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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 11.05.2001
Aktenzeichen: 3 Ws 100/01
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 67 Abs. 4 Satz 1
Für die Anrechnung der vorweg vollzogenen Maßregel nach § 67 Abs. 4 Satz 1 StGB steht der Zeitraum von zwei Dritteln der Strafe abzüglich der Zeiten anzurechnender Untersuchungshaft zur Verfügung.
Geschäftsnummer 3 Ws 100/01 5 StVK 237/01 LG Ellwangen 55 VRs 34 Js 10776/99 StA Ellwangen

Oberlandesgericht Stuttgart - 3. Strafsenat - Beschluss

vom 11. Mai 2001

in der Strafvollstreckungssache gegen

wegen Diebstahls u. a.

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Ellwangen vom 26. April 2001 wird als unbegründet

verworfen.

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer wurde durch das Amtsgericht H. am 01. Februar 2000 -- am selben Tage rechtskräftig -- ... zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Es wurde die gem. § 67 Abs. 1 StGB vorweg zu vollziehende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) angeordnet.

Der Verurteilte befand sich in dieser Sache seit 03. September 1999 (151 Tage) in Untersuchungshaft. Nach Rechtskraft befand er sich bis zu seiner Aufnahme in den Maßregelvollzug am 23. Mai 2000 in Strafhaft (sogenannte Organisationshaft). Im Maßregelvollzug verblieb er bis zu dem am 30. März 2001 rechtskräftig gewordenen Beschluss der Strafvollstreckungskammer Heilbronn vom 20. März 2001, der anordnete, dass die Unterbringung nicht weiter zu vollziehen sei. Anschließend wurde er noch am 30. März 2001 wieder in Strafhaft überstellt,...

Nachdem ihm eine Strafzeitberechnung mit einem Endstrafenzeitpunkt 27. Juni 2001 mitgeteilt worden war und die funktionell zuständige Rechtspflegerin der Staatsanwaltschaft Ellwangen diese Berechnung durch Bescheid vom 20. April 2001 bestätigt hatte, beantragte der Verurteilte gemäß § 458 Abs. 1 StPO, die Strafzeit neu zu berechnen....

Durch den angefochtenen Beschluss der Strafvollstreckungskammer Ellwangen vom 26. April 2001 wurden die Einwendungen des Verurteilten gegen die Berechnung der Strafzeit zurückgewiesen. Mit Recht habe die Vollstreckungsbehörde die Zeit der Untersuchungshaft von dem zur Anrechnung der Maßregel zur Verfügung stehenden 2/3-Zeitraum des § 67 Abs. 4 Satz 1 StGB abgezogen. Eine -- den Verurteilten belastende, da die Anrechnungsfähigkeit der Maßregel bis 2/3 weiter reduzierende -- Anrechnung der Organisationshaft sei darüber hinaus in diesem 2/3-Rahmen nicht vorgenommen worden. Vielmehr sei dieser Teil der Strafhaft -- wie von dem Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 18. Juni 1997 (2 BvR 2422/96) gefordert -- erst im letzten Drittel der Freiheitsstrafe in Abzug gebracht worden. Ein über diese verfassungsrechtlich gebotene Berechnung hinausgehender Anspruch des Verurteilten, auch die Untersuchungshaft erst im letzten Drittel der vollstreckbaren Strafe zu berücksichtigen, bestehe demgegenüber nicht.

Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit der statthaften und zulässig erhobenen sofortigen Beschwerde.

II.

Die sofortige Beschwerde ist unbegründet.

Mit Recht und aus den im Ergebnis zutreffenden Gründen hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Ellwangen die begehrte Abänderung der Strafzeitberechnung abgelehnt.

1. Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juni 1997 -- 2 BvR 2422/96 -- (NStZ 1998, 77 mit Anmerkung Lemke; Der Rechtspfleger 1998, 80 mit Anmerkung Blechinger) ist klargestellt, dass die sogenannte Organisationshaft, d. h. die Zeit der Strafhaft nach Rechtskraft einer Entscheidung bis zum Antritt einer vorweg zu vollziehenden (§ 67 Abs. 1 StGB) Maßregel, nicht von dem 2/3-Zeitraum, innerhalb dessen die Maßregel nach § 67 Abs. 4 Satz 1 StGB strafzeitverkürzend angerechnet werden kann, in Abzug gebracht werden darf. Denn diese sogenannte Organisationshaft ist eine gesetzlich nicht vorgesehene, allein durch vollzugstechnische Gegebenheiten bedingte Wartezeit auf den Maßregelvollzug. Kann ein solcher Verstoß gegen § 67 StGB zu einer Verlängerung des effektiven Freiheitsentzuges führen, ist dieser "Regelwidrigkeit" im Rahmen der Strafzeitberechnung in geeigneter Weise entgegenzuwirken (BVerfG a.a.O.).

Damit ist anderslautenden Rechtsmeinungen, die die "Organisationshaft" im 2/3-Zeitraum des § 64 Abs. 4 Satz 1 StGB berücksichtigen wollten (vgl. OLG Düsseldorf, NStZ-RR 97, 25 ff.; OLG Hamm NStZ 1997, 54 f.; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1996, 380 f.; OLG Hamm NStZ-RR 1996, 381 f.), der Boden entzogen. 2. Ausdrücklich offengelassen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 18. Juni 1997 (a.a.O.), ob einfachrechtlich gleiches auch für die Anrechnung der Untersuchungshaft auf den 2/3-Zeitrahmen des § 67 Abs. 4 Satz 1 StGB zu gelten habe. Von Verfassungs wegen sei eine Gleichstellung von Untersuchungshaft und Organisationshaft nicht geboten. Ausschlaggebender Gesichtspunkt für die unterschiedliche Behandlung im verfassungsrechtlichen Maßstab ist danach die Tatsache, dass die Untersuchungshaft eine gesetzlich vorgesehene Haftform ist, während dies bei der "Organisationshaft" nicht der Fall ist. Vielmehr habe die Fachgerichtsbarkeit die zwischen § 67 Abs. 4 Satz 1 StGB und der Anrechnungsvorschrift des § 51 Abs. 1 StGB bestehende Normenkonkurrenz nach den anerkannten Methoden richterlicher Rechtsfindung zu entscheiden (BVerfG a.a.O.).

3. Der danach erforderliche Ausgleich hat nach Auffassung des Strafsenats insbesondere die folgenden Gesichtspunkte zu beachten:

a) Das vikariierende System, d. h. der stellvertretende Austausch strafrechtlicher Sanktionen (vgl. Hanack in LK, 11. Aufl., § 67 Rnr. 4), ist geprägt durch das Nebeneinander von Strafe und Maßregel, das, um eine doppelte Übelszufügung auszugleichen, eine Zuordnung von Strafe zu Maßregel erfordert. Um diesen Ausgleich geht es bei der Frage der Anrechenbarkeit der vollzogenen Maßregel auf die verhängte Strafe. Bis zum 23. StÄG vom 13.04.1986 (BGBl I, 393) hatte eine -- im Regelfall für den Verurteilten günstigere -- volle Anrechnung der Maßregel auf die Strafe zu erfolgen (§ 67 Abs. 4 a.F. StGB). Das StÄG 1986 hat diese Anrechnung auf lediglich bis zu 2/3 der Strafe beschränkt. Dabei hat sich der Gesetzgeber von der Erkenntnis leiten lassen, dass durch den Druck einer (aussetzungsfähigen) Reststrafe die Bereitschaft des Verurteilten, an der eigenen Rehabilitation mitzuwirken, regelmäßig gefördert werden wird (BT-Drucks. 10/2720, S. 13 r. Sp.). Dass dadurch -- wegen der vom Therapieerfolg einerseits und der Höchstgrenze der Maßregel andererseits bestimmten, von Fall zu Fall daher unterschiedlichen Dauer der Maßregel -- das vikariierende System in dieser neuen Ausprägung im Einzelfall zu einer Verlängerung der effektiven Zeit des Freiheitsentzuges gemessen an der verhängten Freiheitsstrafe führen konnte, war erkannt (BT-Drucks. a.a.O. "zum anderen wird die Dauer des Maßregelvollzugs nicht selten die Dauer der Strafe übersteigen;") und um der Behandlungsmöglichkeit des Verurteilten willen in Kauf genommen worden.

b) Neben die Anrechnung der Maßregel kann in Fällen wie dem vorliegenden das Anrechnungserfordernis von Zeiten der Untersuchungshaft treten. Dass Untersuchungshaft auch im Fall der gleichzeitigen Verhängung einer Maßregel anzurechnen ist, steht außer Frage. Streitig ist, ob diese Anrechnung auf die ersten zwei Drittel der Strafe erfolgt mit der Wirkung, dass der anrechnungsfähige Zeitrahmen für die Maßregel verkürzt wird (vgl. OLGe Düsseldorf, Hamm und Frankfurt a.a.O.; OLG Zweibrücken NStZ 1996, 357 = StV 1997, 478, OLG Braunschweig NStZ-RR 2000, 7 [nur LS]) oder ob die Anrechnung im letzten Drittel erfolgt, was regelmäßig zu einer erhöhten Anrechnungsfähigkeit der Maßregel auf der einen Seite, zu einer Reduzierung des Restdrittels auf der anderen Seite führen wird (OLG Düsseldorf StV 1996, 47; LG Wuppertal StV 1996, 329 [330]; OLG Zweibrücken NStZ 2001, 54 [55] -- das diese Rechtsmeinung als herrschende bezeichnet --).

§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB sieht als gesetzlichen Regelfall, der keines ausdrücklichen richterlichen Ausspruchs bedarf, die unmittelbare und von Amts wegen zu beachtende Tilgungswirkung erlittener Untersuchungshaft auf Freiheitsstrafe mit Eintritt der Rechtskraft vor (Tröndle/Fischer, StGB, 50. Aufl., § 51 Rnr. 12, 20). Dieser Grundsatz führt stets zu einer Anrechnung der Untersuchungshaft auf den Anfang der Strafverbüßung, um daran anschließend den Halbstrafen- oder 2/3-Zeitpunkt einer bedingten Entlassung errechnen zu können. Eine ausdrückliche Erstreckungsregelung auf Fälle der gleichzeitig erforderlichen Anrechnung von Maßregelvollzug fehlt ebenso wie eine anders lautende Bestimmung.

c) Schließlich ist dem Übermaßverbot bei Anwendung des vikariierenden Systems dahingehend Rechnung zu tragen, dass bei der jeweils vorgesehenen Art der Kumulierung die Freiheitsentziehung insgesamt nicht übermäßig werden darf und Anrechnungsausschlüsse nicht ohne Beziehung zu Grund und Ziel der Unterbringungsmaßregel erfolgen dürfen (BVerfG vom 16. März 1994, NStZ 1994, 578).

4. Der Senat hält in Zuordnung der oben II. 3) dargelegten Gesichtspunkte die Absetzung der Zeit der Untersuchungshaft von dem die Anrechnungsfähigkeit der Maßregel bestimmenden 2/3-Zeitraum des § 67 Abs. 4 Satz 1 StGB für geboten (vgl. auch OLG Zweibrücken, NStZ 1996, 357 = StV 1997, 478; OLG Braunschweig, NStZ-RR 2000, 7).

a) Eine generelle Anrechnung der Untersuchungshaft erst im letzten Drittel der Freiheitsstrafe liefe in einer -- forensisch häufig anzutreffenden -- Konstellation stattgehabter Untersuchungshaft dem gesetzgeberischen Anliegen der Anrechnungsfähigkeit der Maßregel "nur" bis 2/3 der Strafe, um Therapiebereitschaft zu erzeugen, maßgeblich entgegen. Das nicht seltene Faktum mehrmonatiger Untersuchungshaft -- und offenbar ebenfalls nicht selten hinzutretender Zeit sogenannter Organisationshaft -- würde insbesondere bei mittleren Straferkenntnissen regelmäßig zur rechnerisch vollständigen oder doch weitgehenden Erledigung des Strafrestes von 1/3 führen und damit nicht nur die Motivationsförderung im Maßregelvollzug beeinträchtigen, sondern auch die bedingte Entlassung nach § 57 StGB -- mit der Möglichkeit weiterer Therapieweisung -- erschweren oder unmöglich machen. Damit wäre das gesetzgeberische Anliegen des StÄG 1986 weitgehend ausgehöhlt.

b) Auch § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB spricht für eine Anwendung des Grundsatzes der Anrechnung der Untersuchungshaft in den ersten Dritteln der Strafzeit.

Wenn die Gegenmeinung auf den Wortlaut des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB -- Anrechnung "auf zeitige Freiheitsstrafe" -- verweist und ein Analogieverbot zu Ungunsten des Täters ins Feld führt (vgl. Volckart, Anmerkung zu OLG Düsseldorf und OLG Zweibrücken in StV 97, 479; Ullenbruch, NStZ 2000, 287 [291 f.]; Landgericht Wuppertal StV 1996, 329 [330]), übersieht sie, dass die Untersuchungshaft gerade nicht "auf die Maßregel angerechnet" wird, sondern sich (lediglich) auf den 2/3-Zeitraum der Strafe auswirkt, der seinerseits für die Anrechnung der Maßregel zur Verfügung steht. Spricht aber der Wortlaut nicht gegen die Anwendung § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB, so bedürfte es anderer Gründe, diesen außer Betracht zu lassen. Solche liegen indes nicht vor. Schon das oben a) dargestellte gesetzgeberische Anliegen spricht gegen eine Abweichen vom Regelfall der Anrechnung in den ersten Dritteln.

Hinzu tritt, dass der Gesetzgeber für den Fall des Zusammentreffens von Maßregel und Untersuchungshaft in demselben Verfahren eine Anrechnung der Untersuchungshaft ganz oder teilweise im letzten Drittel der Strafe bei der ebenfalls im StÄG 1986 erfolgten Änderung des § 51 StGB ohne weiteres hätte mitregeln können. Das dies nicht geschehen ist, erklärt sich mit der beabsichtigten Beschränkung der Anrechnungsmöglichkeiten, die das letzte Drittel gerade aussparen sollte.

c) Weiterhin hat der Senat bedacht, dass das erkennende Gericht jedenfalls die bis zum Urteil vollzogene Untersuchungshaft in seine Erwägungen zu den Rechtsfolgen einstellen muss und dabei die vollstreckungsrechtlichen Konsequenzen der Anrechnung der Untersuchungshaft auf den 2/3-Zeitraum des § 67 Abs. 4 Satz 1 StGB weitgehend berücksichtigen kann.

d) Die mit der Anrechnung der Untersuchungshaft auf den 2/3-Zeitraum des § 67 Abs. 4 Satz 1 StGB verbundene Verlängerung des Freiheitsentzugs insgesamt verletzt schließlich auch nicht schon für sich allein das Übermaßverbot. Gegen das vikariierende System bestehen vielmehr solange keine Bedenken, als nicht im konkreten Fall die Kumulierung von Strafe und Maßregel unverhältnismäßig wird und ein Anrechnungsausschluß die Beziehung zu Grund und Ziel der Unterbringungsmaßregel verlässt (BVerfG NStZ 1994, 578). Grund und Ziel des Maßregelvollzugs -- der die weitgehende Rehabilitation des Verurteilten im Blick hat -- umfassen auch und gerade das Freihalten des letzten Strafdrittels von Anrechnungszeiten (wenn dies nicht, wie ausnahmsweise im Fall der "Organisationshaft", von Verfassungs wegen geboten ist).

5. Bei Anlegung des unter 4 d) dargestellten Maßstabes ist die Strafzeitberechnung der Staatsanwaltschaft Heilbronn und der Strafvollstreckungskammer Ellwangen dem Grunde nach nicht zu beanstanden. (... wird ausgeführt). Der Fall, dass eine kurze Freiheitsstrafe und lange Anrechnungszeiten die Anrechnung des Maßregelvollzugs zu erheblichen Teilen ausschließen, liegt ersichtlich nicht vor.

6. Die konkrete Strafzeitberechnung ist schließlich ebenfalls nicht zu beanstanden. ...

Ende der Entscheidung

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