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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 22.10.2008
Aktenzeichen: 4 Ws 202/08
Rechtsgebiete: StPO, BtMG


Vorschriften:

StPO § 454 b Abs. 2
StPO § 458 Abs. 2
BtMG § 35
1. Beantragt der Verurteilte nach Unterbrechung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zwecks Vollstreckung einer weiteren Strafe, die unterbrochene Strafe weiter zu vollstrecken, ist für die Entscheidung hierüber die Strafvollstreckungskammer zuständig.

2. Eine gemäß § 454 b Abs. 2 StPO nach Verbüßung von zwei Dritteln unterbrochene Strafe ist keine zu vollstreckende Strafe im Sinne des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG. Sie steht der Zurückstellung der Vollstreckung einer anderen Strafe gemäß § 35 BtMG nicht entgegen.


Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 4 Ws 202/08

vom 22. Oktober 2008

in der Strafvollstreckungssache

wegen Körperverletzung

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts - Strafvollstreckungskammer - vom 04. September 2008 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht verhängte gegen den Verurteilten am 23. Oktober 2007 wegen Körperverletzung in zwei Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Monaten, die ab dem 05. März 2008 in der Justizvollzugsanstalt vollstreckt wurde. Der 2/3-Zeitpunkt berechnete sich auf den 4. Juli 2008. Am 10. Juni 2008 verurteilte ihn das Amtsgericht wegen räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten. Die Staatsanwaltschaft unterbrach am 08. Juli 2008 die Vollstreckung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts gemäß § 454 b StPO rückwirkend auf den 05. Juli 2008, so dass ab diesem Tag die Freiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten vollstreckt wird.

Mit Schreiben vom 10. August 2008 beantragte der Verurteilte eine "Strafumstellung". Sein Ziel ist die vollständige Verbüßung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts, um dann eine Zurückstellung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts gem. § 35 BtMG zu erreichen.

Die Staatsanwaltschaft lehnte die Änderung der Reihenfolge der Strafvollstreckung ab. Diese sei erst möglich, wenn hinsichtlich aller zu verbüßender Strafen die Hälfte oder 2/3 vollstreckt seien, in vorliegendem Fall am 03. April 2009. Auf den "Widerspruch" des Verurteilten legte die Staatsanwaltschaft die Sache gem. § 458 Abs. 2 StPO der Strafvollstreckungskammer zur Entscheidung vor. Diese bestätigte die Entscheidung der Strafvollstreckungsbehörde.

Hiergegen hat der Verurteilte sofortige Beschwerde eingelegt.

II.

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

1. Die Strafvollstreckungskammer war für die Entscheidung über den "Widerspruch" des Verurteilten gegen die Weigerung der Staatsanwaltschaft, die Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts vollständig vorab zu vollstrecken, zuständig.

Gemäß § 454 b Abs. 2 StPO ist die Vollstreckung jeder einzelnen von mehreren Strafen nach der Hälfte oder 2/3 zu unterbrechen, um anschließend die weiteren Strafen bis zu der gleichen Grenze zu vollstrecken. Das Begehren des Verurteilten, die Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts vollständig vorab zu verbüßen, betrifft den Regelungsgehalt dieser Bestimmung. Die vollständige Verbüßung einer von mehreren Strafen vorab setzt voraus, dass die Unterbrechung der Strafvollstreckung gerade unterbleibt. Die Einwendung des Verurteilten richtet sich somit gegen die von der Strafvollstreckungsbehörde aufgrund des § 454 b Abs. 2 StPO getroffene Anordnung und unterliegt daher gem. § 458 Abs. 2 StPO der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer. Der subsidiäre Rechtsbehelf nach §§ 21 StrVollstrO, 23 EGGVG ist nur dann gegeben, wenn Einwendungen des Verurteilten gegen die Vollstreckungsreihenfolge in keinem Zusammenhang mit der Unterbrechung der gesetzlich vorgesehenen Strafvollstreckung nach der Hälfte bzw. 2/3 der Strafe stehen (s. OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 282; OLG Hamburg StV 1993, 256f.; OLG Karlsruhe StV 2003, 287; KG, Beschluss vom 30.07.2002 - 1 AR 492/02 - 5 Ws 236/02 -, zit. nach juris).

2. In der Sache hat die Strafvollstreckungskammer zurecht von einer Änderung der Vollstreckungsreihenfolge abgesehen. § 454 b Abs. 2 Nr. 2 StPO sieht die Unterbrechung der Strafvollstreckung nach Verbüßung von 2/3 der ersten Strafe und die anschließende Vollstreckung der nächsten Strafe zwingend vor. Auch die Möglichkeit der Zurückstellung einer Strafe gem. § 35 BtMG hat darauf keinen Einfluss (OLG München NStZ 2000, 223; OLG Schleswig SchlHA 2002, 173 [D/D]; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., § 454 b Rn. 2).

III.

Allerdings sieht sich der Senat zu dem Hinweis veranlasst, dass es dem Verurteilten trotz der Unterbrechung der Vollstreckung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts unbenommen ist, die Zurückstellung der Strafvollstreckung in Bezug auf das Urteil des Amtsgerichts zu beantragen. Der noch zu verbüßende Strafrest von 1/3 aus dem Urteil des Amtsgerichts steht - bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 35 BtMG - einer Zurückstellung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts nicht entgegen.

Dies ergibt sich aus folgendem:

§ 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG verpflichtet die Strafvollstreckungsbehörde zum Widerruf der Zurückstellung der Strafvollstreckung, wenn gegen den Verurteilten eine weitere Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist. Nach allgemeiner Meinung folgt aus dieser Vorschrift, dass eine zu vollstreckende Strafe, die schon im Zeitpunkt der Entscheidung über die Zurückstellung vorliegt, der Zurückstellung entgegensteht (s. Körner, BtmG, 6. Aufl., Rn. 116 m.w.N.). Fraglich ist, ob und wie in derartigen Konstellationen die Zurückstellung zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist.

1. Rechtsprechung und Literatur beurteilen dies unterschiedlich:

(1) Eine Auffassung leitet aus § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG einen Vorrang des § 454 b StPO ab. Demzufolge müssen alle Strafen, auch die zurückstellungsfähige, im Hinblick auf § 454 b Abs. 3 StPO zur Hälfte bzw. zu 2/3 vollstreckt werden. Erst dann könne eine Entscheidung über die Aussetzung des Restes der nicht zurückstellungsfähigen Strafe zur Bewährung getroffen werden. Die Aussetzung der Vollstreckung dieser Reststrafe zur Bewährung sei wiederum Bedingung für die Zurückstellung der anderen Strafe gem. § 35 BtMG (so in der Konsequenz entgegen dem missverständlichen Leitsatz Nr. 2 OLG München NStZ 2000, 223; ihm folgend OLG Schleswig SchlHA 2002, 173 [D/D]; s.a. Katholnigg NJW 1987, 1456, 1460).

(2) Eine zweite Meinung hält es für zulässig, unter Umkehrung der Vollstreckungsreihenfolge gem. § 43 Abs. 4 StrVollstrO die nicht zurückstellungsfähige Strafe vollständig vorab zu vollstrecken, um dann unabhängig von § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG über die Zurückstellung der verbleibenden Strafe entscheiden zu können (OLG Karlsruhe Justiz 1985, 171; StV 2003, 287; Körner a.a.O., Rn. 270f.).

(3) Schließlich wird vertreten, es genüge, ggf. nach Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge zunächst die nicht zurückstellungsfähige Strafe zu 2/3 zu vollstrecken. Dann könne deren Vollstreckung im Gnadenweg oder in analoger Anwendung von § 454 b Abs. 2 StPO unterbrochen werden und die Zurückstellung der anderen Strafe erfolgen (Hügel/Junge/Lander/Winkler, Deutsches Betäubungsmittelrecht, 8. Aufl., § 35 Rn. 7.4.3.; Joachimski, BtMG, 7. Aufl., § 35, Rn. 2; Schöfberger NStZ 2005, 441). Ziel dieser Vorgehensweise ist die einheitliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung für alle Strafen, also die zurückgestellte und die nicht zurückstellungsfähige.

2. Die letztgenannte Auffassung verdient den Vorzug, wobei allerdings § 454 b StPO unmittelbar anwendbar ist.

a) Der vorstehend (1) genannten Lösung liegt zugrunde, dass der Rest der nicht zurückstellungsfähigen Strafe auch nach Unterbrechung der Vollstreckung weiterhin als gemäß § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG zu vollstreckende Strafe die Zurückstellung der anderen Strafe verbietet. Dies erklärt das Postulat, die Vollstreckung des nicht zurückstellungsfähigen Strafrestes vor der Zurückstellung zur Bewährung aussetzen zu müssen. Das Ergebnis dieser Ansicht, dass selbst die zurückstellungsfähige Strafe zu 2/3 vollstreckt werden muss, bevor der Verurteilte behandelt werden kann, ist von dem Zweck des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG nicht gedeckt. Diese Norm soll verhindern, dass eine Therapie bis zu ihrem regulären Abschluss durchgeführt, ein etwaiger Erfolg der Behandlung dann aber durch die anschließende Vollstreckung der weiteren Sanktion wieder gefährdet wird (s. MünchKommStGB-Kornprobst, § 35 BtMG Rn. 215). Eine Rückwirkung der Norm in Bezug auf die Vollstreckung der zurückstellungsfähigen Strafe selbst lässt sich damit aber ebenso wenig vereinbaren wie der Effekt, dass die Verbüßung des größeren Teils der Strafe die Motivation des Verurteilten zu einer Therapie zumindest erheblich dämpft.

b) Der oben (2) dargelegte Ansatz, der gleichfalls von der zurückstellungsschädlichen Wirkung einer unterbrochenen Strafe ausgeht, wird dem Verhältnis von § 43 Abs. 4 StrVollstrO zu § 454 b Abs. 2 StPO nicht gerecht. Das gesetzliche Gebot des § 454 b Abs. 2 StPO, im Fall der Vollstreckung mehrerer Strafen diese jeweils nach 2/3 zugunsten der in der Vollstreckungsreihenfolge nächsten Strafe zu unterbrechen, geht der Verwaltungsvorschrift des § 43 StrVollstrO vor. Die vollständige Vorabvollstreckung einer Strafe würde gegen § 454 b Abs. 2 StPO verstoßen (vgl. KG a.a.O.; Hügel/Junge/Lander/Winkler, a.a.O.; s.a. oben II 2.)

c) Im Ergebnis ist der unter oben (3) genannten Auffassung der Vorzug zu geben. Die bei der Entscheidung über die Zurückstellung noch nicht entschiedene Frage, ob die Vollstreckung des Restes der nicht zurückstellungsfähigen Strafe zur Bewährung auszusetzen ist, steht einer Zurückstellung gem. § 35 BtMG nicht entgegen (vgl. OLG Hamm StV 2006, 587 für den Fall der angefochtenen Verurteilung zu einer unbedingten Haftstrafe in der anderen Sache; OLG Karlsruhe NStZ 1982, 484 für den Fall der in der anderen Sache noch nicht entschiedenen Zurückstellung; OLG Koblenz, Beschluss vom 20.12.1990 - 2 VAs 21/90 - für den Fall der noch nicht entschiedenen Reststrafenaussetzung gem. § 57 StGB in der anderen Sache [zitiert nach Körner a.a.O., Rn. 269]; s.a. Joachimski, a.a.O.; Körner, a.a.O. Rn. 116f.; Weber, BtMG, 2. Aufl., § 35, Rn. 16; MünchKomm-Kornprobst, a.a.O.). Die Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung gemäß § 454 b Abs. 2 StPO unterbrochen wurde, ist keine zu vollstreckende Freiheitsstrafe im Sinne des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG und damit kein Hindernis für die Zurückstellung einer zweiten Strafe. Denn ihre aktuelle Vollstreckung endet mit der Unterbrechung und ihre weitere Vollstreckung in Zukunft ist ungewiss. Über sie wird gemäß § 454 b Abs. 3 StPO erst später zu dem gemeinsamen 2/3-Zeitpunkt entschieden. Diese am Wortlaut der Normen orientierte Auslegung deckt sich mit dem Zweck des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG (s.o. a). Denn die Gefahr, dass der Erfolg einer ordnungsgemäß absolvierten Therapie durch einen nachfolgenden Strafvollzug zunichte gemacht wird, besteht bei dieser Vorgehensweise nicht, da nach durchlaufener Therapie in aller Regel auch eine positive Sozialprognose bezüglich der unterbrochenen Reststrafe vorliegen wird.

Es bedarf, entgegen der Ansicht (3), die die rechtliche Grundlage für eine Unterbrechung der nicht zurückstellungsfähigen Strafen nach Verbüßung von 2/3 in Frage stellt, keiner analogen Anwendung des § 454 b Abs. 2 StPO (Schöfberger a.a.O.) oder eines Gnadenerweises (Hügel/Junge/Lander/Winkler a.a.O.), um das von § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG normierte Ziel, einer möglichst erfolgreichen Therapie zu erreichen. Denn die zurückgestellte Strafe wird nach dem 2/3- Zeitpunkt der ersten Strafe bis zur tatsächlichen Entlassung des Verurteilten vollstreckt, sei es auch nur für kurze Zeit. Überdies kann die zurückgestellte Strafe jederzeit aufgrund eines Widerrufes der Zurückstellung weiter vollstreckt werden, so dass es schon deswegen der 2/3-Unterbrechung, unabhängig von derartigen Erwägungen zum gesetzlich vorgesehenen Zeitpunkt bedarf.

Allerdings hat diese Verfahrensweise eine mögliche Aufsplittung der gerichtlichen Zuständigkeiten für die Entscheidung über die Reststrafenaussetzung zur Bewährung zur Folge. Während für die Entscheidung über die Aussetzung der nicht zurückgestellten Strafe zur Bewährung die Strafvollstreckungskammer oder das erstinstanzliche Gericht zuständig ist (§ 462 a Abs. 1, 2 StPO), entscheidet über die Anrechnung der Therapiezeit und die Strafrestaussetzung der zurückgestellten Strafe das Gericht des ersten Rechtszugs in diesem Verfahren (§ 36 Abs. 5 BtMG). Da der Erfolg oder Misserfolg der Therapie im Regelfall beide Entscheidungen maßgeblich beeinflussen wird, besteht jedoch lediglich eine geringe und hinnehmbare Gefahr, dass sie gegenläufig ausfallen könnten.

3.

Es wird daher für die Entscheidung über eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge maßgeblich darauf ankommen, ob die Voraussetzungen des § 35 BtMG in Bezug auf die von dem Amtsgericht verhängte Strafe erfüllt sind. Da sich das Urteil des Amtsgerichts nicht abschließend zu der Kausalität der Drogenabhängigkeit des Verurteilten für die Tat äußert, ist darauf hinzuweisen, dass für die diesbezügliche Entscheidung auch der weitere Akteninhalt herangezogen werden kann (s. Körner, a.a.O. Rn. 87 m.w.N.).

Ende der Entscheidung

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