, nach den konkreten Umständen des Einzelfalles zu beurteilen (vgl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, § 73 IRG Rn. 81). Zur Wahrung des Rechts auf Verteidigung wäre erforderlich, aber auch ausreichend, dass ein Beschuldigter die tatsächliche, nicht nur theoretische Möglichkeit hat, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen und deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung sowie gegebenenfalls deren Berücksichtigung zu erreichen (BVerfGE 63, 332; BVerfG NJW 1991, 1411). Diesen Anforderungen entsprach das gegen den Verfolgten in Italien durchgeführte Strafverfahren. Dessen Einleitung war dem Verfolgten bekannt. So hat er einen Wahlverteidiger mit seiner Verteidigung beauftragt und diesen später auch gewechselt. Jedenfalls einer der beiden zuletzt beauftragten Wahlverteidiger, Rechtsanwalt L, war nach den vom Verfolgten nicht in Abrede gestellten Angaben im Europäischen Haftbefehl auch bei der Verhandlung anwesend. Über seine Wahlverteidiger hatte der Verfolgte deshalb ohne weiteres die Möglichkeit, sich Kenntnis von einem Hauptverhandlungstermin zu verschaffen und - für den Fall des Entschlusses, der Hauptverhandlung fernzubleiben - seine Einlassung vortragen und etwaige Beweise benennen zu lassen. Hätte der Verfolgte in Kenntnis des laufenden Verfahrens darauf verzichtet, Kontakt mit seinen Wahlverteidigern zu halten und von den über sie bestehenden Einflussmöglichkeiten Gebrauch zu machen, so hätte er sich seiner Rechte selbst begeben (OLG Hamm NStZ-RR 2001, 62).

b) Indessen sind diese Grundsätze auf Ersuchen von Mitgliedstaaten der Europäischen Union um Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils nicht mehr - auch nicht hilfsweise über § 1 Abs. 4 Satz 3 IRG - anwendbar, da § 83 Nr. 3 IRG in der Fassung des EuHbG vom 20. Juli 2006 hierfür nunmehr eine abschließende Sonderregelung trifft (zum EuHbG vom 21. Juli 2004 KG, Beschluss vom 20. 12. 2005 -[4] Ausl. A. 766/02-). Mit § 83 Nr. 3 IRG hat der Gesetzgeber bewusst - teilweise - von der in Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 (ABlEG L 190 vom 13. Juni 2002) zugestandenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils über den Acquis des Europäischen Auslieferungsabkommens und dessen Zweiten Zusatzprotokolls hinaus zu beschränken (zum EuHbG vom 21. Juli 2004 KG aaO.). Obwohl die Problematik dieser Beschränkung in der Folge bekannt war, sollte mit § 83 Nr. 3 IRG in der Fassung des EuHbG vom 20. Juli 2006 das Auslieferungshindernis des Abwesenheitsurteils ausdrücklich nur in "Fluchtfällen" entfallen (BT-Drs. 16/1024, 23). Die Regelung ist zu verstehen als Konkretisierung der im Zweiten Zusatzprotokoll zum Europäischen Auslieferungsabkommen nur pauschal erwähnten "Mindestrechte der Verteidigung" (vgl. KG aaO.).

Schon vor Inkrafttreten des EuHbG wurde die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils zulässig ist, in Fortentwicklung rechtsstaatlicher Grundsätze immer einschränkender entschieden (OLG Düsseldorf NStZ 1987, 370). Aufgrund der bereits erwähnten Fahndungs- und Rechtshilfemöglichkeiten ist, jedenfalls außerhalb von "Fluchtfällen", im EU-Bereich ein auf Gründen effektiver Strafverfolgung beruhendes Bedürfnis nach Verurteilungen in Abwesenheit mittlerweile nicht mehr anzuerkennen.

5. Auf die Frage, ob die Generalstaatsanwaltschaft ihr Ermessen dahin auszuüben gehabt hätte, ein Bewilligungshindernis aus § 83 b Abs. 2 Buchst. b IRG geltend zu machen, kommt es danach nicht mehr an.

III.

Da sich die Auslieferung des Verfolgten als unzulässig erweist, ist der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 20. November 2007 aufzuheben.

IV.

Die Entscheidung über die Kosten und Auslagen ergibt sich aus § 77 IRG in Verbindung mit einer sinngemäßen Anwendung von § 467 StPO.

Ende der Entscheidung

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