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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 04.02.2004
Aktenzeichen: 4 Ss 3/04
Rechtsgebiete: GG, StPO


Vorschriften:

GG Art. 20 Abs. 3
StPO § 140 Abs. 2 Satz 1
StPO § 344
StPO § 346 Abs. 1
1. Wird der Antrag des Wahlverteidigers, ihn zum Pflichtverteidiger zu bestellen, vor Beginn der Hauptverhandlung erster Instanz abgelehnt, ist das Recht des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren auch dann nicht verletzt, wenn seine Revision wegen fehlender Begründung als unzulässig verworfen wird, bevor über seinen erneuten Antrag auf Bestellung zum Verteidiger für das Revisionsverfahren, der keine neuen Gesichtspunkte enthält, entschieden worden ist (im Anschluss an BayObLG NStZ 1995, 300).

2. Die Ablehnung der Bestellung zum Verteidiger durch das Gericht erster Instanz wirkt für das gesamte Verfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss, es sei denn, es ergeben sich neue Gesichtspunkte, die die Bestellung eines Verteidigers gebieten.


Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - Beschluss

4 Ss 3/04

vom 04. Februar 2004

in der Strafsache gegen

Tenor:

1. Der Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in die versäumte Revisionsbegründungsfrist wird als unzulässig verworfen.

2. Der Antrag des Angeklagten auf Entscheidung des Revisionsgerichts gegen den die Revision als unzulässig verwerfenden Beschluss des Amtsgerichts L. vom 05. November 2003 wird als unbegründet verworfen.

Gründe:

I.

Gegen den Angeklagten war durch Urteil des Amtsgerichts L. vom 14. Juli 2003 wegen eines Vergehens der mittelbaren Falschbeurkundung eine Geldstrafe von 120 Tagesssätzen zu je 5 € verhängt worden. Der vom Angeklagten gewählte Verteidiger hatte zuvor seine Beiordnung beantragt. Die gegen den eine Beiordnung ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts eingelegte Beschwerde war mit Beschluss des Landgerichts S. vom 16. April 2003 verworfen worden.

Gegen das Urteil des Amtsgerichts hatte der Angeklagte fristgerecht Rechtsmittel eingelegt und für das Rechtsmittelverfahren die Beiordnung seines bisherigen Wahlverteidigers beantragt. Nach der am 31. Juli 2003 erfolgten Zustellung des Urteils wurde das Rechtsmittel durch Verteidigerschriftsatz vom 11. August 2003 als Sprungrevision bezeichnet und gleichzeitig der Antrag auf Pflichtverteidigerbeiordnung im Revisionsverfahren wiederholt. Mit weiteren Schriftsätzen vom 13. August und vom 01. September 2003 hat der Verteidiger erneut um Bescheidung des Beiordnungsantrages gebeten. Am 05. September 2003 wies schließlich das Amtsgericht den Beiordnungsantrag zurück. Gegen diesen Beschluss erhob der Angeklagte durch Verteidigerschriftsatz vom 19. September 2003 unter erstmaliger Skizzierung der im Revisionsverfahren beabsichtigten Rügen Beschwerde. Am 08. Oktober 2003 ordnete das Landgericht dem Angeklagten unter Aufhebung des amtsgerichtlichen Beschlusses den gewählten Verteidiger für das Revisionsverfahren bei. Mit einem am 14. Oktober 2003 beim Amtsgericht eingegangenen Schriftsatz beantragte der Angeklagte nunmehr hinsichtlich der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. In einem weiteren, am 15. Oktober 2003 beim Amtsgericht eingegangenen Verteidigerschriftsatz wurde die Revision begründet.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht am 05. November 2003 die Revision des Angeklagten mangels Anbringung der Revisionsanträge und der Revisionsbegründung innerhalb der gesetzlichen Monatsfrist als unzulässig verworfen.

II.

1.

Der gegenüber der Entscheidung über die Zulässigkeit der Revision vorgreifliche Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Revisionsbegründungsfrist, bei dessen Vorliegen das Amtsgericht die Revision zunächst nicht verwerfen durfte (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 346 Rdnr. 16), ist unzulässig, da Tatsachen, weshalb der Angeklagte ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten, entgegen § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht vorgetragen wurden und andererseits auch eine Wiedereinsetzung von Amts wegen gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 StPO nicht in Betracht kommt.

a) In dem Wiedereinsetzungsantrag ist stets ein Sachverhalt, der ein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden ausschließt, vorzutragen (vgl. Meyer-Goßner a.a.O. § 45 Rdnr. 5 m.w.N.). Der insoweit gestellte Antrag des Verteidigers enthält jedoch keinen Vortrag, weshalb die Revisionsbegründung im Rahmen seines weiterhin bestehenden Wahlmandats ohne Verschulden des Angeklagten nicht fristgerecht abgegeben werden konnte.

b) Eine Wiedereinsetzung auch ohne (formgerechten) Antrag i.S.v. § 45 Abs. 2 Satz 3 StPO ist vorliegend nicht geboten. Insoweit wäre erforderlich, dass das fehlende Verschulden des Betroffenen an der Fristversäumung offensichtlich oder eine Glaubhaftmachung wegen Offenkundigkeit oder Aktenkundigkeit überflüssig ist (vgl. Meyer-Goßner a.a.O. § 45 Rdnr. 12). Von einem fehlenden Verschulden des Angeklagten bezüglich der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist wird zwar dann ausgegangen, wenn über seinen bereits mit Revisionseinlegung gestellten Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht innerhalb der Revisionsbegründungsfrist entschieden wird. Der Angeklagte darf nämlich regelmäßig darauf vertrauen, dass so rechtzeitig über den Beiordnungsantrag entschieden wird, dass er noch innerhalb der Revisionsbegründungsfrist entweder selbst einen Verteidiger beauftragen oder die Revisionsbegründung zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erklären kann (vgl. BayObLG, NStZ 1995, 300).

Aus dem Recht des Angeklagten auf ein faires, rechtstaatliches Verfahren und seinem Anspruch auf rechtliches Gehör besteht die Verpflichtung, über die Verwerfung der Revision nach § 346 Abs. 1 StPO nicht vor dem Bescheid über den Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu entscheiden.

Durch die Nichtbescheidung des Beiordnungsantrags innerhalb der Revisionsbegründungsfrist trotz der verschiedenen Mahnungen kommt auch hier in Betracht, dass dem Angeklagten aus Gründen des Vertrauensschutzes die fehlende Revisionsbegründung innerhalb der Monatsfrist nicht angelastet werden kann. Allerdings hat der den Anklagten erstinstanzlich als Wahlverteidiger vertretende Verteidiger in seinem Rechtsmittelschriftsatz vom 16. Juli 2003 nicht nur ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sein Wahlverteidigermandat bis zur - beantragten - Bestellung als Pflichtverteidiger aufrechterhalten bleibt. Innerhalb der Revisionsbegründungsfrist ist der Verteidiger vielmehr erneut tätig geworden, indem er das Rechtsmittel durch einen weiteren Schriftsatz als Sprungrevision bezeichnet hat. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte spricht dieser Umstand für die vom Angeklagten erfolgte Erteilung einer auch das Rechtsmittelverfahren betreffenden umfassenden Verteidigervollmacht, die erst mit der Bestellung des Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger erlischt (vgl. KK-Laufhütte, StPO, 5. Aufl., Vorbem. 2 zu § 137). Insoweit hat der gewählte Verteidiger nicht nur die Berechtigung, sondern auch die Verpflichtung, die Rechtsposition des Angeklagten hinsichtlich der erforderlichen fristgerechten und vollständigen Stellung von verfahrensrelevanten Anträgen zu erhalten. Dieser Verpflichtung ist der Verteidiger vorliegend aus nicht mitgeteilten - auch den Verfahrensakten nicht zu entnehmenden - Gründen nicht nachgekommen. Die Wahrung des Rechts des Angeklagten auf ein faires, rechtstaatliches Verfahren gebietet jedenfalls im vorliegenden Fall nicht, dass der von einem gewählten Verteidiger vertretene Angeklagte mit der Einreichung der Revisionsbegründungsschrift im Vertrauen auf die rechtzeitige Entscheidung über den Beiordnungsantrag zuwarten darf.

Ein diesbezügliches Vertrauen des Angeklagten ist darüber hinaus auch deshalb nicht anzunehmen, da die bereits im erstinstanzlichen Verfahren beantragte Beiordnung sowohl vom Amtsgericht als auch im Beschwerdeverfahren vom Landgericht abgelehnt wurde. Die Ablehnung der Bestellung erstreckt sich nämlich grundsätzlich auf das gesamte Verfahren, so dass ein erneuter Antrag auf Bestellung im Revisionsverfahren aussichtsreich nur dann gestellt werden kann, wenn neue Gesichtspunkte gegeben sind, die nunmehr die Beiordnung eines Verteidigers gebieten ( vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 18. März 2002 - 4 Ws 62/2002 - ; Beschluss vom 30. Juli 2003 - 4 Ws 163/2003 = NStZ-RR 2003,334). Eine Verteidigerbeiordnung kann sonach auch für die Revisionsbegründung verlangt werden, wenn diese besondere Schwierigkeiten macht (vgl. Meyer-Goßner a.a.O. § 140 Rdnr. 29 m.w.N.). Jedenfalls in den Fällen, in den - wie hier - dem Angeklagten in der Tatsacheninstanz ein Wahlverteidiger zur Seite stand, dem mit dem Urteil auch das Hauptverhandlungsprotokoll zur Kenntnis gebracht wurde, muss ein Antrag, der die Schwierigkeit der Sach- oder der Rechtslage aus der Notwendigkeit des Erfordernisses der Stellung von sachgerechten Revisionsanträgen ableitet, wenigstens ansatzweise darlegen, welche Verfahrenstatsachen aus der Sicht des Angeklagten der Überprüfung bedürfen. Anders als in den Tatsacheninstanzen und bei der Sachrüge, wo ein vorgegebener Prozessstoff ohne weiteres eine Beurteilung der sachlichen und rechtlichen Schwierigkeiten ermöglicht, hat es der Angeklagte hinsichtlich etwaiger Verletzungen formellen Rechts nicht nur in der Hand, über das Ob einer Rüge zu befinden, sondern gegebenenfalls auch darüber zu entscheiden, welche Verfahrenstatsachen er revisionsgerichtlicher Überprüfung zuführen möchte. Ob der so von ihm zu bestimmende Prozessstoff besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufwerfen wird, vermag das Gericht, das über die Notwendigkeit einer Verteidigung zu befinden hat, von sich aus ohne näheren Vortrag nicht abzuschätzen (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 24. August 2000 - 3 Ws 170/2000 -). Das bloße "Aufspüren" bislang nicht erkannter Verfahrensfehler rechtfertigt jedenfalls die Beiordnung eines Verteidigers nicht (vgl. Meyer-Goßner a.a.O.).

Solche - die Beiordnung eines Verteidigers gebietende - geänderte Gesichtspunkte hat der Verteidiger jedoch weder in seinem Rechtsmittelschriftsatz noch in seinen weiteren Mahnungen während der Revisionsbegründungsfrist im Hinblick auf eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vorgebracht.

2.

Die "Beschwerde" des Angeklagten gegen den die Revision als unzulässig verwerfenden Beschluss des Amtsgerichts vom 05. November 2003 ist als zulässiger Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO auszulegen (vgl. § 300 StPO).

Der Antrag bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg.

Eine "verfrühte" Verwerfung ist unschädlich, wenn der Beschluss im Ergebnis zu Recht ergangen ist (vgl. BGH bei Kusch NStZ, 1995, 20; KK-Kuckein a.a.O. § 346 Rdnr. 10). Soweit eine Überprüfung des gestellten Antrags auf Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision ergibt, dass keine Wiedereinsetzung gewährt werden kann und die Revision daher verspätet eingelegt ist, verbleibt es bei der vom Amtsgericht gemäß § 346 Abs. 1 StPO ausgesprochenen Verwerfung (vgl. KK-Kuckein a.a.O. § 346 Rdnr. 29).

Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 05. November 2003 die innerhalb der Monatsfrist nicht begründete Revision im Ergebnis zu Recht als unzulässig verworfen.



Ende der Entscheidung

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