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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Urteil verkündet am 11.04.2001
Aktenzeichen: 3 U 155/00
Rechtsgebiete: HGB, ZPO, EuGVÜ, EMRK


Vorschriften:

HGB § 89 a
HGB § 89 a Abs. 2
ZPO § 539
ZPO § 261 Abs. 3 Nr. 1
ZPO § 36
ZPO § 167
EuGVÜ Art. 21
EuGVÜ Art. 21 I
EuGVÜ Art. 22
EuGVÜ Art. 27 Nr. 3
EuGVÜ Art. 6 Nr. 3
EMRK Art. 6
Leitsatz:

1. Der positiven Feststellungsklage des Unternehmers, es habe ein wichtiger Grund für die von ihm ausgesprochen Kündigung des Handelsvertretungsvertrages vorgelegen und der Schadensersatzklage des Handelsvertreters gem. § 89 a HGB aufgrund einer der Kündigung des Unternehmers nachfolgenden Kündigung des Handelsvetreters liegt "derselbe Anspruch" i.S.d. Art. 21 EuGVÜ zugrunde.

2. Gerichtsentscheidungen, die wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 21 I EuGVÜ nicht hätten ergehen dürfen, können im Rechtsmittelverfahren aufgehoben werden.


Oberlandesgericht Stuttgart - 3. Zivilsenat - Im Namen des Volkes Urteil

Geschäftsnummer: 3 U 155/00 5 KfH O 117/99 LG Stuttgart

Verkündet am 11. April 2001

Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle (Strobel) JS'in(b)

In Sachen

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart auf die mündliche Verhandlung vom 7.2.2001 unter Mitwirkung

des Richters am OLG Pfeiffer, des Richters am OLG Rumler, des Richters am AG Weber

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der 5. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Stuttgart vom 19.6.2000 - 5 KfH O 117/99 - sowie das dem Urteil zu Grunde liegende Verfahren aufgehoben und der Rechtsstreit an das Landgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Berufung - zurückverwiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

Beschwer der Parteien und Streitwert des Berufungsverfahrens: 46.000,00 DM

Tatbestand:

Die Klägerin macht gegen die Beklagte einen Schadensersatzanspruch gemäß § 89 a Abs. 2 HGB geltend.

Zwischen der Beklagten, einer Produzentin von Aluminiumdruckgusstellen mit Sitz in Ancona/Italien, und der Klägerin, einer Handelsvertreterin mit Sitz in Leinfelden-Echterdingen, wurde vereinbart, dass der zwischen der Beklagten und der Firma D-P Engineering S.A., CH Aubonne/Schweiz, am 22.7./20.8.1993 geschlossene Handelsvertretervertrag über die Alleinvertretung der Beklagten für den Bezirk Baden-Württemberg nach Auflösung der Firma D-P Engineering S.A. zum 31.12.1994 zwischen den Parteien direkte Gültigkeit hat.

In diesem Handelsvertretungsvertrag in italienisch/deutscher Fassung sind u.a. folgende Regelungen enthalten:

9. Maßgebend für das Vertragsverhältnis ist im übrigen das am Sitz des Handelsvertreters geltende Recht.

10. Gerichtsstand für etwaige Rechtsstreitigkeiten ist der Sitz der Klägers.

Von Juli 1997 bis März 1998 kam es zwischen den Parteien zu mehrfachem Schriftwechsel und Gesprächen über die Beendigung oder Fortsetzung des Vertragsverhältnisses. Mit Fax vom 13.3.1998 kündigte die Beklagte das Handelsvertretungsverhältnis zum 31.3.1998 und bot der Klägerin eine Abfindung in Höhe von 120.000,00 DM an. Die Beklagte widersprach einer vorzeitigen Vertragsbeendigung, da diese Summe ihren Vorstellungen bei weitem nicht entsprach. Mit Schreiben vom 31.3.1998 bestand die Beklagte auf einer sofortigen Beendigung des Vertragsverhältnisses. Nach weiterer Korrespondenz erklärte die Klägerin mit Schreiben vom 22.4.1998 nun ihrerseits die fristlose Kündigung des Vertrages und forderte die Beklagte zur Abrechnung und Auszahlung noch geschuldeter Provisionen auf sowie zur Zahlung eines Schadensersatzes in Höhe von 52.276,00 DM.

Am 15.7.1998 reichte die Beklagte beim Tribunale di Ancona/Italien Klage gegen die Klägerin ein (Anl. K 21).

Sie beantragte festzustellen,

- dass ein wichtiger Grund für die von der Beklagten ausgesprochene Kündigung vorgelegen habe,

- dass die Klägerin zum Ersatz der der Beklagten durch Nichterfüllung entstandenen Schäden verpflichtet sei und zur Bezahlung eines Betrages verurteilt werden solle, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde,

- dass der Klägerin kein Ausgleichsanspruch nach Vertragsbeendigung zustehe,

hilfsweise dazu:

dass das Verhalten der Klägerin einer Zuerkennung der maximalen Höhe des Ausgleichs bei Vertragsbeendigung entgegenstehe und demzufolge das Gericht die Höhe des zu zahlenden Ausgleichs nach Billigkeit festlegen solle.

Die Klage wurde der Klägerin zusammen mit der Terminsbestimmung auf 1.3.1999 zugestellt.

Am 16.9.1999 reichte die Klägerin beim Landgericht Stuttgart eine Klage gegen die Beklagte ein, mit der sie deren Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 49.573,22 DM nebst Zinsen erstrebt.

Die Klägerin hat vorgetragen,

die von der Beklagten ausgesprochene fristlose Kündigung sei unwirksam, da es an einem wichtigen Grund hierfür mangele. Aufgrund dieser unberechtigten fristlosen Kündigung der Beklagten sei sie nun ihrerseits berechtigt gewesen, das Vertragsverhältnis durch fristlose Kündigung mit Wirkung zum 23.4.1998 zu beenden. Für die Zeit bis zur ordnungsgemäßen Beendigung des Vertrages zum 30.6.1998 schulde die Beklagte daher Schadensersatz, welcher sich in Höhe der durchschnittlichen monatlichen Provisionszahlungen abzüglich ersparter Aufwendungen darstelle.

Die Klägerin hat vordem Landgericht beantragt,

die Beklagte zur Zahlung von 49.573, 22 DM nebst 5 % Zinsen seit 24.7.9998 zu verurteilen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat hierzu vorgetragen,

die Klage sei unzulässig, da derselbe Anspruch zuerst beim Tribunale di Ancona anhängig geworden sei. Das Landgericht Stuttgart habe sich deshalb gemäß Art. 21 EuGVÜ für unzuständig zu erklären oder jedenfalls das Verfahren bis zur Entscheidung des italienischen Gerichts gemäß Art. 22 EuGVÜ auszusetzen.

Weiter sei die fristlose Kündigung der Beklagten aufgrund laufender und schwerwiegender Vertragsverstöße der Klägerin wirksam und die Schadensberechnung der Klägerin unzutreffend.

Das Landgericht hat durch Urteil vom 19.6.2000 der Klage in Höhe von 46.000,00 DM nebst Zinsen stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:

Eine doppelte Anhängigkeit des mit der Klage geltend gemachten Anspruchs liege nicht vor. Die Frage, ob die fristlose Kündigung der Beklagten berechtigt war, sei zwar für beide Verfahren von Bedeutung. Denn wenn die fristlose Kündigung der Beklagten zu Recht erfolgt sei, wären Schadensersatzansprüche der Klägerin unberechtigt. Diese Frage sei jedoch im beim Landgericht anhängigen Verfahren nur Vorfrage; eine Abweisung der beim italienischen Gericht anhängigen Klage führe - anders als bei der negativen Feststellungsklage - noch nicht zum Ergebnis, dass ein Schadensersatzanspruch der Klägerin tatsächlich bestehe.

Eine Aussetzung des Verfahrens gemäß Art. 22 EuGVÜ sei, wie die Kammer bereits mit Beschluss vom 24.2.2000 entschieden habe, im Hinblick auf das Interesse der Klägerin an einer raschen Entscheidung und auf die auch der Kammer bekannte überlange Verfahrensdauer in Italien abzulehnen.

In materiell-rechtlicher Hinsicht sei ein wichtiger Grund für die fristlose Kündigung der Beklagten nicht gegeben gewesen und der Schadensersatzanspruch der Klägerin anhand des monatlichen Durchschnitts der Provisionen zu errechnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung sowie des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird auf das landgerichtliche Urteil Bezug genommen.

Gegen das der Beklagten am 21.6.2000 zugestellte Urteil hat diese am 21.7.2000 Berufung eingelegt, die sie nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 5.10.2000 am 4.10.2000 begründet hat.

Die Beklagte verfolgt ihren erstinstanzlichen Antrag auf Abweisung der Klage weiter. Sie führt unter Anführung entsprechender Beispiele und Beweisangebote aus, dass die fristlose Kündigung der Beklagten wegen Vorliegens wichtiger Gründe gerechtfertigt gewesen sei, da im vorliegenden Fall mehrere Gründe gemeinsam zur fristlosen Kündigung berechtigt hätten.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Landgerichts Stuttgart vom 19.6.2000 die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das landgerichtliche Urteil und bestreitet, dass der von der Beklagten geschilderte Sachverhalt zutreffe bzw., soweit dieser zutreffend sei, zu einer fristlosen Kündigung berechtige.

Wegen der Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens im Berufungsrechtszug wird auf die eingereichten Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten hat in der Sache dahingehend Erfolg, dass das angefochtene Urteil und das diesem zu Grunde liegende Verfahren gemäß § 539 ZPO aufzuheben und der Rechtsstreit an das Landgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen ist.

I.

Das Urteil des Landgerichts kann keinen Bestand haben, da das Verfahren des ersten Rechtszugs unter einem wesentlichen Verfahrensfehler leidet.

Das Landgericht hätte das Verfahren von Amts wegen gemäß Art. 21 EuGVÜ aussetzen müssen, da es sich um "denselben Anspruch" wie im von der Beklagten bereits zuvor in Italien anhängig gemachten Verfahren handelt (II.) und ein Wegfall der Beachtlichkeit der Rechtshängigkeit des in Italien anhängigen Verfahrens nicht gegeben ist (III.).

Aufgrund dieses Verfahrensfehlers ist das Urteil des Landgerichts aufzuheben, da diese Entscheidung nicht hätte ergehen dürfen (IV.).

II.

Bei einer autonomen, am Zweck des Art. 21 EuGVÜ orientierten Auslegung des Begriffs "derselbe Anspruch" ergibt sich in Bezug auf die beiden Klagbegehren, dass der Kernpunkt beider Streitigkeiten derselbe ist, sodass trotz der fehlenden formalen Identität der Anträge beiden Klagen derselbe Anspruch im Sinne des Art. 21 EuGVÜ zu Grunde liegt.

Deutschland und Italien sind Vertragsstaaten des EUGVÜ, sodass dessen Regelungen Anwendung finden. Hierbei verdrängt Art. 21 EuGVÜ § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO (Münchener Kommentar/Lüke, ZPO, 2. Aufl., § 261 Rz. 74).

Art. 21 EuGVÜ stellt als negative Prozessvoraussetzung ein von Amts wegen zu beachtendes Prozesshindernis dar (Stein/Jonas/Schumann, ZPO, 21. Aufl., § 261 Rz. 53; Münchener Kommentar/Lüke, ZPO, 2. Aufl., § 261 Rz. 43). Eine Unzuständigkeitserklärung des später angerufenen Gerichts setzt hierbei das "Feststehen" der Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts voraus, wobei solches erst durch eine rechtskräftige Entscheidung des zuerst angegangenen Gerichts oder die Entscheidung eines ihm übergeordneten Gerichts gegeben ist (Schlosser EuGVÜ, Art. 21 Rz. 11). Zuvor ist das Verfahren von Amts wegen auszusetzen.

Die Frage, ob zwei Klagen "derselbe Anspruch" zu Grunde liegt, ist nicht nach dem Prozessrecht der einzelnen Vertragsstaaten zu bewerten, sondern unter Zugrundelegung einer autonomen, am Zweck des Art. 21 EuGVÜ orientierten Auslegung dieses Begriffs. Hierbei ist nicht die formale Identität der Anträge entscheidend, sondern es sind die Kernpunkte der beiden Streitigkeiten zu bewerten.

Grund für die weite Auslegung des Begriffs "desselben Anspruchs" ist das Bestreben, durch die Beachtung ausländischer Rechtshängigkeit widersprechende inländische Entscheidungen soweit als möglich zu verhindern, da andernfalls die Gefahr der Existenz entgegengesetzter Urteile bestünde. Bei einem gegensätzlichen Ergebnis könnte dies zur Nichtanerkennung einer Entscheidung nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ führen, was ebenso vermieden werden soll wie eine doppelte Verurteilung mit entsprechenden Kostenfolgen zum Nachteil des Beklagten (BGH NJW 1997, 870 ff [872]; BGH IPRax 1986, 293 f; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 5. Aufl., Art. 21 Rz. 7; Wolf, Rechtshängigkeit und Verfahrenskonnexität nach EuGVÜ, EuZW 1995, 365 ff; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 2. Aufl., Rz. 748). Dabei gilt der Prioritätsgrundsatz in Art. 21 EuGVÜ unabhängig davon, ob zuerst eine Leistungsklage oder eine Feststellungsklage erhoben wurde (BGH NJW 1995, 1758 f m.w.N.). Denn hierdurch soll die Chancengleichheit zwischen Gläubiger und Schuldner gewahrt werden und der Schuldner durch die schnelle Erhebung einer (negativen) Feststellungsklage die gleiche Chance haben, sich das streitentscheidende Gericht aussuchen zu können (BGH NJW 1997, 872; Wolf a.a.O. S. 366). Hierbei ist unerheblich, ob der Schuldner eine negative oder positive Feststellungsklage erhoben hat (Zöller/Geimer, ZPO, 22. Aufl., Anh. I Art. 21 GVÜ Rz. 16).

Gemeinsamer Kernpunkt sowohl der positiven Feststellungsklage der Beklagten, dass ein wichtiger Grund für die von der Beklagten ausgesprochene Kündigung vorgelegen habe, als auch der Schadensersatzklage der Klägerin gemäß § 89 a HGB ist die Frage, ob die Kündigung des Handelsvertretungsvertrages durch die Beklagte aus wichtigem Grund erfolgt ist. Denn der von der Klägerin geltend gemachte Schadensersatzanspruch kann nur dann gegeben sein, wenn die Klägerin ihrerseits zur fristlosen Kündigung des Handelsvertretungsvertrages aufgrund einer davorliegenden unbegründeten fristlosen Kündigung der Beklagten berechtigt war.

Die Klage auf Feststellung der Wirksamkeit der Kündigung steht daher ebenso im Mittelpunkt des Verfahrens der Beklagten wie auch dem der Klägerin, da der Schadensersatzanspruch der Klägerin wegen einer rechtswidrigen (unbegründeten) Kündigung der Beklagten gerade zur Voraussetzung hat, dass eine wirksame Kündigung seitens der Beklagten nicht gegeben war. Diese Konstellation entspricht der Auffassung des EuGH, dass Art. 21 EuGVÜ dahingehend auszulegen ist, dass eine Klage, die auf Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz gerichtet ist, denselben Anspruch betrifft wie eine vom Beklagten früher erhobene Klage auf Feststellung, dass er für diesen Schaden nicht haftet (EuGH EuZW 1995, 309 ff).

Die Frage des Vorliegens eines wichtigen Grundes für die Kündigung der Beklagten ist damit für die Klage der Klägerin nicht nur bloße Vorfrage, wie dies vom Landgericht gesehen worden ist, sondern sie stellt einen essenziellen Kernpunkt dar, auch wenn es sich nicht um den gleichen Streitgegenstand im Sinne des deutschen Prozessrechts handelt. Denn im Falle einer positiven Feststellung durch das italienische Gericht und im Falle der Zuerkennung von Schadensersatz durch das deutsche Gericht wären einander diametral entgegengesetzte Entscheidungen gegeben, sodass gemäß Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ die Entscheidungen im jeweiligen Anerkennungsstaat nicht anerkannt werden könnten, da diese mit der dortigen Entscheidung unvereinbar wären. Ein solches Ergebnis, das die Wirkung jeder gerichtlichen Entscheidung auf das nationale Hoheitsgebiet beschränkte, liefe den Zielen des EuGVÜ zuwider, dass auf eine Verstärkung des Rechtsschutzes innerhalb der gesamten Gemeinschaft und eine Erleichterung der Anerkennung der in jedem Vertragsstaat ergangenen gerichtlichen Entscheidungen in jedem anderen Vertragsstaat gerichtet ist (EuGH NJW 1989, 665 f [666]).

Eine Beeinträchtigung der Klägerin durch diese weite Auslegung des Art. 21 EuGVÜ dergestalt, dass sie ihren Anspruch überhaupt nicht geltend machen könnte oder gegebenenfalls die Gefahr bestünde, dass bei Abweisung der Feststellungsklage in Italien die Klägerin in ein "Verjährungsloch" fiele, ist nicht gegeben, da ihr gemäß Art. 6 Nr. 3 EuGVÜ die Möglichkeit der Leistungswiderklage beim Gericht der Feststellungsklage verbleibt. Eine solche Leistungswiderklage ist in Italien gemäß §§ 36 und 167 der italienischen Zivilprozessordnung möglich.

III.

Die Rechtshängigkeit des in Italien anhängigen Verfahrens ist (jedenfalls zurzeit) nicht unbeachtlich.

Zwar ist grundsätzlich die Verpflichtung der inländischen Gerichte zur Justizgewährung zu berücksichtigen, wenn sich die ausländische Entscheidung über ein nach Art. 6 EMRK nicht mehr erträgliches Maß hinaus verzögert (Schlosser, EuGVÜ, Art: 21 Rz. 11), sodass auch im Vertragsrecht als ungeschriebene Regel zu berücksichtigen ist, dass die Rechtshängigkeitssperre in dem einen Vertragsstaat entfällt, wenn im anderen die Justizgewährung ohne triftigen Grund unzumutbar verzögert wird (Geimer, Beachtung ausländischer Rechtshängigkeit und Justizgewährungsanspruch, NJW 1994, 527 ff; Münchener Kommentar/Lüke, ZPO, 2. Aufl., § 261 Rz. 79). Hierbei reicht eine überlange Verfahrensdauer allein als Grund für den Wegfall der Beachtlichkeit der Rechtshängigkeit des ausländischen Verfahrens dann aus, wenn hierdurch die Effizienz der Rechtsschutzgewährung im Inland erheblich gemindert würde (Münchener Kommentar/Luke a.a.O. § 261 Rz. 79), wobei allerdings an die Feststellung eines solchen Sachverhalts und unter Beachtung der gebotenen Zurückhaltung sehr strenge Anforderungen zu stellen sind und nur dann eine Beachtlichkeit zu versagen ist, wenn ansonsten eine echte Rechtsverweigerung eintreten würde (Zöller/Geimer a.a.O. Anh. I Art. 21 GVÜ Rz. 22; Stein/Jonas/Schumann, ZPO, 21. Aufl., § 261 Rz. 19).

Nachdem im vorliegenden Fall der Rechtsstreit in Italien erst seit ca. 2 3/4 Jahren rechtshängig ist und ein Termin zur mündlichen Verhandlung, wenn auch zweimal verlegt, bestimmt ist, kann man einen Stillstand der Justiz oder eine unzumutbare Verzögerung zum jetzigen Zeitpunkt mit Sicherheit noch nicht bejahen. So wurde eine entsprechende Feststellung vom Oberlandesgericht München verneint in einem Verfahren, wo die Hauptsacheklage vor einem italienischen Gericht bereits 8 Jahre andauerte (OLG München IPRax 1995, 338 f) und vom BGH lediglich einmal bejaht im Rahmen eines Ehescheidungsverfahrens, in welchem dieser eine Verfahrensdauer in Italien von über 4 Jahren im ersten Rechtszug ohne Entscheidung über das Scheidungsbegehren als unangemessen beeinträchtigend angenommen hatte, da der in Deutschland klagende Ehepartner das ausländische Forum nicht selbst gewählt hat, sondern es ihm durch die Scheidungsklage des anderen Ehepartners aufgedrängt wurde, und angesichts der überdurchschnittlichen Verfahrensdauer ohne jeglichen Anlass in der Materie dem in Deutschland klagenden Ehepartner nicht mehr verwehrt werden könne, sein Rechtsschutzbegehren im Inland zu verfolgen (BGH NJW 1983, 1169 f).

Da sich hier der Gerichtsstand in Italien jedoch aus der auch von der Klägerin gebilligten Regelung im Handelsvertretungsvertrag ergibt und die Klägerin, die als Mehrfach-Handelsvertreterin tätig ist, nicht dargetan hat, dass die Verzögerung dieses Rechtsstreits für sie existenzielle Bedeutung hat, kann von einer dem Urteil des BGH entsprechenden Beeinträchtigung keinesfalls gesprochen werden.

IV.

Das Landgericht hat verfahrensfehlerhaft das Vorliegen einer doppelten Anhängigkeit des mit der Klage geltend gemachten Anspruchs verneint. Es hat den Prüfungsmaßstab für die Frage, ob den Klagen derselbe Anspruch zu Grunde liegt, verkannt. Zwar hat es richtig ausgeführt, dass der Begriff "derselbe Anspruch" nach der Rechtsprechung des EuGH weit auszulegen ist und es nicht auf den Klagantrag, sondern den Kernpunkt der Verfahren ankommt (S. 8 des Urteils), allerdings hat es hierbei als Maßstab angelegt, ob der Feststellungsantrag der Beklagten für das hiesige Verfahren lediglich eine Vorfrage darstellt und bei einer Verneinung des Feststellungsantrags in Italien das Bestehen des von der Klägerin beanspruchten Schadensersatzanspruchs feststeht. Hierbei hat das Landgericht nicht berücksichtigt, dass der Begriff "derselben Angelegenheit" aus der Zielrichtung des Übereinkommens heraus weit zu interpretieren ist und insbesondere darauf abzustellen ist, dass sich widersprechende Entscheidungen verhindert werden, die gemäß Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ zu einer Nichtanerkennung in den anderen Vertragsstaaten führen würde.

Bei richtiger Anwendung der Auslegungsregel hätte das Landgericht nicht in der Sache entscheiden dürfen, sondern hätte das Verfahren von Amts wegen aussetzen müssen.

Auf das zulässige Rechtsmittel der Beklagten ist daher - trotz Vorliegen des Aussetzungstatbestandes und unabhängig von einem dahin gestellten Berufungsantrag - die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen (OLG Köln NJW-RR 1995, 891 für den Fall einer Unterbrechung durch die Eröffnung des Konkursverfahrens). Daran ändert auch nichts die Überlegung, dass das Urteil Bestand gehabt hätte, wenn die Beklagte keine Berufung eingelegt hätte, und dann dem italienischen Verfahren vorgegangen wäre (OLG Köln a.a.O.).

Denn bei unberücksichtigt gebliebener Rechtshängigkeit ist im früher rechtshängig gewordenen Prozess das im anderen Verfahren erlassene Urteil erst bei dessen Rechtskraft zu berücksichtigen (Stein/Jonas/Schumann, ZPO, 21. Aufl., § 261 Rz. 53). Vor Eintritt der Rechtskraft ist daher entsprechend den gesetzlichen Regelungen zu verfahren. Gerichtsentscheidungen, insbesondere Urteile, müssen im Rechtsmittelverfahren aufgehoben werden, wenn sie während der Unterbrechung oder Aussetzung nicht hätten ergehen dürfen (Münchener Kommentar/Feiber, ZPO, 2. Aufl., § 249 Rz. 22). Da die Aussetzung des Verfahrens gemäß Art. 21 EuGVÜ von Amts wegen auszusprechen ist, ist in, einem solchen Fall nicht lediglich, wie von der Klägerin hilfsweise beantragt, in der Berufungsinstanz das Verfahren auszusetzen, sondern es ist das nicht ordnungsgemäß ergangene Urteil erster Instanz aufzuheben, da es von Anfang an gar nicht hätte ergehen dürfen und es von der Beklagten zulässigerweise angefochten worden ist (OLG Köln a.a.O.).

V.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens ist dem Landgericht vorzubehalten, weil sie vom endgültigen Ausgang des Rechtsstreits abhängt.

Das Landgericht wird unter Beachtung der obigen Ausführungen das Verfahren auszusetzen haben bis feststeht, ob das zuerst angerufene Gericht in Italien zuständig ist.

Da die Frage, ob eine von Amts wegen vorzunehmende Aussetzung gemäß Art. 21 EuGVÜ in Bezug auf ein in verfahrensfehlerhafter Weise ergangenes Urteil einer Unterbrechung kraft Gesetzes gleichzustellen ist, bislang höchstrichterlich noch nicht entschieden worden ist, ist die Revision zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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