Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 16.08.2004
Aktenzeichen: 3 Ausl. 59/04
Rechtsgebiete: EuAlÜbk


Vorschriften:

EuAlÜbk Art. 6 Abs. 2
EuRhÜbk Art. 21
Die Stellung eines Ersuchens um Unterbreitung der Angelegenheit an die zuständigen Behörden des anderen Staates nach Art. 6 Abs. 2 EuAlÜbk oder die Anzeige zum Zwecke der Strafverfolgung nach Art. 21 EuRhÜbk führen für sich allein noch nicht zu einem Verfolgungshindernis. Vielmehr können sich hieraus Beschränkungen für die weitere Strafverfolgung im "abgebenden" Staat nur dann ergeben, wenn und soweit sie Gegenstand ergänzender - bilateraler oder multilateraler - völkerrechtlicher Vereinbarungen sind.
Gründe:

I.

1. Mit Verbalnote vom 27. Juli 2004 an das Justizministerium Baden - Württemberg ersucht die Botschaft der Französischen Republik in Berlin namens der französischen Regierung um Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung. Dem Ersuchen liegt der Haftbefehl der Strafkammer beim Appellationsgerichtshof in Colmar vom 1. Juli 1999 ... zugrunde, der folgenden Tatvorwurf zum Gegenstand hat:

Der Verfolgte und sein Bruder A. sollen am 01. Januar 1998 ... in Mulhouse/Frankreich ... in gewolltem Zusammenwirken aus Anlass einer Familienstreitigkeit insgesamt 21 Schüsse aus zwei Pistolen des Kalibers 9 bzw. 6,35 mm auf ihren Schwager M. abgegeben und ihn so getötet haben.

Wegen dieser Tat hat die Schwurgerichtskammer beim Appellationsgerichtshof in Colmar den Verfolgten am 11. September 2000 in Abwesenheit im sog. Kontumazialverfahren nach Art. 627 ff. Code de procédure pénale wegen Mordes (assassinat) zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die angewandten Strafvorschriften des Code pénal lauten (in sinngemäßer Übersetzung durch den Senat):

Art. 221-1. Die vorsätzliche Tötung eines anderen ist Totschlag. Der Täter wird mit dreißig Jahren Zuchthausstrafe bestraft.

Art. 221-3. (1) Der mit Vorbedacht begangene Totschlag ist Mord. Der Täter wird mit lebenslanger Zuchthausstrafe bestraft.

A. wurde, worauf das Ersuchen hinweist, in der Berufungsinstanz freigesprochen.

2. Der flüchtige Verfolgte wurde aufgrund einer vorangegangenen Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) am 08. Juli 2004 bei seiner Einreise aus der Türkei am Flughafen Stuttgart festgestellt und vorläufig in Haft genommen. Das Amtsgericht N. erließ am 09. Juli 2004 eine Festhalteanordnung nach § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG; mit Beschluss vom 20. Juli 2004 ordnete der Senat die vorläufige Auslieferungshaft an. Bei den richterlichen Anhörungen am 09. Juli 2004 gemäß § 22 Abs. 2 IRG sowie am 26. Juli 2004 anlässlich der Eröffnung des vorläufigen Auslieferungshaftbefehls hat der Verfolgte sich mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt und auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes nicht verzichtet.

Gegen die Zulässigkeit der Auslieferung und die Auslieferungshaft wendet er sinngemäß ein, die Französische Republik habe mit Schreiben ihres Justizministeriums vom 07. Januar 2002 ... an das Justizministerium der Republik Türkei die Republik Türkei um Übernahme der Strafverfolgung ersucht und damit auf die Ausübung der französischen Strafgerichtsbarkeit verzichtet. Wegen der ihm zur Last gelegten Tat sei mittlerweile vor dem Schwurgericht in Ünye/Türkei ... ein Strafverfahren gegen ihn anhängig, in welchem er am 22. Mai 2002 gegen eine Sicherheitsleistung von 2 Mio. Türkische Lire auf freien Fuß gesetzt worden sei.

3. Zu den Einwendungen des Verfolgten hat sich der Generalstaatsanwalt beim Appellationsgericht in Colmar in der den Auslieferungsunterlagen angeschlossenen Sachverhaltsdarstellung vom 15. Juli 2004 dahin geäußert, es sei richtig, dass er den türkischen Behörden mit Schreiben vom 18. Dezember 2001, weitergeleitet durch das französische Justizministerium, eine förmliche Anzeige zum Zwecke der Strafverfolgung im Sinne von Art. 21 EuRhÜbk übermittelt habe. Dies hindere aber nicht die weitere Verfolgung der Tat in Frankreich. Da eine Aburteilung der Tat in der Türkei noch ausstehe, komme auch der Grundsatz "ne bis in idem" nicht zur Anwendung.

Mit Schreiben vom 02. August 2004 hat das türkische Generalkonsulat in Stuttgart eine Stellungnahme des türkischen Justizministeriums zu dem französischen Auslieferungsbegehren übersandt. Einer Auslieferung des Verfolgten an die Französische Republik wird darin ausdrücklich widersprochen. Auch wenn Frankreich dem Europäischen Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung nicht beigetreten sei, habe es doch mit der Anzeige nach Art. 21 EuRhÜbk die Strafverfolgung den türkischen Behörden übertragen. Sowohl der Beschuldigte als auch das Opfer seien türkischer Nationalität. Frankreich habe, so sinngemäß die Stellungnahme, die Aburteilung in der Türkei abzuwarten und das eigene Strafverfahren sodann nach dem Grundsatz "ne bis in idem" einzustellen.

Das Schreiben des Generalstaatsanwalts beim Appellationsgericht in Colmar vom 18. Dezember 2001 und das Weiterleitungsschreiben des französischen Justizministeriums vom 07. Januar 2002 hat der Verfolgte in deutscher Übersetzung zu den Auslieferungsakten gegeben. II.

Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, den Verfolgten gemäß § 15 IRG in Auslieferungshaft zu nehmen, ist zu entsprechen.

1. Ein Auslieferungsersuchen, das nach Form und Inhalt den in Art. 12 EuAlÜbk, Art. 65 SDÜ bestimmten Erfordernissen entspricht, ist eingegangen.

2. Eine Auslieferung des Verfolgten erscheint weiterhin nicht von vornherein unzulässig (§ 15 Abs. 2 IRG).

a) Auslieferungsfähigkeit ist gegeben (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EuAlÜbk). Die französischen Behörden werten das Geschehen als Mord (Art. 221-1 und 221-3 Code pénal), der mit lebenslanger Zuchthausstrafe bedroht ist. Nach deutschem Recht erfüllt das dem Verfolgten vorgeworfene Tatgeschehen jedenfalls den Tatbestand des Totschlags (§ 212 StGB), der mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bedroht ist.

b) Das Erfordernis der Verfolgbarkeit der Tat in der Französischen Republik als ersuchendem Staat ist ebenfalls gewahrt.

aa) Nach Art. 113-2 Code pénal beansprucht das französische Strafgesetz anknüpfend an das Territorialitätsprinzip Geltung für Taten, die - wie hier - auf französischem Staatsgebiet begangen werden. Allein der Umstand, dass hinsichtlich desselben Tatgeschehens neben dem ersuchenden Staat auch ein dritter Staat die Strafgewalt für sich in Anspruch nimmt, so bei dessen innerstaatlicher Anknüpfung des Strafrechts an das aktive oder das passive Personalitätsprinzip (hier: Art. 5, 6 türkisches Strafgesetzbuch), beseitigt nicht den Strafanspruch des ersuchenden Staates. Von Rechts wegen kommt keinem der konkurrierenden Strafansprüche der Vorrang zu (zur Mehrheit von Auslieferungsersuchen vgl. Vogel, in: Grützner-Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, vor § 1 IRG Rn. 95). Gleichermaßen könnte der Grundsatz "ne bis in idem" die Verfolgung der Tat in Frankreich selbst dann nicht hindern, wenn sie in der Türkei bereits abgeurteilt wäre. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts des Inhalts, dass eine Person wegen desselben Lebenssachverhalts, dessentwegen sie bereits in einem dritten Staat zu Freiheitsentzug verurteilt wurde, in einem anderen Staat nicht neuerlich angeklagt oder verurteilt werden darf, besteht jedenfalls derzeit noch nicht (BVerfGE 75, 1; BVerfG -K- vom 09. Juli 1997 -2 BvR 3028/95-; OLG Bamberg StV 1997, 649; Vogel aaO; Schomburg/Lagodny Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 3. Aufl., Einl. Rn. 73; Schomburg NJW 1995, 1931, 1933).

bb) Im Verhältnis der Französischen Republik zur Republik Türkei gelten, soweit ersichtlich, auch keine bilateralen oder multilateralen Abkommen, die den oben dargestellten Grundsätzen entgegen eine weitere Verfolgung der Tat durch die französischen Behörden ausschließen. Dem Europäischen Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung vom 15. Mai 1972 (ETS Nr. 73), aus dessen Art. 30 ff. sich - eingeschränkte - Verfolgungshindernisse ergeben, ist die Französische Republik nicht beigetreten. Die Stellung eines Ersuchens um Unterbreitung der Angelegenheit an die zuständigen Behörden des anderen Staates nach Art. 6 Abs. 2 EuAlÜbk oder die Anzeige zum Zwecke der Strafverfolgung nach Art. 21 EuRhÜbk führen für sich allein noch nicht zu einem Verfolgungshindernis. Vielmehr können sich hieraus Beschränkungen für die weitere Strafverfolgung im "abgebenden" Staat nur dann ergeben, wenn und soweit sie Gegenstand ergänzender - bilateraler oder multilateraler - völkerrechtlicher Vereinbarungen sind (BGHSt 45, 123 = NJW 1999, 478; vgl. auch BGH GA 1977, 111; ebenso Vogel aaO Rn. 94; Schomburg aaO [Fußn. 29]; auf "Anerkennung" des Verfahrenshindernisses durch den abgebenden Staat stellt auch OLG Karlsruhe NStZ 1988, 135 ab; unklar im Anschluss NStZ-RR 1997, 285; a. A. Schomburg/Lagodny aaO Art. 6 EuAlÜbk Rn. 5; Art. 21 EuRhÜbk Rn. 2). So sind Verfolgungshindernisse nach einer Anzeige gemäß Art. 21 EuRhÜbk - teils unterschiedlichen Umfangs - vorgesehen in den von der Bundesrepublik Deutschland mit anderen Staaten abgeschlossenen Ergänzungsverträgen zum EuRhÜbk, ausgenommen der deutsch-französische Ergänzungsvertrag vom 20. April 1959. cc) Dass die Französische Republik konkret im Falle des Verfolgten durch völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung auf die Ausübung französischer Gerichtsbarkeit verzichtet hat, ist, wie bereits im Beschluss vom 20. Juli 2004 dargelegt, nicht anzunehmen. Weder aus dem Wortlaut des Schreibens des Generalstaatsanwalts beim Appellationsgericht in Colmar vom 18. Dezember 2001 noch aus dem des Weiterleitungsschreibens des französischen Justizministeriums vom 07. Januar 2002 kann geschlossen werden, dass den Erklärungen der französischen Seite Rechtswirkungen beikommen sollten, die über die Folgen einer Anzeige nach Art. 21 EuRhÜbk hinausgehen.

c) Das Ersuchen stellt nunmehr klar, dass die französischen Behörden - anders als noch aus dem Begleitpapier nach Art. 95 Abs. 2 SDÜ zu schließen war - die Auslieferung des Verfolgten nicht zum Zwecke der Vollstreckung einer von der Schwurgerichtskammer beim Appellationsgerichtshof in Colmar in Abwesenheit des Verfolgten verhängten lebenslangen Zuchthausstrafe begehren. Die Entscheidung der Schwurgerichtskammer vom 11. September 2000 ist nur vorläufiger Art; vergleichbar einer Sicherungs- und Fahndungsmaßnahme wird sie hinfällig, wenn der Beschuldigte in Gewahrsam genommen wird (Art. 639 Code de procédure pénale). So weist auch die Sachverhaltsdarstellung des Generalstaatsanwalts beim Appellationsgerichtshof in Colmar vom 15. Juli 2004 darauf hin, dass im Falle der Auslieferung notwendigerweise ein neues Verfahren stattzufinden habe.

3. Es besteht weiterhin die Gefahr, der Verfolgte werde sich, käme er auf freien Fuß, dem weiteren Auslieferungsverfahren und einer späteren Auslieferung entziehen (§§ 16 Abs. 1, 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG).

Ende der Entscheidung

Zurück